In der neuen Theatersaison dreht sich alles um die Frage, wie wir miteinander umgehen: Wie hältst du’s mit dem anderen, dem Fremden?
Wer bei Aufklärung an Sex denkt, liegt nicht grundsätzlich verkehrt. In der kommenden Theatersaison allerdings schon. Die erotischen und bürgerlichen Krisen gab es in der vergangenen Berliner Spielzeit.
Jetzt dreht sich alles um die Frage, wie wir miteinander umgehen, mithin um Toleranz – eine der zentralen Forderung der Aufklärungsepoche, Theater geworden in Lessings „Nathan der Weise“. Der wird jetzt rauf und runter inszeniert in Deutschland, vermutlich, weil mit den Flüchtlingen aus dem Nahen Osten und Afrika auch die Fragen wieder brisant werden: Wie hältst du’s mit dem anderen, dem Fremden?
Regisseure spielen über Bande
Was sich beim Blick auf die Spielpläne der Saison 2015/16 abzeichnet: Es wird ernst. Die großen Fragen tauchen an allen Häusern auf, aber nur das Deutsche Theater (DT) macht ein Spielzeitmotto daraus: „Der leere Himmel“.
Mit der Religion hat es Berlin, glaubt man den Statistiken, nicht so, zugleich gibt es eine große Bandbreite an Glaubensformen. Ohne Toleranz geht hier nichts. Zum Auftakt soll Regisseur Andreas Kriegenburg am 30. August den richtigen Hebel für „Nathan“ und die Ringparabel finden. In der Titelrolle des Weisen wird Jörg Pose auftreten.
Die Toleranzfrage
Auch das Gorki Theater startet mit der Toleranzfrage. Yael Ronen, Hausregisseurin und Konfliktexpertin, erzählt in „The Situation“ von und mit Schauspielern aus Nahost, die ihr Glück in Berlin suchen – gut möglich, dass ihr damit ein ähnlich bewegender Abend gelingt wie mit „Common Ground“.
Mit „In unserem Namen“ kombiniert Sebastian Nübling die Flüchtlingsdramen „Die Schutzflehenden“ von Aischylos und „Die Schutzbefohlenen“ von Elfriede Jelinek. Nübling wird außerdem Sibylle Bergs Fortsetzung von „Es sagt mir nichts, das unbekannte Draußen“ mit dem Titel „Und dann kam Mirna“ uraufführen.
Und Nurkan Erpulat nimmt sich den neuen Roman von Olga Grjasnowa vor – klar, dass Toleranz auch bei der von ihr beschriebenen Generation von multinationalen Patchwork-Biografien eine entscheidende Rolle spielt.
Deutsche Theater bleibt beim Religionsthema
Das DT bleibt am Religionsthema dran: mit dem dreisprachigen Projekt „Drei Hunde Nacht“ und einem Abend über „Götter“. Auch danach fragt das Theater, woran wir glauben, das hat dann nur noch bedingt mit dem Himmel zu tun. Das DT glaubt auf jeden Fall an seine bewährten Kräfte, auch wenn die zuletzt in der Tendenz schwächelten: Stephan Kimmig inszeniert ebenso wie Stefan Pucher und Jette Steckel.
Auch in der Saison 2015/16 gibt es übrigens ein fröhliches Über-Bande-Spielen der Regisseure. Jan Bosse, der unter dem Shermin-Langhoff-Vorgänger Armin Petras noch am Gorki inszenierte, arbeitet jetzt am DT und das gleich zwei Mal: Er macht Armin Petras’ „münchhausen“ und „Wintersonnenwende“ von Roland Schimmelpfennig. Auch Petras’ Stück „Buch“ (nach der Krankenhausstadt im Norden Berlins) wird gezeigt, inszeniert von Tilmann Köhler.
„Über-Bande-Spielen“ der Ressigeure
Rainald Grebe macht seine musikalischen Arbeiten jetzt an der Schaubühne („Westberlin“), wo neben Michael Thalheimer auch Nicolas Stemann gelandet ist, beide früher am DT zu Hause. Stemann inszeniert im Februar „Borgen“ – und markiert damit einen weiteren Trend, nach Roman und Film jetzt auch das Fernsehen nach Stoffen zu plündern.
Man weiß nicht, was herausfordernder ist: die 1000 Seiten von Thomas Manns „Zauberberg“ (DT, inszeniert vom jungen Wilden Martin Laberenz) auf abendtaugliche Länge zu bringen oder drei zehnteilige Staffeln.
Große Verjüngung
Claus Peymann setzt in seiner vorletzten Spielzeit am Berliner Ensemble noch mal zur großen Verjüngung an. Klar stemmen die großen Premieren eher die gestandenen Herren: neben dem Hausherrn selbst Manfred Karge (Brechts „Gewehre der Frau Carrar“) und Leander Haußmann, der nach seinem erfolgreichen Ausflug zum Kino jetzt dauerhaft zur Bühne zurückgefunden zu haben scheint.
Er nimmt sich Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ vor, wo die Frage vehement gestellt wird, wie es möglich ist, Wirtschaftlichkeit und Gerechtigkeit zu vereinbaren. Daneben setzt Peymann so entschieden auf junge Menschen, dass man sich etwas wundert: Will er jetzt, zwei Jahre vor Schluss, noch frisches Blut in seine Bude pumpen?
Thom Luz wird ebenso inszenieren wie Peymanns Zögling Sebastian Sommer. Auch Mona Kraushaar ist wieder dabei, die mit „Liliom“ und „Romeo und Julia“ bewiesen hat, wie man nah am Text und dennoch staubfrei inszenieren kann.
Performance im Theater
Der Spagat zwischen Bewährtem und Neuem zieht sich übrigens durch: An der Volksbühne etwa kommt im Herbst Frank Castorfs schon in Wien gefeierte Auseinandersetzung mit Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasow“ heraus. Andererseits suchen die Theater den Aufbruch, das Neue.
So stellt Castorf sein Haus den ganzen September lang dem Performance-Künstler Paul McCarthy zur Verfügung. Der provozierte zuletzt mit der Kombination aus Weihnachtssymbolen und Sexspielzeug.
Jung wird unterdessen der Prater der Volksbühne: Extremkünstler Vegard Vinge musste nach Monaten des unsichtbaren Vorsichhinprobens raus, jetzt spielt das Theater an der Parkaue umbaubedingt dort einige seiner Kinder- und Jugendproduktionen. Und eröffnet Ende September mit sechs Kurzdramen unter dem Titel „Als ich meinen Eltern meinen neuen Freund ...“
Unter den Autoren sind prominente Dramatiker wie Gesine Danckwart, Oliver Bukowski, Lutz Hübner und Nis-Momme Stockmann. Das Kurzstück von Bonn Park heißt „Toleranzig“. Da steckt eine doppeldeutige Wahrheit drin, schließlich kann Toleranz auch schnell etwas Gönnerhaftes bekommen.