Berlin. John Hejduks Kreuzberg Tower am Besselpark, 1987 zur Internationalen Bauausstellung errichtet, gehört zu den Gebäuden, für die man Berlin lieben muss. Es ist eine dreiflüglige Anlage, in deren Mitte ein schlanker, 14-geschossiger Atelierturm emporragt, links und rechts flankiert von zwei kleineren Bauten mit je fünf Etagen. Alle tragen sie vorgelagerte, grüne Blechdächer an ihrer Fassade, die auf diese Weise geometrisch strukturiert wird und an einem sonnigen Tag wie heute vielfältige Schattenspiele zeigt. Es ist mutige Architektur mit Persönlichkeit, die sich Anna Gritz als Startpunkt für unseren Spaziergang ausgesucht hat – und mit der sie außerdem Erinnerungen verbindet. Doch darüber wollen wir später sprechen. Lesen Sie auch: Margaret Raspé – Wenn der Abwasch zur Kunst wird
Nach freundlicher Begrüßung und dem Foto klingeln wir zuerst einmal ganz mutig am Hochhaus. Wie es von innen wohl aussieht, vielleicht können wir ja nach oben fahren? Ein paar Sekunden verstreichen, dann drückt tatsächlich jemand auf den Türöffner, und wir fahren mit dem Fahrstuhl ins Dachgeschoss. Da ist ein kleiner Balkon, die Tür lässt sich öffnen. Und plötzlich diese Übersicht: Vor uns liegen das Tempodrom, der Gendarmenmarkt, der Gropius Bau und das Abgeordnetenhaus, der Potsdamer Platz. Sie sei seit 2016 in Berlin, erzählt Anna Gritz. Nach zehn Jahren im Ausland habe sie sich an die Stadt erst gewöhnen müssen, es sei keine Liebe auf den ersten Blick gewesen. Und dann sagt sie einen schönen Satz: „Aber manchmal, wenn man sich ein bisschen reiben muss, entstehen eben auch ganz andere, tiefere Beziehungen.“
Kreuzberg-Tower: Das Gebäude erwidert die Blicke seines Publikums
Darum wird es bei diesem Spaziergang unter anderem gehen: um das Widerspenstige, Andersartige und Eigenwillige, das man in der Kunst finden und schätzen lernen kann. Oder eben auch in der Architektur. Als wir wieder unten sind und an der Wiese des Besselparks entlangspazieren, drehen wir uns noch einmal zu Hejduks Bauten um, die uns durch die halb geschlossenen Lider ihrer Blechdächer anzuschauen scheinen – in sich ruhend, aber doch hellwach. Die beiden kleineren Häuser haben Doppeldächer, die an die Stehohren mancher Tiere erinnern. Von einem „Eulenhaus“ habe die Künstlerin Judith Hopf gesprochen, durch die sie auf den Kreuzberg-Tower aufmerksam gemacht worden sei, erzählt Anna Gritz. Judith Hopf interessiert sich unter anderem für die Frage, wie sich unser urbanes Umfeld in unser Leben einschreibt, auf Hejduks Gebäude reagierte sie unter anderem mit einer Installation am KW Institute for Contemporary Art, wo Anna Gritz auch eine Ausstellung mit ihr realisierte. Aber wir greifen schon wieder vor. Lesen Sie auch: Denkmalschutz für die IBA-Bauten aus den 1980er-Jahren
Es ist ein spannendes Gebiet, durch das wir nun laufen, nicht nur wegen John Hejduk. Im sogenannten Demonstrationsgebiet SO 36 entstanden hier zur Internationalen Bauausstellung 1987 zahlreiche neue Gebäude und Parkanlagen, die aber heute weniger Beachtung erfahren als etwa das architekturhistorisch ikonisch gewordene Hansaviertel, das ebenfalls zu einer Internationalen Bauausstellung entstand – aber 30 Jahre vorher, nämlich zur Interbau 1957. „Die Häuser hier werden gern einfach hingenommen, obwohl sie teilweise nicht minder avantgardistisch sind“, sagt Anna Gritz. Das gehört zu ihrem Berufsbild als Kuratorin und Museumsdirektorin: das Übersehene ins Blickfeld zu rücken.
Wir laufen am Anoha vorbei, der Kinderwelt des Jüdischen Museums, und Anna Gritz erzählt, sie sei dort einmal mit ihrer Tochter gewesen, die es großartig gefunden habe. Sie hat inzwischen zwei Kinder, ihr Sohn ist vor einem halben Jahr zur Welt gekommen. Von ihm kommen wir auf den Lebensweg von Anna Gritz zu sprechen. Sie kam in Düsseldorf zur Welt und studierte in Köln Kunstgeschichte – mit Begeisterung, aber auch mit Skepsis gegenüber der Idee, für eine Promotion noch weitere Jahre an der Universität zu verbringen. „Mir fehlte der direkte Kontakt zur Kunst“, erzählt sie. „In der Kunstgeschichte wird naturgemäß alles vorwiegend historisch betrachtet. Selbst die Ausstellungen der Künstlerinnen und Künstler nebenan fühlten sich weit entfernt an.“ Lesen Sie auch: Krist Gruijthuijsen – immer von Kunst umgeben
Sie bekam einen Studienplatz für Kuratorinnen und Kuratoren im weit entfernten San Francisco, am California College of the Arts, was sich als genau richtig herausstellte. Beim Entstehen der Kunst dabei zu sein, mit den Künstlern und Künstlerinnen ins Gespräch zu kommen, ihre Perspektiven kennenzulernen und die Kunst auf diese Weise genauer zu sehen und zu verstehen: Das war in San Francisco möglich, etwa im Atelier von Trisha Donnelly, und es ist bis heute zentral für Anna Gritz geblieben.
