Leer ist die Seite. Keinen einzigen Eintrag verzeichnet die Tabelle der Einladungen zum Theatertreffen, dieser Leistungsschau der deutschsprachigen darstellenden Künste: In den Jahren 1964 bis 1979 verantwortete keine Frau eine der zehn bemerkenswerten Inszenierungen, die von einer Kritiker-Jury ausgewählt und alljährlich im Mai in Berlin gezeigt werden. In ihrem Buch „Status Quote“ schauen die drei Kritiker-Jurorinnen Sabine Leucht, Petra Paterno und Katrin Ullmann zurück auf 60 Jahre Theatertreffen, aus der Perspektive, die 2020 zum offiziellen Instrument wurde: Ihr Blick gilt der Quote der eingeladenen Regie-Frauen und weiblichen Kollektive.
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Marginal war der Frauenanteil die längste Zeit. Erst 1980 tauchen die ersten weiblichen Namen auf: Pina Bausch, die damals schon weltbekannte Wuppertaler Choreographin, und Ellen Hammer, Dramaturgin an der Schaubühne. Der Tanz blieb dann erst einmal das Feld, auf dem Frauen beim Theatertreffen wahrgenommen wurden. Pina Bausch erhielt drei Einladungen, wie auch die Choreographin Reinhild Hoffmann. 1985 kam mit Andrea Breth die erste genuine Sprechtheater-Regisseurin ins Spiel – mehr als 20 Jahre nach der Gründung des Theatertreffens als Schaufenster bemerkenswerter Schauspielkunst.
Um 1990 gab es mit der Wende einen kleinen Aufschwung, mit Theatermacherinnen aus dem Osten: Katharina Thalbach und Ruth Berghaus, Konstanze Lauterbach und Irmgard Lange. „Offenbar waren die Bühnen der DDR nicht ganz so patriarchal organisiert wie in Westdeutschland“, schreibt Eva Behrendt, selbst mehrfach Theatertreffen-Jurorin, in ihrem Überblickstext. Halten konnten sich die Ost-Regisseurinnen allerdings nicht bei der traditionsreichen West-Veranstaltung. Und in den 90er- und 2000er-Jahren blieb es bei einer, maximal zwei Inszenierungen von Regisseurinnen beim Theatertreffen. Woran lag das?
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Ausbildungen und Studiengänge für Regie gab es erst ab den 80er-Jahren, zuvor herrschte das Meister-Schüler-Verhältnis, man assistierte, möglichst bei einem bekannten Regisseur. Eindrücklich berichtet Karin Henkel von ihrer Zeit bei Claus Peymann am Burgtheater. Oft habe sie sich übergeben müssen – „weil mir von dem Druck und dem Ton, der ja nicht nur mir gegenüber herrschte, übel geworden ist“, erzählt sie im Gespräch. „Dass ich als Frau mehr powern muss und der Weg holpriger ist, war für mich selbstverständlich. So wurde ich sozialisiert.“ Im Rückblick sind ihr die Härten und Ungerechtigkeiten bewusst: „Manchmal schäme ich mich heute dafür, wie viel ich damals einfach akzeptiert habe.“ Jüngere Regisseurinnen ließen sich nicht mehr so viel gefallen.
Hohe Selbstreflexion zeichnet alle Regisseurinnen aus, die die Autorinnen für den Sammelband „Status Quote“ gesprochen haben. Alle 19 waren sie nach der Quotenentscheidung zum Theatertreffen eingeladen, teils auch schon zuvor. Völlig einverstanden sind viele von ihnen nicht mit der Quotierung für eine künstlerische Auszeichnung. „Die ist hier ja bloß auf dem Rockticket reingeritten“, bringt Lisa Lucassen vom Berliner Kollektiv She She Pop ein gängiges Vorurteil auf den Punkt. Als „Almosen“ habe sie die Quote gesehen, als Beleidigung der Künstlerinnen, gibt Claudia Bauer ihren ersten Gedanken zu Protokoll. Und Karin Beier, Intendantin am Schauspielhaus Hamburg, hält das Geschlecht nicht für ein Kriterium nach dem man urteilen sollte.
„Zuerst passiert das Gegenteil von Empowerment“, sagt auch Anta Helena Recke, die sich mit Quoten-Diskussionen vertraut zeigt. Dass die Quote letztlich aber ein Instrument ist, das in den Theatern etwas bewirkt hat, sagt nicht nur sie: „Reine Männerproduktionen werden heute sofort hinterfragt“, so Recke.
Mehr Frauen als zuvor arbeiten auf der Großen Bühne, auch wenn das Verhältnis noch immer bei nur etwas mehr als einem Drittel liegt. Doch wer die Regisseurin dort präsentiert, wo die Jury sie sehen kann, erhöht die Chancen auf eine Theatertreffen-Einladung – und die ist immer noch eine Währung im Betrieb.
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Verändert hat sich also etwas durch die Quote, aber es geht langsam voran. Die Choreographin Florentina Holzinger, die an der Volksbühne mit „Ophelia’s Got Talent“ für ausverkaufte Vorstellungen sorgt, erzählt von dem „Schock“ bei ihrem Wechsel ins Theater, weil „im Unterschied zur zeitgenössischen Tanzszene so viele Häuser noch sehr männlich dominiert sind“.
Schonungslos spricht auch Claudia Bauer. Ob sie Diskriminierung erlebt habe? „Natürlich, wie denn auch nicht?“ Bitter ist ihre Antwort, aber realistisch: Ein Klima des Angstmachens ergab auch eine Umfrage unter Theatermitarbeitenden im Jahr 2019. Schwer zu sanktionieren sind viele der berichteten Übergriffe, etwa die Drohung, den Vertrag nicht zu verlängern, wenn man als Mutter nach einem früheren Probenschluss fragt oder sich als Ensemblesprecher engagiert.
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„Ich glaube, dass diese Arroganz, diese Profilneurose, bald nicht mehr als Qualifikation für eine Theaterleitung gelten“, ist Anne Lenk sicher. Ihre Inszenierungen „Der Menschenfeind“ und „Maria Stuart“ vom Deutschen Theater wurden mit Theatertreffen-Einladungen gewürdigt, aber als Quotenfrau sieht sich die künstlerisch selbstbewusste Regisseurin nicht. Möglicherweise hatte sie es schon leichter als Claudia Bauer: „Während ich noch mühevoll das Matterhorn hochklettern musste, gondeln andere inzwischen mit der Seilbahn hoch“, gesteht diese einen gewissen Neid auf die Jüngeren. Auch das kündet von einer erfolgreichen Gleichstellungs-Maßnahme: weil der Weg zum Ziel leichter wird.
In den Jahren seit Einführung der Quote finden sich jedenfalls immer wieder neue Namen. Und auch in diesem Jahr erweist sich mit den Inszenierungen von Lucia Bihler, Felicitas Brucker, Mateja Koležnik und Rieke Süßkow, dass ein Bedenken gänzlich unbegründet war: die Qualität ist hoch, genauso hoch wie immer.