Friedhofsbahn

Lost Places: Wohin mit den Toten? Berlin mit morbider Lösung

| Lesedauer: 10 Minuten
Ulli Kulke
Eine Grabstelle mit Statue auf dem Südwestkirchhof in Stahnsdorf. Hierhin wurden um die Jahrhundertwende Leichen per S-Bahn aus Berlin transportiert.

Eine Grabstelle mit Statue auf dem Südwestkirchhof in Stahnsdorf. Hierhin wurden um die Jahrhundertwende Leichen per S-Bahn aus Berlin transportiert.

Foto: picture alliance/dpa | Soeren Stache

Um 1900 platzten Berlins Friedhöfe aus allen Nähten. Was tun mit den Leichen? Die Stadt schickte ihre Toten auf Reisen – per S-Bahn.

  • Um 1900 gab es in eine Berlin eine regelrechte Bevölkerungsexplosion
  • Die Friedhöfe waren hoffnungslos überfüllt, die Leichen wurden per S-Bahn aus der Stadt transportiert
  • Ein Streifzug zur "Friedhofsbahn" im Berliner Südwesten, deren Reste noch heute Lost-Place-Abenteurer in ihren Bann schlagen

Berlin. Es war etwa 20 Minuten vor zwei Uhr früh, in einer sternenklaren Nacht vom 12. auf den 13. August 1961. Auf dem leeren S-Bahnhof Stahnsdorf, gleich am Eingang zum großen Friedhof, hatte die Zugabfertigerin gerade eine Bahn auf die Reise geschickt. Kein Mensch war zugestiegen. Zwei Minuten später hörte sie noch, weit entfernt durch die Stille der Nacht, wie der Triebwagen vom Bahnhof Dreilinden mit seinem so eingehenden Geräusch weiter nach Wannsee startete, zur Endstation drüben in West-Berlin. Eine halbe Stunde später sollte der Zug wieder zurückkommen. Doch er kam nicht. Stattdessen standen plötzlich zwei Angehörige der Transportpolizei hinter ihr. Sie solle nach Hause gehen, sagten sie. Und nicht mehr wiederkommen. Ihre Arbeit hier sei beendet.

  Friedhofsbahn
Strecke Wannsee
Dreilinden
Stahnsdorf
Länge 4,2 Kilometer
Eröffnung 1913
Einstellung 1961

Lost Places in Berlin: Gras wächst über die Strecke von Stahnsdorf nach Wannsee

Seit jener Nacht vor gut 62 Jahren, als West-Berlin von den Ost-Berliner Bautrupps eingemauert wurde, wächst Gras über diese S-Bahn-Strecke von Stahnsdorf nach Wannsee. Wald und Heide haben die ehemalige Trasse im Südwesten Berlins fast ganz zurückerobert. Sie ist die kürzeste aller stillgelegten rund um Berlin, aber auch die bekannteste, die am leidenschaftlichsten nachgewanderte.

Weil man so schöne Geschichten über sie erzählt, die Spaziergänger archäologische Untersuchungen anstellen und der Frage nachgehen können, wie das hier früher so alles gewesen sein soll. Vor allem aber: Welche andere Nahverkehrsstrecke in Berlin wurde eigens errichtet, um Leichen zu transportieren? Dazu gleich mehr.

Lost Place „Raststätte Dreilinden“: Berlins vergessene Autobahn
Lost Place „Raststätte Dreilinden“: Berlins vergessene Autobahn

Berliner S-Bahn: Der Zug der Toten – zwei Stunden Wanderung entlang der alten Trasse

Von Wannsee nach Stahnsdorf, mit einem jetzt notwendigen kleinen Umweg und Zeit für Beobachtungen, sind es ein, zwei gemütliche Stündchen zu Fuß entlang der alten Trasse. Hier entdecken wir noch ein Fundament für irgendeinen Signalmast oder doch für einen Weichenhebel Da ein paar Gleisschottersteine unter dem Moos, dann sogar 60, 80 Meter lang locker liegende, einzelne Gleise. Böschungen, gerade Trassen, Kurven, die Topographie lockt die Phantasie.