Wir haben die Lindenstraße überquert und laufen auf der Alten Jakobstraße in Richtung Berlinische Galerie, in Gedanken noch in den USA. Es habe ihr sehr gut getan, aus dem akademischen Elfenbeinturm herauszukommen, sagt sie. Sie mochte auch die Handfestigkeit der Amerikaner, mit der man zum Beispiel Lagerhallen einfach kurzfristig anmietete und als Galerie eröffnete.
Auch ihre nächste Station in New York ist so ein Beispiel dafür, wie man auf unkonventionellen Wegen Räume für die Kunst öffnen kann. Apexart ist ein gemeinnütziger Projektraum an der Church Street in Lower Manhattan – dorthin werden Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt eingeladen, die noch nie in der Stadt ausgestellt haben: „Die verbrachten einen Monat in New York, und ich habe denen dann ein Programm zusammengestellt, das sie ein bisschen aus der Kunstszene herausholen sollte. Es ging nicht um Produktion, sondern darum, sie aufzuladen und mit neuen Impressionen in ihr Heimatland zurückkehren zu lassen“, erzählt Anna Gritz. Dafür suchte sie mit Vorliebe Orte jenseits der ausgetretenen touristischen Pfade heraus, besondere Nischen in der Stadt. Lesen Sie auch: Mit Dagmar Hirschfelder im Universum der Bilder
Ihr Aufenthaltsvisum für die USA war an den Arbeitsvertrag gebunden, und außerdem wollte Anna Gritz weitere Erfahrungen sammeln – also ging es zwei Jahre später zurück nach Europa, nach Großbritannien. Zunächst für eine Schwangerschaftsvertretung an die Hayward Gallery: „Das war ganz neu für mich, in so einem Riesenapparat zu arbeiten und plötzlich große Ausstellungen machen zu können“. Es gab auch viel Gelegenheit, von anderen zu lernen: Anna Gritz arbeitete in dem markanten Sichtbetongebäude im Southbank Centre unter anderem mit Stefanie Rosenthal zusammen, die später Direktorin am Berliner Gropius Bau wurde und inzwischen Leiterin des Guggenheim Abu Dhabi ist.
Wir spazieren weiter durchs Quartier, eine Taube kreuzt in Zeitlupe unseren Weg. Meine Gesprächspartnerin unterbricht sich immer wieder, wenn ihr etwas auf- oder einfällt: Hier um die Ecke wohne übrigens auch Judith Hopf, außerdem seien an der Markgrafenstraße die Galerieräume von carlier | gebauer und Barbara Thumm, wo sie auch sehr gern zu Gast sei. Naheliegend, jetzt gleich auf Berlin zu sprechen zu kommen, aber wir waren ja mit London noch nicht fertig.
Anna Gritz bekam eine Stelle als assoziierte Kuratorin am renommierten Institute for Contemporary Arts, wo sie unter anderem eine Ausstellung mit der experimentellen Filmemacherin Lis Rhodes umsetzte. Dem Film und der Performance konnte sie danach an der South London Gallery treu bleiben, wo sie aber zugleich Anschluss an die Fragen fand, die sie ohnehin umtreiben, auch heute als Direktorin im Haus am Waldsee: „Es ging darum, in der Stadt neue Räume für die Kunst zu erschließen. Oder neue Fragen zu stellen, zum Beispiel, ob eine Performance immer zu festgelegten Abendstunden stattfinden muss, ob sie nicht auch über Wochen laufen kann. Ich habe da sehr viele Freiheiten gehabt. Es war toll, dass ich mit Formaten und Standards spielen und sie auch in Frage stellen konnte.“
Eine sowohl globale als auch ganz lokale Kunstgeschichte
Aber Deutschland rief sie zurück. Anna Gritz führte schon seit vielen Jahren eine Fernbeziehung, und so kam sie auch wegen der Liebe nach Berlin. Zeitgleich mit dem neuen Direktor Krist Gruijthuijsen fing sie 2016 als Kuratorin am KW Institute of Contemporary Art an den Kunst-Werken an – just in dem Jahr, als die 1991 von einem Kreis um Klaus Biesenbach gegründete Institution an der Auguststraße in Mitte ihr 25. Jubiläum feierte. Sie denkt sehr gern an ihre Zeit dort zurück und geht auch gern dorthin, wenn dort neue Ausstellungen eröffnet werden, erst kürzlich war sie bei der Eröffnung der Schauen von Martin Wong, Karen Lamassone und Win McCarthy dabei – letzte hätte sie selbst auch noch kuratiert, wenn es nicht anders gekommen wäre.
