Wie entstand der Zuckerbäcker-Stil der Stalinallee? Hermann Henselmann wollte schnörkelose Architektur und trickste die DDR-Bosse aus.

  • Die Stalinallee in Ost-Berlin war der Vorzeige-Boulevard der DDR
  • Das Politbüro der SED hatte klare Vorstellungen zur Architektur
  • Architekt Hermann Henselmann hingegen trickste die DDR-Staatsführung aus

Berlin. Der Architekt Hermann Henselmann, Jahrgang 1905, arrangierte sich auf seine Art. War er von einem Auftrag nicht überzeugt, meinte er nur: „Wenn sie Scheiße wollen, baue ich sie ihnen immer noch besser als andere“. Und ging an die Arbeit. Dieses Motto ihres verstorbenen Mannes, einst Chefarchitekt der DDR-Staatsführung, verriet an seinem 100. Geburtstags die 90-jährige Witwe Irene Henselmann einer Morgenpost-Reporterin. Auch wie er trickste. „Er hat denen im Politbüro erzählt, dass sich seine Küchenentwürfe an den russischen Küchen orientierten, was gar nicht stimmte. Aber so konnte er geräumige Wohnküchen realisieren.“ Zur Not habe er sich einfach auf Schinkel bezogen, wenn er hochmoderne Entwürfe vorlegte. Die Parteioberen, vom Preußenbaumeister angetan, staunten dann – und nickten. Allerdings nicht immer.

Es ist Henselmann, der an erster Stelle mit der architektonischen Pracht aus den frühen 50er-Jahren in Verbindung gebracht wird, die in Berlin über mehr als zwei Kilometer die Frankfurter- und Karl-Marx-Allee einfasst. Vieles Markantes ließ man ihn dort planen, aber längst nicht alles. Was auch an seiner Vorliebe für die radikale Modernität Le Corbusiers aus seiner frühen Zeit lag, die ihn nach dem Krieg immer noch umtrieb. Jetzt, da die rückwärtsgewandte Ästhetik der Nationalsozialisten abgemeldet war, so hatte er wohl gemeint, könne er sich auf die von den Linken einst hofierte Moderne der Bauhausschule berufen, als er Ende 1950 seinen Entwürfe für die Stalinallee einreichte: glatt, schnörkellos, nüchtern, in der „Neuen Sachlichkeit“ eben. Doch da irrte er sich.

Stalinallee in Berlin: Das „Neue Deutschland“ schoss scharf gegen Henselmann

Hermann Henselmann (1905-1995) drückte Ost-Berlin seinen Stempel auf.
Hermann Henselmann (1905-1995) drückte Ost-Berlin seinen Stempel auf. © picture alliance | akg-images

Das Politbüro der SED hatte die Planung für den Vorzeige-Boulevard zur Chefsache gemacht, warf ihm und seinen Skizzen „Formalismus“ vor. Sie seien ein „kosmopolitischer Ausdruck westlichen Bauens“. Rudolf Herrnstadt, Chefredakteur des „Neuen Deutschlands“, haute noch mal in dieselbe Kerbe, in einem Leitartikel. Das saß. Kurt Liebknecht, Neffe des ermordeten KPD-Chefs Karl Liebknecht und in der frühen Nachkriegszeit in Ost-Berlin einflussreicher Architekt, sagte später: „Als Formalist bezeichnet zu werden war so ziemlich das Schlimmste, was einem als Architekt passieren konnte“.

Henselmanns war deshalb schon drauf und dran, in den Westen zu gehen, wie seine Frau Irene in ihrer Autobiografie „Meine große Familie“ offenbart: „Bert Brecht war es, der ihn zum Bleiben bewegte.“ Wobei der Dramatiker seinen Freund Henselmann auch mahnte, wem der zu dienen habe: Er dürfe „als Künstler sein Werk nicht höher einschätzen als die gesellschaftlichen Forderungen des Volkes“. Dabei dürfte dem Kulturhengst Brecht klar gewesen sein: Tatsächlich ging es weniger um Forderungen oder Geschmack des Volkes als vielmehr um die des großen Bruders, der Sowjetunion. Oder, genauer: um vorauseilenden Gehorsam, Moskau nachzueifern.

