Berlin. Vom Flugzeug aus gesehen sind sie nicht zu übersehen: Berlins Großsiedlungen ragen wie weiße Gebirge aus dem weitläufigen Grün und Blau der Hauptstadt. Schwerer fällt es schon zu unterscheiden: Was ist davon ist das Märkisches Viertel, was Gropiusstadt? Weiße Siedlung oder Fennpfuhl? Nur Marzahn-Hellersdorf ist ob seiner Größe selbst für Ortsfremde nicht zu verwechseln. Das Viertel im Osten der Stadt galt bei seinem Bau als Europas größtes zusammenhängendes Plattenbauviertel. Und noch etwas erkennt man von oben: Häuserreihen in Kringeln, Ringen oder auch Hufeisenform. Die Gartenstädte waren die ersten Großsiedlungen Berlins.
Groß gedacht wird die Stadt Berlin aber schon lange. Ein 13. Bezirk für Berlin ist eine Idee – in der Vergangenheit gab es ganz unterschiedliche Ansätze, von denen manche berühmt, andere schnell wieder verworfen wurden. Geschichte machte der preußische Regierungsbaumeister James Hobrecht 1862 mit seinem „Fluchtlinienplan“. Ring- und Ausfallstraßen sollten die damaligen Städte Berlin und Charlottenburg und fünf umgebende Gemeinden verbinden. Der Hobrecht-Plan bestimmt bis heute große Teile des Berliner Stadtbildes.
Um 1900, in den Hochzeiten der Industrialisierung, schien ein Ausweg aus dem „Moloch“ Berlin die Gartenstadt nach englischem Vorbild. Wohnsiedlungen im Grünen, keine Mietskasernen, gesundes Leben in der Stadt, das war die sozialreformerischen Idee. Die Bewohner sollten lebenslanges Wohnrecht bekommen, der Baugrund in Gemeinschaftshand bleiben, um Spekulation zu verhindern. Ein Beispiel ist die Gartenstadt Frohnau: 1907 kaufte Graf Henckel Fürst von Donnersmarck 3.000 Morgen Wald in der Stolper Heide und legte damit den Grundstock des heutigen Reinickendorfer Ortsteils Frohnau. Weitere Gartenstädte sollten folgen, damals noch am Stadrand im Grünen und ohne Hochhäuser. Doch der erste Weltkrieg machte dem Bauboom vorerst ein jähes Ende.
Den ersten Ideenwettbewerb für „Groß-Berlin“ gab es 1910
Die Krieg von 1914 bis 1918 erklärt vielleicht auch, warum der erste Städtebauwettbewerb zur Gestaltung der Stadt „Groß-Berlin“, der 1910 stattfand, heute weitgehend vergessen ist. Ziel: Das ringförmige Wuchern der Mietskasernenstadt sollte gestoppt werden, denn trotz guter Vorsätze griffen Bau- und Bodenspekulation um sich. Neue Vororte sollten durch ein radial angelegtes Verkehrsnetz mit der Innenstadt verbunden werden. 100 Jahre später klingt der Plan erstaunlich aktuell. Doch erst 1920, mit der Gründung von „Groß-Berlin“ aus 94 Gemeinden, konnte Berlin tatsächlich zu einer Großstadt zusammenwachsen. Mit 3,8 Millionen Einwohnern lag es damals nach New York und London in Sachen Bevölkerungszahl weltweit an dritter Stelle und galt mit 878 Quadratkilometern nach Los Angeles flächenmäßig als zweitgrößte Gemeinde der Welt.
Der Begriff „Großsiedlung“ taucht in Berlin erstmals 1925 in Zusammenhang mit der Hufeisensiedlung in Neukölln auf. Wie die meisten frühen Großsiedlungen sollte sie nicht mehr als 2000 Einwohner haben. Architekten waren Bruno Taut, Martin Wagner und der Gartenarchitekt Leberecht Migge. Andere Beispiele sind Onkel Toms Hütte in Zehlendorf, an der wiederum Bruno Taut beteiligt war, außerdem Hugo Häring, der auch die Ringsiedlung Siemensstadt in Charlottenburg mit plante. Sie entstand 1929-34 als Werkssiedlung in Charlottenburg. Sie, die Hufeisensiedlung, sowie vier weitere Berliner Wohnsiedlungen zählen heute zum Unesco-Weltkulturerbe: Dazu gehören auch die „Tuschkastensiedlung“ genannte Gartenstadt Falkenberg, die Weiße Stadt in Reinickendorf, die Wohnstadt Carl Legien in Prenzlauer Berg und die Siedlung Schillerpark in Wedding.
Nicht groß, sondern größenwahnsinnig plante 1937 unter Adolf Hitler der Architekt Albert Speer: Er dachte Berlin zur „Reichshauptstadt Germania“ um. Mit großflächigem Abriss, riesigen Straßen und gigantischen Repäsentationsbauten. Von den Ideen wurde zum Glück fast nichts umgesetzt.