Denn Anna Gritz bewarb sich um die Stelle als Direktorin im Zehlendorfer Haus am Waldsee. Momentan ist dort ihre zweite Ausstellung zu sehen: Filme, Bilder und Installationen der Berliner Künstlerin Margaret Raspé, die in diesem Jahr 90 Jahre alt wird und nur einen Steinwurf vom Haus am Waldsee entfernt am Rhumeweg lebt. Anna Gritz war ein paar Jahre zuvor anlässlich einer Ausstellung am KW Institute auf sie gekommen und hatte das getan, was sie am liebsten tut: „Ich bin zu ihr gefahren, um sie kennenzulernen. Ich fand ihre Art zu denken faszinierend.“ Spontan entschied sie am Vorabend ihres Vorstellungsgesprächs für das Haus am Waldsee, der Kommission eine Ausstellung ihrer Arbeiten vorzuschlagen und so eine sowohl global relevante als auch ganz lokale Kunstgeschichte zu erzählen, der bisher noch nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt wurde.
Lesen Sie auch: Sandra Mujingas Videoskulptur im Hamburger Bahnhof
In der Villa an der Argentinischen Allee arbeitet sie jetzt mit einem Team von 12 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zusammen: „Ich habe natürlich im Vorfeld Erfahrungen sammeln können, aber es ist natürlich in mancher Hinsicht einfach ein neuer Beruf“, sagt sie. „Ich freue mich, weiterhin Ausstellungen machen zu können, doch ich nehme es auch sehr ernst, jetzt für eine ganze Institution verantwortlich zu sein und über ihre Bedürfnisse in diesen schwierigen Zeiten nachzudenken.“
Es ist eine Institution mit spannender Geschichte, über die wir hier sprechen, während wir uns langsam wieder in Richtung Ausgangspunkt zurückbewegen und zwischendurch Exkurse über das Design von Kinderspielplätzen und Nachrichten aus dem Kunstbetrieb einflechten. Das Haus am Waldsee, eine 1922 erbaute Fabrikantenvilla, wechselte häufig den Besitzer, war in den 1940er-Jahren der Dienstsitz des stellvertretenden Präsidenten der nationalsozialistischen Reichsfilmkammer, bevor es am 6. Januar 1946 mit einer Ausstellung mit Werken von Käthe Kollwitz und Ewald Vetter eröffnet wurde und sich immer der künstlerischen Avantgarde verpflichtet sah – in einem Land, das sie 12 Jahre als „entartet“ geschmäht und aus den Ausstellungshäusern verbannt hatte.
Die Verpflichtung zum Experimentellen, zum unkonventionellen Zugriff ist ihm bis heute geblieben – und darauf möchte Anna Gritz auch aufbauen: „Es geht mir um Dringlichkeit, um gesellschaftliche wie künstlerische. Das heißt nicht, dass man sofort auf jeden Zug aufspringt, der gerade durchs Dorf fährt. Aber ich möchte Themen bearbeiten, die die Menschen bewegen. Es geht auch um das Repräsentieren von Stimmen, die bislang zu wenig gehört worden sind. Warum waren sie nicht zu hören? Schon ist man bei den strukturellen Fragen über die Zeit, in der wir leben“, sagt sie.
Haus am Waldsee: Ein schönes Ziel für Ausflüge
Das Kapital des schönen Ausflugsortes in Zehlendorf will sie nutzen. Ein Besuch im Haus am Waldsee ist etwas anderes als ein klassischer Museumsbesuch im Innenstadtbereich: Man fährt an den Stadtrand, man nimmt sich Zeit dafür, und im besten Fall verlangsamt sich schon auf dem Weg dorthin die innere Uhr von Alltagstempo auf Erholungsmodus. Es soll nicht unbedingt mehr Ausstellungen im Haus am Waldsee, aber ein intensiveres Begleitprogramm geben. Exkursionen zum Beispiel, bei denen man die Umgebung erkunden oder neu kennenlernen kann. Der Skulpturengarten soll bald von Nina Beier und Bob Kil bespielt werden, Performerinnen und Performer werden in Zehlendorf auftreten, Lesungen stattfinden. Ab dem 23. Juni steht mit Arbeiten der georgischen Künstlerin Tolia Astahhishvili die nächste Ausstellung an. Mit einem breiten Angebot will Anna Gritz auch Schwellenängste abbauen und Menschen zu sich einladen, die über einen Museumsbesuch sonst nicht sofort nachdenken würden. Das gemütliche Haus mit seinem Café, auch mit seinem idyllischen See ist dafür schließlich wie gemacht. Sie wird jetzt gleich noch hinfahren, sagt Anna Gritz. An der Lindenstraße verabschieden wir uns.