Stalinallee: Ein großes Renommierprojekt

Anfang 1950, ein Jahr nach Gründung der DDR standen gut eineinhalb Milliarden Mark für den Aufbau Ost-Berlin bereit. Großes Vorzeigeprojekt sollte die Stalinallee werden, als 120 Meter breiter Boulevard. Nicht ohne Symbolkraft in Richtung Osten, Moskau. Die ersten Entwürfe lagen vor, auch Grundsteinlegungen gab es bereits. Man hatte es eilig. Das Ministerium für Aufbau schickte eine Delegation in die Sowjetunion, vor allem nach Moskau, um ihre Ästhetik dort vorzustellen. Mit dabei alle nennenswerten Architekten, auch Henselmann. Zum freundlichen Erfahrungsaustausch und Nastrovje. Dachte man, doch daraus wurde nichts.

Die Stalin- und spätere Karl-Marx-Allee auf einer Fotopostkarte, enstanden vor 1961.
Die Stalin- und spätere Karl-Marx-Allee auf einer Fotopostkarte, enstanden vor 1961. © picture alliance | akg-images

Minister Bolz, seine Mitarbeiter und die mitgereisten Baukünstler holten sich eine Abfuhr. „Formalismus“, „westlich“, alle Anwürfe, die Henselmann Monate später von der Wettbewerbsjury für seine Pläne kassierte, wurden bei der Gelegenheit in Moskau vorgegeben. Ausdrücklich auch die Kritik am Bauhaus. Dessen gesamte Ästhetik war in Stalins Reich tabu. Der Arbeiterklasse sollten schmucke Paläste präsentiert werden, Wohnpaläste, Kulturpaläste, alles mit Verzierungen, Säulen, Türmen und Türmchen. Und alles möglichst kolossal. Ausdrückliches Ziel war ein „nationaler Stil“, der nun allerdings auch für Deutschland gelten sollte. „Sozialistischer Realismus am Bau“ lautete die Devise, oder „Sozialistischer Klassizismus“, von West-Experten früh schon als „Zuckerbäcker“-Architektur verunglimpft.

Architekt Henselmann blieb zunächst renitent

Die Pläne für die entsprechenden Neubauten in Moskau hingen für die Gäste aus Berlin an der Wand. Sie hätten längst realisiert sein sollen, der Krieg hatte es verhindert. Immerhin das Hotel Peking am Gartenring, in entsprechendem Design, konnte man bereits zeigen. Die gewaltige Lomonossow-Universität wuchs seit 1947 gen Himmel. Und man verwies auf ein Muster in der Heimat der Gäste: den Neubau der Sowjetischen Botschaft, seit dem Vorjahr 1949 im Bau am alten Prachtboulevard Berlins, Unter den Linden. Sieben Prachtpaläste entstanden in jenen Jahren in Moskau, die „Sieben Schwestern“, Ikonen jenes Zuckerbäckerstils. Der allerdings, als die letzte Schwester 1957 geboren war – so schnell konnte das gehen – schon wieder in Ungnade fallen sollte, vier Jahre nach Stalins Tod. Doch vorerst, auf der Heimreise der Delegation nach Berlin, galt er als Nonplusultra.

