Man stelle sich vor, ein Architekt legt eines Tages dem Magistrat einer Großstadt den Standard-Entwurf für ein Mietshaus vor. Mehrere tausend Wohnblöcke, fast alle Neubauten, werden nach dem Plan gebaut, jeder mit Dutzenden Wohnungen. Hier und da wird der Grundriss ein wenig variiert, doch ein Element eint sie fast alle: ein Raum, meist recht groß und immer mitten in der Wohnung gelegen, als Durchgangszimmer. Das merkwürdige: Keiner kann sich mit ihm so recht anfreunden. Seine Qualitäten werden erst entdeckt werden, als die Häuser schon 100 Jahre oder noch länger stehen, dann aber neue, junge Architekten jenen Raum begeistert wiederentdecken, ihn nachbauen. In Berlin gibt es sowas.
Als Friedrich Engels vor etwa eineinhalb Jahrhunderten Wilhelm Liebknecht in dessen Wohnung in der Kantstraße besucht hatte, war der Philosoph fast schockiert von der Stube des Arbeiterführers. Noch aus der Reichshauptstadt äußerte Engels in einem Brief sein Befremden: „Hier in Berlin hat man das ‚Berliner Zimmer‘ erfunden, mit kaum einer Spur von einem Fenster, und darin verbringen die Berliner den größten Teil ihrer Zeit.“ Womöglich saß da auch der kleine Karl, Wilhelm Liebknechts Sohn, in dem so traurigen Zimmer, spielte mit Bauklötzen – und tat Engels leid „in dieser in der ganzen übrigen Welt unmöglichen Herberge der Finsternis, der stickigen Luft und des sich darin behaglich fühlenden Berliner Philistertums. Danke schönstens!“
Die 68er-Rebellion kam aus dem Eckzimmer
Das „Berliner Zimmer“, Charakteristikum der allermeisten Mietshäuser aus der Gründerzeit der alten Reichshauptstadt – für Engels, den revolutionshungrigen, wohlhabenden Fabrikantensohn und Marx-Freund, war es also nur Ausdruck des Spießertums, der „Philister“. 1997, gut ein Jahrhundert später, schreibt der Architekturkritiker Klaus Hartung rückblickend diesem so besonderen Raum in einer Anthologie eine ganz andere gesellschaftliche Rolle zu: „Die 68er-Rebellion kam nicht aus den Hinterzimmern, sondern aus dem Berliner Zimmer“ – also mitten aus den von den „Spießern“ hinterlassenen vier Wänden. Es war die Zeit, als die Wohngemeinschaften der Studentenszene in der West-Berliner Nachkriegszeit die „Beletagen“ eroberten und die darüberliegenden Wohnungen der aussterbenden „Wilmersdorfer Witwen“. Hartung, einstiger SDS-ler und taz-Journalist, hat diese Wandlung miterlebt, als die WG-Einzelzimmerbewohner jenes kaiserzeitliche Zimmer entdeckten, sich nach und nach in dessen „unmöblierbarer Kältezone“ näherkamen und „den leeren Raum für soziale Phantasie und politische Träume“ nutzten.
Natürlich nicht nur in „WGs“, auch in größeren Familien, die die entsprechenden Wohnungen bevölkerten, erfuhr die Bedeutung des für die Berliner Altbauten so charakteristischen Raumes seit den 1960er-Jahren eine Wandlung, einhergehend mit der veränderten Rolle der Frauen, der Kinder, der Küche. Aber warum gab es dieses zunächst so „schwierige“ Durchgangszimmer überhaupt, wer hat es erfunden?
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War es der berühmte Baumeister Karl Friedrich Schinkel (1781-1841), der seinerzeit das Berliner Stadtbild so sehr geprägt hatte? Viele behaupten das. Auch Eduard Knoblauch (1801-1865) wird genannt, der ebenfalls zahlreiche Bauten in der Stadt entworfen hatte, Mietshäuser, auch die Synagoge in der Oranienburger Straße. Tatsächlich jedoch war es der „Landbaumeister“ Gustav Assmann (1825-1895), Mitglied der Kommission James Hobrechts, die zusammen mit dem Polizeipräsidenten den „Bebauungsplan der Umgebungen Berlins“ zwischen 1858 und 1862 ausarbeiteten.
Die Großbürger im Vorderhaus, das Proletariat rings um die Hinterhöfe
Hobrechts Plan galt für Berlin, Charlottenburg, Reinickendorf, Weißensee, Lichtenberg, Rixdorf und Wilmersdorf, legte die Straßenfluchten fest, aber auch die Aufteilung der Grundstücke. Und gebar so die Idee der Hinterhöfe zwischen Vorderhaus, Seitenflügel und Quergebäude (auch „Gartenhaus“ genannt), bisweilen zwei oder drei hintereinander, im Extremfall acht. Anders als es sich in vergleichbaren Metropolen wie etwa London anbahnte, schwebte der Hobrecht-Kommission im inneren und im westlichen Bereich des Ballungsraums keine Trennung vor von Slums für die Arbeiter und Villengegenden für die Fabrikanten und Honoratioren. In ihren Gründerzeit-Blöcken sollten Wohlstand und Armut nebeneinander wohnen. Großbürger im Vorderhaus, das Proletariat rings um die Hinterhöfe, dort auch neben Kleingewerbe.