Es ist ruhig, laubgedämpfter Grund, viele Kiefern, in denen sowieso kaum ein Vogel zwitschert. Doch wer sich hier etwas kundig auf den Weg begibt, den hat es womöglich deshalb hergelockt, weil es andererseits kaum eine bewegtere Gegend am Rand von Berlin gibt, dort, wo es seit ewigen Zeiten hinausgeht aus der Stadt, wie durch einen Trichter, nach Südwesten. Was Spuren hinterlassen hat.

Die Stammbahn war die erste Eisenbahnlinie Preußens

Hier hat der Waldboden die erste Eisenbahnlinie Preußens geschluckt, die ab 1838 von Berlin nach Potsdam führte. Die Brückenfundamente der „Stammbahn“ lassen sich noch ahnen, vorne über den verschobenen Gleisresten. Nur ein paar Meter weiter kreuzen wir auch den alten „Königsweg“, auf dem die Hohenzollern samt Tross seit Jahrhunderten zwischen ihren Liegenschaften in Berlin und Potsdam verkehrten. Nebenan lief auch die erste Transitautobahn nach Marienborn sowie zum Übergang Töpen/Juchhöh in Richtung München, hier alle paar Hundert Meter das „Staatsgebiet“ wechselnd von Ost nach West und West nach Ost. Bis es dem Osten zu bunt wurde und er 1969 die Autobahn samt Übergang weiter nach Süden verlegte, geradliniger.

Wir müssen heute auf unserem Spaziergang entlang der alten Bahnlinie Stahnsdorf-Wannsee sogar mal auf diese stillgelegte Autobahn ausweichen, um über den Teltowkanal zu gelangen. Weil die alte S-Bahnbrücke kurz nach dem 13. August 1961 abgerissen wurde. Es durfte dann ja sowieso keiner mehr drüberfahren.

Wo die Lkw-Fahrer einst vor der Fahrt durch die Zone eine Bockwurst bestellten

Auf der alten Autobahn-Brücke aber, mit ihren Vorkriegs-Betonplatten, sehen wir noch ein altes Baudenkmal: Die windschiefe, überwucherte Holzbaracke des einstigen Grenzübergangs und Rasthauses, mit einem Schriftzug aus der Zeit, als hier alles noch „Dreilinden“ hieß. Als die Opel Kapitäns, Isettas, Borgward Isabellas und Krupp-Lkw davor hielten und die Kraftfahrer eine Bockwurst oder einen Strammen Max bestellten, um auf dem Weg durch die Zone nicht zu verhungern.

Die Schranke steht seit über einem halben Jahrhundert hoch geöffnet, doch es fährt niemand. Auch zu Mauerzeiten, auch nach 1969, konnte man diesen denkwürdigen Ort besuchen, durch einen schmalen, fast einen Kilometer in die DDR hineinragenden Geländeschnabel West-Berlins, „Albrechts Teerofen“, an einem einsamen Bogenschießplatz vorbei.

Der Teltowkanal war die meisten Mauerjahre gesperrt

Die Grenze, über Kreuz oder parallel zur alten S-Bahn von Wannsee nach Stahnsdorf war hier mäandernd, verwirrend, teilweise in Bewegung, entsprechend fließend waren die Verkehrslinien. Eines der markantesten Beispiele: Steinstücken gleich nebenan, jene West-Berliner Exklave, die bis 1972 auch nur im Transit erreichbar war, im Kleinen, von Kohlhasenbrück aus, wie das Große West-Berlin von Helmstedt aus, bevor sie nach den deutsch-deutschen Verträgen durch einen engen Korridor zwischen vier Meter hohen Mauern angebunden wurde. Obendrein war sie mittendurch zerschnitten von der großen Transitbahn nach West-Deutschland, wo zunächst die Dampflokomotiven, später die „Taigatrommeln“ der Reichsbahn die D-Züge mit Mitropa-Service nach Westen schleppten, auch die Militärzüge der Alliierten.