Sozialistische Moderne: Auch das am Alexanderplatz gelegene „Haus des Lehrers“ mitsamt seinem markanten Fries stammt von Henselmann.
Sozialistische Moderne: Auch das am Alexanderplatz gelegene „Haus des Lehrers“ mitsamt seinem markanten Fries stammt von Henselmann. © FFS | Joerg Krauthoefer

Was die Planungen für die Stalinallee anging, so war die Ausgangslage nach der Moskau-Visite disparat. Manche Häuser an der Stalinallee waren bereits im Bau, noch im Stil der Sachlichkeit geplant. Wie etwa das „Laubenganghaus“ von Hans Scharoun, das die Stadtväter in Sorge um die deutsch-sowjetische Freundschaft gleich nach Einweihung hinter schnellwachsenden Pappeln versteckten. Und Henselmann, Abteilungsleiter am Institut für Bauwesen der Akademie der Wissenschaften, dem doch eine federführende Rolle bei der Gesamtplanung zugedacht war, blieb zunächst renitent, legte immer noch Pläne vor, von denen man nichts wissen wollte in Moskau. Dabei hatte man doch dort noch, kurz vor der Rückreise, gemeinsam mit den Klassenbrüdern 16 Grundsätze für den neuen Stil in Beton gemeißelt.

Also wurde Henselmann zurechtgestutzt, auch öffentlich und im „ND“, doch man wollte nicht auf ihn verzichten. Er wiederum wollte derjenige bleiben, der „die Scheiße“ am besten bauen würde, zeigte sich anpassungsfähig. Zügig zeichnete er um, wurde Zuckerbäcker, wenn auch mit verhaltenen Verzierungen. Er kam in die Planungsgruppe, als Chefarchitekt. Er plante eine der ersten Landmarken im neuen Stil, das „Hochhaus an der Weberwiese“, durfte richtungsweisend den ersten Bauabschnitt der Stalinallee skizzieren, die Wohntürme am Frankfurter Tor entwerfen, auch das „Haus des Kindes“ am Strausberger Platz, in den unteren Etagen das erste Kinderkaufhaus Deutschlands.

Oscar Niemeyer: Stalinallee ist eine der bedeutendsten Alleen Europas

Die Stalinalle in Ost-Berlin im Winter 1954.
Die Stalinalle in Ost-Berlin im Winter 1954. © picture alliance/akg-images/Horst Maack

Im Frankfurter Tor setzte er Betonfertigteile ein, zählte somit zu den Pionieren des Plattenbaus, späteres Markenzeichen der Republik. Und er erhielt, trotz „nationalen“ Stils mit Türmchen, großes Lob von seinem großen Idol, dem so „westlich“, vor allem aber kühn bauenden Oscar Niemeyer, der die Stalinallee als „eine der bedeutendsten Alleen der europäischen Metropolen“ bezeichnete (vielleicht ja deshalb, weil Niemeyer selbst Kommunist war). 1961 dann, als die Zuckerbäckerei lange passé war, durfte Henselmann mit seinem „Haus des Lehrers“ am Alexanderplatz seinen Idolen Niemeyer und Le Corbusier nacheifern, die zuvor das Hochhaus der UN-Zentrale in New York gebaut hatten. „Seine“ Stalinallee bekam so einen kosmopolitischen Eingang.

Aus der Baustelle der Stalinallee nahm der Aufstand des 17. Juni seinen Lauf. Die Henselmanns verfolgten dies aus ihrer Wohnung hoch überm Strausberger Platz. Irenes Schwager Robert Havemann versuchte unten zu schlichten. Als am nächsten Tag ein paar führende Köpfe der revoltierenden Bauarbeiter in Henselmanns Wohnung zum Gespräch hochkamen, bat er telefonisch Brecht hinzu. Der kam auch – und schrieb am Morgen darauf sein berühmtes Gedicht, „…ob es nicht einfacher wäre, die Regierung löse das Volk auf und wähle sich ein neues“.

Irene, die hier nur „ein Gedicht“ in ihrer Autobiografie erwähnt, verrät nicht, welches. Wie sie überhaupt ohne Empathie all das beschreibt, was sie da von oben aus miterleben durfte. Man arrangierte sich offensichtlich. Auch sie. Wie auch immer: Niemeyer hat recht, die Allee ist eine der bedeutendsten Alleen.

Wer Näheres wissen will: www.stalinbauten.de ist eine äußerst informative wie plakative Website für einen virtuellen Spaziergang über diesen Boulevard.