Assmann war es vorbehalten, für die Bebauung der nun kommenden Jahre und Jahrzehnte das weitgehend normierte „Grundrissmusterbuch“ herauszugeben. Ab sofort waren die Häuser gedreht, nicht mehr wie zuvor mit dem Giebel zur Straße gewendet, sondern mit der – längeren – Traufseite. Angedockt an der Rückseite dann, auf einer oder auch auf beiden Seiten, die Seitenflügel mit ihrer Schmalseite, an deren Ende wiederum das „Gartenhaus“, quer. Fenster gab es für alle entweder nur zur Straße oder zum Hof. Rechts und links grenzten die Häuser unmittelbar aneinander, Brandmauern an Brandmauer.
Leider funktionierte bei diesen Mustergrundrissen die Trennung ins reiche Vorder- und arme Hinterhaus nicht komplett. Der Platz vorne war zu knapp für die Ansprüche an die zwei großbürgerlichen Wohnungen rechts und links des Treppenhauses. Dort reichte es gerade für das Herren-, und das Wohnzimmer, einen Flur und das Schlafzimmer, womöglich noch eine kleine Toilette, vielleicht noch ein Esszimmer. Küche, Badezimmer, Bügel- und „Mädchenzimmer“, noch eine oder zwei Kammern aber hatten in den Seitenflügel zu rücken – den Armeleute-Flügel.
Zwischen beiden Wohnungsteilen aber tat sich nun, im Eck des Grundrisses, ein weiter Raum auf, der kaum Platz für ein Fenster bot, nur im äußersten Winkel. Außerdem war es ein Durchgangszimmer, in einer Zeit, als man damit noch wenig anzufangen wusste, weil in den besseren Kreisen die Bereiche noch streng getrennt waren, weil noch keine großzügigen Wohnküchen oder offene Multifunktionsräume üblich waren, in denen Kinder spielen, neben dem Esstisch das Bügelbrett steht, oder am großen WG-Tisch beim Chianti die Welt interpretiert wird.
Dem damaligen Dünkel immerhin kam die Größe dieses Leerraumes zu Pass. So trennte er deutlich das Repräsentieren vorn vom lauten und anrüchigen Wirtschaften, Kochen und Nasszellenbetrieb, das alles nach hinten gehörte, in den Seitenflügel, mit Fenster zum Hof. Auch das Personal hatte vorn nichts zu suchen, abgesehen vom Servieren im Salon. Und damit man sich vorn nicht begegnete, gab es hinten heraus den „Dienstboteneingang“, zum Treppenhaus im Seitenflügel.
1987 tauchte der Raum wieder in Grundrissen von Architekten auf
Für den Architekten Jan Herres, der seine Masterarbeit dem Berliner Zimmer widmete (und 2022 das Buch „Das Berliner Zimmer“ herausbrachte), war der Raum damals ein „Scharnier zwischen den Welten des Industriezeitalters“, die sich auch innerhalb solcher Wohnungen begegneten, aber eben auch aus dem Weg gingen. Eigentlich hätte dafür auch ein langer Korridor gereicht, aber der große Leerraum war vorgegeben nach Assmanns Schema. Das wurde von kaum jemand infrage gestellt, als Berliner Besonderheit, fast nirgends sonst nachgebaut. „Mietshäuser wurden seinerzeit nicht vorrangig von Architekten entworfen, sondern von sogenannten Baumeistern mit Grundrissmusterbüchern in der Hand“, sagt Herres, und in Assmanns Berliner Mustern war das Berliner Zimmer so gut wie vorgegeben. Auch wenn das Standardwerk „Berlin und seine Bauten“ aus dem Jahr 1896 den „Übelstand“ beklagte, dass das Personal bisweilen auch mal durch das Durchgangszimmer mit all seinem Stuck, Parkett und den kostbaren Ofenkacheln hindurch musste.
Richtig zu schätzen lernten die Berliner „ihr“ Zimmer erst ab den 1970er-Jahren, als man dessen „geplante Unbestimmtheit“, wie Herres es nennt, als Chance begriff, als Luxus feierte. Egal, ob ein Konzertflügel darin stand, Bücherwände, das Tretauto seine Kreise zog, der Wäscheständer seine Arme ausbreitete oder der bekannteste Salonbetreiber, Werner Sombart, dort zum jour fixe lud. Egal ob Familien oder Wohngemeinschaften, sie freuten sich über diese „Polyvalenz“ des großen Raumes.
1987 tauchte das Berliner Zimmer dann auch wieder in Entwurfsskizzen der Architekten auf. In den Neubauten der Internationalen Bauaustellung (IBA) 1987 in West-Berlin, die unter dem Motto „kritischen Rekonstruktion“ stand, hielt es als durchgehendes Prinzip Einzug. Rund 125 Jahre nach Assmanns „Erfindung“.