Viele waren skeptisch. Insbesondere James Hobrecht, der Mann, der sich wohl am besten im Berliner Untergrund auskannte, und dort zuhause war. Für aberwitzig hielt der Stadtbaurat, der zehn Jahre zuvor Berlin mit einem bestens funktionierenden Kanalisationssystem versorgt hatte, jetzt, Anfang der 1890er-Jahre, die neuen Pläne, Tunnel unter die Häuser und Straßen Berlins zu buddeln, um Bahnen durch sie hindurchfahren zu lassen.
Mehr als Abwasserrohre in den Boden zu versenken sei in dem so flüchtigen Berliner Sandboden nicht drin. Und man möge bitteschön seine Kanalisation jetzt nicht durch Wühltätigkeit für Untergrundbahnen erschüttern.
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Sie alle hatten nicht mit Emil Rathenau gerechnet
Auch Werner von Siemens, der selbst Ambitionen hegte, elektrische Bahntrassen durch Berlin zu treiben, meinte, dass dies nur hoch über, nicht aber unter den Straßen möglich sei. Er jammerte über jene, die einst ausgerechnet auf der Spreeinsel den Keim für die spätere Reichsmetropole gelegt hatten.
„Unsere Urväter haben insofern eine schlechte Wahl getroffen, als sie sich an einem Platz niedergelassen haben, wo der Grundwasserstand sehr hoch liegt. An einem solchen Ort sollte eigentlich keine Stadt angelegt werden. Kein Baumeister wird im Grundwasser eine Eisenbahn ausführen wollen.“
Kein Baumeister? Sie alle hatten nicht mit Emil Rathenau und seiner Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft (AEG) gerechnet. Rathenau hegte seit 1891 den Plan, eine elektrische Bahn durch Berlin zu führen, wo auch immer. Erst eine Linie, dann irgendwann ein Netz. Um das realisieren zu können, war Eile geboten. Es gab Konkurrenz. Siemens ging beim Magistrat längst mit seinen Plänen für Hochbahnen hausieren. Auch meldete sich die Thomas Houston Electric Company aus den USA, wo man bereits Erfahrungen mit beidem hatte. Mit Hochbahnen auf Stelzen und mit Untergrundbahnen – ein Trumpf womöglich für den Zuschlag der Stadtverwaltung.
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Lost Places: AEG-Chef Rathenau träumte von Botticelli
Rathenau jedenfalls wollte nicht einsehen, dass der Berliner Untergrund unpassierbar sein sollte. Zum Beweis des Gegenteils ließ er auf dem weiten AEG-Werksgelände im Wedding Bautrupps und Ingenieure zu Beginn der 1890er-Jahre einen Tunnel graben, Gleise darin verlegen, elektrische Bahnen hin und herfahren. Alles lief glatt. Um nun schnellstens seine Ambitionen für ganz Berlin zu untermauern, wollte er einen unterirdischen Referenz-Tunnel im öffentlichen Raum präsentieren. Der Magistrat blieb skeptisch, sah wohl schon die ersten Häuser einstürzen und wollte deshalb nur einen Standort außerhalb der Stadtmauern zulassen. Genau das aber kam Rathenau zupass. Er hatte da eine ganz besondere Idee.
Für 1896 war im Vorort Treptow die großangelegte „Berliner Gewerbeausstellung“ geplant, die „Kleine Weltausstellung“, wie man sagte. Im Park, unmittelbar an der Spree. Und dort, so schwebte es dem AEG-Chef vor, sollte seine Untergrundbahn aus dem Fluss emporkommen wie Botticellis schaumgeborene Venus. Nicht nur irgendeinen Tunnel wollte er bohren, um in Treptow der ganzen Welt zu zeigen: Seht her, der Untergrund der Stadt ist befahrbar. Nein, der Tunnel sollte obendrein unter einem richtigen Fluss hindurchführen, etwas, was es in Deutschland noch nicht gab. Und was sich die Berliner kaum vorstellen konnten, so ganz ohne Wassereinbruch und ertrinkende Bahninsassen.
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Arbeiter mussten ihre Arbeitskammer durch Luftschleusen betreten
Eine ganz neue Technik sollte dies ermöglichen, in England entwickelt: Der Schildvortrieb. Vorbild bei der Erfindung war der Schiffsbohrwurm (Teredo navalis). Er bohrt sich vorn mit Raspelzähnen durch Holz oder Sand – und scheidet hinten alles wieder aus. So kommt er voran, der Bohrwurm, und so sollte es beim Spreetunnel auch sein. Bei der nun geplanten Röhre mit fünf, sechs Meter Durchmesser, zwölf Meter unter der Oberfläche eines starken, bei Treptow vor allem breiten Flusses, waren die Anforderungen natürlich denkbar größer. Vorne fräste sich eine Maschine kreisrund mit großem Durchmesser in den Sandboden. Unmittelbar dahinter wurden Wände und Decke abgedichtet, verschalt mit gebogenen Blechen, die man gegen Rost mit Zement verschmiert hatte. Und hinten wurde der Sand abgefahren.