Abreißen wollten nach 1945 auch der vom ersten Magistrat frisch gekürte Stadtbaudirektor Hans Scharoun, wenn auch mit ganz anderen Motiven. Scharoun gilt als wichtigsten Vertreter der „Organischen Architektur“, Gebäude und Landschaft sollten in Harmonie entwickelt werden. Nach dieser Vorstellung hatte Scharoun unter anderem die Siemensstadt mitgeplant. 1945 beauftragte ihn der von den Sowjets eingesetzte Berliner Magistrat mit einem Wiederaufbau-Plan für die zerbombte Stadt.
Scharoun stellte mit Kollegen einen radikalen „Kollektivplan“ vor: Weg mit dem Alten, weg mit den ringförmig angelegten Straßen, weg mit der unterirdischen Infrastruktur. Stattdessen grünen „Stadtlandschaften“ – und ein rechteckiges Schnellstraßensystem. Denn Berlin war zwar 1945 kriegsbedingt eine praktisch autolose Stadt, doch das Auto war im Kommen – und blieb für Jahrzehnte richtungsweisend für die Planung der „autogerechten Stadt“. Doch auch der Abrissplan Scharouns wurde nie umgesetzt. Die 1949 gegründete DDR orientierte sich lieber an Moskaus Monumentalarchitektur.
Trotz der Teilung blieb die Architektur Berlins zunächst gewissermaßen in Verbindung - wenn nun jedoch als Konkurrenz. Das Hansaviertel in Tiergarten zum Beispiel, geplant im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Interbau von 1957, gilt als West-Berliner Antwort auf die nach sowjetischem Vorbild errichteten Monumentalbauten der heutigen Karl-Marx-Allee.
Wo einst die Mauer stand, bricht das Häusergebirge ab
Wer Berlins größte Großsiedlungen von oben betrachtet, kann eins immer noch gut erkennen: Wo genau die Mauer verlief. Von oben sieht man, wie nah sich die Häusergebirge des Märkischen Viertels und der Gropiusstadt an die Stadtgrenze schieben und am Stadtrand abbrechen wie Gebirgsklippen. Wo ab 1961 die Mauer stand, war Schluss mit dem Städtebau.
Die Mauer beschleunigte zunächst in West-Berlin den Bau gigantischer Neubauviertel. Man musste viele Menschen auf wenig Raum unterbringen. Das Märkische Viertel in Reinickendorf entstand von 1963 an, es sollte 17.000 Wohnungen haben. Zeitgleich entstand die Gropiusstadt in Neukölln mit 18.000 Wohnungen. Weil der Raum fehlte, um in die Weite zu bauen, wurden die Häuser höher: Statt der von Gropius vorgesehenen fünf Geschosse, bekam das höchste Gebäude der Gropiusstadt gleich 30 Wohnetagen. Mit 89 Metern Höhe war das Ideal-Wohnhochhaus an der Fritz-Erler-Allee lange eines der höchsten Wohngebäude Deutschlands.
Der Ostteil dagegen wuchs ungehindert aufs Land und die Dörfer hinaus. Ein Symbol dafür ist heute Marzahns von Plattenbauten umstelltes Dorfkirchlein. Auch der Stadtteil Fennpfuhl in Lichtenberg ist trotz seines ländlichen Namens eine Großsiedlung. Der Bau dieser ersten Großsiedlung Ost-Berlins begann jedoch erst 1972 – zu einem Zeitpunkt, als das Märkische Viertel fast fertiggestellt war. Bis 1986 entstanden hier Wohnungen für rund 50.000 Menschen.
Gebaut wurde in Ost-Berlin nach Fünfjahresplan – von 1971 sollten in Ost-Berlin 33.000 neue Wohnungen entstehen, bis 1980 weitere 77.000. Möglich wurde das durch den „komplexen Wohnungsbau“. Immergleiche Häuserkomplexe entstanden in der typischen „Großtafelbauweise“ in großer Geschwindigkeit. Die einzelnen Quartiere unterschieden sich oft nur durch die Hausnummern. Sie waren in den größeren Städten der DDR mehr oder weniger gleich. Marzahn jedoch war die größte aller Großsiedlungen – 60.000 Wohnungen entstanden hier bis Ende der 80er-Jahre, dazu weitere 40.000 im angrenzenden Hellersdorf, jeweils plus Schulen, Kitas und Kaufhallen.
Bis zum Ende der DDR war die „Platte“ beliebt. Nach 1990 zogen viele Bewohner weg, rund 4500 Wohnungen wurden abgerissen. Heute ist die „Platte“ wieder angesagt, ebenso wie die „modulare Bauweise“. Sie erlebt eine Renaissance – von preiswerten Modularbau-Wohnheim in Marzahn bis zum edlen „Typenhochhaus“ in der Stadtmitte.
Alle Teile der Serie "Der neue 13. Bezirk - Wie Berlin künftig wachsen soll" können Sie hier lesen.