Mitten durch die heute melancholische, ausgestorbene, verkehrshistorisch aber so lebhafte Gegend verläuft auch noch der breite Teltowkanal, seit 120 Jahren die wichtigste Ost-West-Ader der Berliner Frachtschifffahrt. Die meisten Mauerjahre war er gesperrt, tauchte immer wieder in den Zeitungen auf, weil Senat und Bonn von der DDR-Regierung beharrlich seine Öffnung verlangten, und 1981 damit Erfolg hatten. Immer wieder versuchten republikmüde DDR-Bürger, die chaotischen Grenz- und Verkehrsverhältnisse zwischen Teltow, Potsdam und West-Berlin zur Flucht zu nutzen, sprangen in den Kanal, klemmten sich an Züge. Manche kamen dabei um.

Stahnsdorf und Wannsee waren "jottwede", als 1913 die erste Bahn fuhr

Stahnsdorf, auch Wannsee, lagen noch viele Kilometer vor den Grenzen der Stadt, „Jottwede“, als 1913 die erste Bahn zwischen den beiden Orten fuhr. Sie war von Anfang an eine besondere Verbindung, wegen eines Umstandes, der auch heute noch die morbide Attraktivität dieses „toten Gleises“ ausmacht. Sie war als Bahn für Leichen konzipiert, heißt deshalb bis heute „Friedhofsbahn“.

friedhofsbahn

Das um die Jahrhundertwende der Kaiserzeit so stark wachsende Berlin hatte ein besonderes Problem: Wohin mit den Verstorbenen? Alle Friedhöfe waren voll, kein Platz mehr. Neue Grundstücke mussten her, und die gab es nur weit draußen. So erwarb die Berliner Stadtsynode weite Liegenschaften, eben auch in Stahnsdorf für ihren neuen Südwestkirchhof.

Aber wie sollten die Leichen hinkommen? Die Strecke bis Wannsee stand ja schon. Für den Abzweig von dort nach Stahnsdorf einigte man sich mit der preußischen Staatsbahn. Die besorgte die Ländereien, die Synode sorgte für den Bau und die Unterhaltung der Bahn. Natürlich, das war auch Teil des Vertrags, durften auch lebende Fahrgäste mitreisen. Auf halber Strecke, in Dreilinden, einem Weiler, wurde ein weiterer Bahnhof errichtet, auch wenn dort kaum jemand zu- oder aussteigen würde. Für die Aufgabe der Leichen entstand auf dem Ringbahnhof Halensee eine eigene Station.

Lost Places in Berlin: Der Stahnsdorfer Friedhof ist für Wanderer eine Attraktion

Zwei Jahre brauchte man damals für den Bau. Nach der Eröffnungsfahrt am 2. Juni 1913 rankte sich die öffentliche Aufmerksamkeit für die Friedhofsbahn immer wieder um zwei Themen: Die ganz spezielle Fracht, die Toten, sowie um die Debatte, warum die – nahe liegende – Weiterführung der Bahn über Teltow nach Lichterfelde Ost ausblieb. Letztlich fehlte es an der ausreichenden Zahl lebendiger Fahrgäste. Im Krieg wurde die Bahn unterbrochen, als die Brücke über den Kanal in die Luft flog. Man baute sie wieder auf, und bis zum Mauerbau durften auch West-Berliner weiter in Stahnsdorf bestattet werden. Doch danach war Schluss. Die Brücke wurde erneut abgerissen. Die Diskussionen über die Wiederinbetriebnahme der Bahnlinie samt Weiterführung nach Teltow kommen immer wieder hoch, bislang aber wenig aussichtsreich.

Bleibt noch der Hinweis für Spaziergänger auf der Trasse der alten Friedhofsbahn (für die auch einige kundig begleitete Touren angeboten werden): An der Endstation geht es noch weiter, ja, für manche erst richtig los. Der Stahnsdorfer Friedhof, nur über die Straße, ist nicht allein landschaftlich attraktiv, er zählt auch hinsichtlich der Persönlichkeiten, die dort bestattet wurden, und ihrer ansehnlichen Gräber zu den außergewöhnlichsten, sehenswertesten von Berlin und seinem Umland.

Lost Places in Pankow
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