Um den möglichen Wassereinbruch zu hemmen, musste all das unten bei gehörigem Überdruck geschehen. Weshalb die Arbeiter ihre – Zug um Zug voranschreitende – Arbeitskammer durch Luftschleusen betraten, um sich der veränderten Atmosphäre anzupassen, wie ein Taucher in größeren Tiefen. Ein Reporter der Zeitschrift „Die Gartenlaube“ war einmal mitgegangen: „Außer einem dumpfen Druck- und Wärmegefühl und einem nur anfangs verdächtigen Knacken im Trommelfell sind mit diesem Aufenthalt in der auf 1¼ Atmosphären komprimierten Luft, wie der Verfasser während der Bauzeit selbst erproben konnte, keinerlei Uebelstände verbunden.“ Unter den Arbeitern habe es keinerlei Krankheitserscheinungen gegeben. Aus England, wo die Technik bei Flusstunnels später häufig Anwendung fand, gab es allerdings Berichte sogar über Todesfälle.
Der Überdruck unten sorgte dabei ständig dafür, dass man oben sah, wie weit man unten gekommen war. „Eine lange Kette aufquellender Luftblasen an der Wasseroberfläche zeigte genau die Lage der Tunnelröhre an“, hatte der Gartenlaube-Reporter beobachtet, „und am Ende der letzteren entwichen andauernd so gewaltige Luftmengen, dass der Spiegel des Flusses sich an dieser Stelle beständig in der heftigsten Aufregung befand.“ Mehrmals habe „der Luftüberdruck von unten her die dünne, über dem Bohrschild liegende Sand- und Schlammschicht vollständig zum Bersten“ gebracht, „so dass der Luftinhalt des Tunnels in vollen Strömen entwich, und das zerstörte Spreebett künstlich wieder zugeschüttet werden musste“.
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Es hakte bei der Genehmigung für den elektrischen Bahnbetrieb
Bis zur Gewerbeausstellung 1896 konnte der Tunnel nicht fertiggestellt werden. Schon damals war dies auf den „langsamen Fortschritt der Verhandlungen mit den in Frage kommenden Verwaltungen“ zurückzuführen, berichtete die „Gartenlaube“. Erst recht hakte es hinterher bei der Genehmigung für den elektrischen Bahnbetrieb. Allerdings war die „Methode Schiffsbohrwurm“ auch nicht die beste Lösung, wie sich herausstellte. Immer wieder löste sich rund um den Tunnel im Strom der Sandboden, sorgte für viele Tonnen zusätzlichen Abraum, die der „Wurm“ nicht so ohne Weiteres verdauen konnte, er war ständig überfüttert.
Was sein Fortkommen häufig blockierte sowie ständiges Nachfüllen des Erdreichs rund herum erforderte. Für spätere Unterquerungen der Spree oder des Landwehrkanals legte man deshalb oft zunächst die Baugruben trocken. Das mit der Botticellis Venus auf der „Kleinen Weltausstellung“ wurde also nichts. Erst 1899 war der Tunnel fertig, konnte dort hindurch vom Schlesischen Bahnhof bis nach Treptow eine Straßenbahn fahren, ab 1909 sogar nach Köpenick. Mit gedrungenen Wagen, weil der Tunnel nur vier Meter hoch war. Statt einer Signalanlage gab es einen (einzigen) Knüppel, den sich die Fahrer an der Ein- und Ausfahrt gegenseitig aushändigten, damit es auf der eingleisigen, dunklen Strecke keinen Zusammenstoß gab. Nur wer ihn deutlich sichtbar voran hielt, durfte einfahren.
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Den Zuschlag für die ersten Stadtbahnlinien erhielt dann doch Siemens
Berlin wurde an Erfahrung reicher, was spätere Tunnelbauten für die U-Bahn (und S-Bahn) anging. Emil Rathenaus AEG hatte zunächst wenig davon. Den Zuschlag für die ersten Stadtbahnlinien erhielt dann doch Siemens – als Hochbahn. 1932 wurde der Tunnel stillgelegt, 1936 zu den olympischen Spielen kurzzeitig für Fußgänger wieder geöffnet. Im Krieg diente er zum Teil als Luftschutzbunker, nach 1945 schüttete man die Einfahrten zu. Mit der Zeit flutete er sich anschließend selbst nach und nach. Eingetauchte Froschmänner stellten nach der Wende 1990 fest: Er ist noch weitgehend intakt.
Eines konnte man Berlin nicht mehr nehmen: Der Spreetunnel war der erste Unterwassertunnel in Deutschland. Auch wenn in Hamburg, seitens der Stadt, des Fremdenverkehrsmarketings und der großen Medien immer wieder die Behauptung laut wird, der alte Elbtunnel sei der erste. Dabei wurde der erst 1911 eröffnet. Erst 2021, zum 110. Jahrestag der Einweihung, feierte der Norddeutsche Rundfunk diese falsche Behauptung wieder prominent in der Aufmachung einer Reportage. Dabei können die Berliner obendrein sagen: Unserer ist länger. Mit 5 4 Metern um immerhin 28 Meter.
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