Bundestagswahl 2013

Mit Charme und Schläue tritt Özcan Mutlu in Mitte an

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Hajo Schumacher

Foto: Reto Klar

Der Berliner Abgeordnete Özcan Mutlu will ein grünes Direktmandat für den Bundestag erobern. Die Chancen stehen gut, dank eines generalstabsmäßig organisierten Wahlkampfes in Mitte und viel Sport.

Özcan Mutlu ist nicht gerade eine Sportskanone. Aber das war der frühe Joschka Fischer auch nicht. Ungeduldig hüpft der Kandidat, stretcht hier, klatscht da, treibt Mitläufer zum Laufen und Plaudern an der Spree entlang, dann Unter den Linden bis zum Brandenburger Tor und rechts zum Reichstag. Wie praktisch: Der künftige Arbeitsplatz liegt im Wahlkreis.

Özcan Mutlu will direkt gewählt werden und es dem grünen Lebendfossil Christian Ströbele gleichtun, der bei den Kreuzbergern traditionell gewinnt. Zwei Grüne, der eine Hintergrundmigrant, der andere Hartlinker, und beide per Direktmandat ins Parlament – dit is Berlin.

Leidet Mutlu an Größenwahn? Kaum. 2009 betrug der Rückstand des grünen Kandidaten Wolfgang Wieland auf die SPD-Frau Eva Högl nur 4,5 Prozentpunkte, exakt die Laufstrecke in Kilometern zufällig. „Dieses Mal ist es soweit“, murmelt Mutlu, der vor vier Jahren als Vierter auf der Landesliste knapp scheiterte.

Bildung, Alter, Weltsicht – überall Gefälle in Berlin-Mitte

Der Grüne macht wohl den professionellsten Wahlkampf der Stadt. 50 Mitarbeiter schwärmen täglich aus, der Wahlkreis ist in sechs Einsatzgebiete aufgeteilt, je nach soziokultureller Schichtung. Manche Gegenden sind rentnerdominiert, anderswo lebt der alte Osten neben dem alten Westen weiter. Es gibt die einfachen Weddinger Ecken und die edlen Quartiere im Zentrum.

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Bildung, Alter, Weltsicht – überall Gefälle. „Nirgendwo sind die Unterschiede so groß wie hier“, weiß Özcan Mutlu, „nirgendwo in Berlin, nirgendwo in Deutschland.“ Mehr als 40.000 Migranten leben in Mitte, die innerdeutschen nicht mitgerechnet.

Bis hinein in jedes Wahllokal ist das Ankreuzverhalten analysiert, und jedes Bedürfnis bekommt einen anderen Mutlu: den Koch, den Kinderknutscher, den Podiumskämpfer, den Jogger, den Lauten, den Leisen, den Türken, den Öko, den Bildungsexperten und Mieten-Kritiker. Hier eine Sonnenblume, dort ein Transportfahrrad und stets der Hinweis, dass Mutlu „Glück“ bedeute.

Mit Omis zu deutschen Schlagern tanzen

Selbst beim Laufen schüttelt er Hände; Mutlu kann ausblenden, dass Wahlkampf den nicht immer widerspruchsfreien Irrsinn zwischen Politikverdrossenheit und Unterhaltungsbedarf bedeutet.

Der Kreuzberger, der bei Ströbele Wahlkampf gelernt hat, beherrscht jene bizarre Mischung aus Faxen und Fakten, die das Publikum nicht verschreckt. Mutlu kapiert die merkwürdig heterogenen Befindlichkeiten zwischen Späti und „Borchardt“, zwischen Ost-Platte und 250 Quadratmeter Edelaltbau.

Mit Omis tanzt er beinhart zu deutschen Schlagern, die Kitas müssen natürlich besser werden, tja, und die Wärmedämmung natürlich. Vegetarisch? Machen wir gleich. Erst ein Laufpäuschen, auf die anderen warten. Kann ja nicht jeder so fix unterwegs sein wie der Kandidat.

Özcan Mutlu erinnert an Norbert Blüm

Von allen politischen Wundertüten dieses Wahlkampfes präsentiert Mutlu die prallste. Er hat ja auch lange genug geübt: 40 Jahre Berlin, Studium zum Diplomingenieur mit sechs Jahren richtiger Arbeit, 20 Jahre Kommunalpolitik, seit über zehn Jahren im Abgeordnetenhaus.

Vom Thema Migration, das in jeder Partei als Karriereturbo funktioniert, hat er sich vorsichtig verabschiedet. Mutlus Strategie: Ur-Grüne mobilisieren, Bildungsbürger rüberholen, die Migranten kommen sowieso. „Nicht mal ein Flyer auf Türkisch“, sagt er. Mutlu ist nicht deutsch, nicht türkisch, nicht deutsch-türkisch – er ist Berlin. Basta.

Ältere Menschen mögen sich bei Mutlu an Norbert Blüm erinnert fühlen, den Gefühlsdarsteller aus Helmut Kohls Kabinett, kein Riese, vorwiegend knuffig, volksnah, aber mit ausgeprägtem Machtinstinkt. Charme und Schläue – das mag der Berliner, selbst wenn er noch gar nicht so lange in der Hauptstadt wohnt.

In Mitte ist man irgendwie links, öko, zugezogen

Der Bezirk Mitte liegt um das Zentrum der Macht herum, doch Mutlus Wahlkreis ist der herrschenden Koalition fern. Liberale und Union sind marginalisiert. In Mitte ist man irgendwie links, irgendwie öko, irgendwie zugezogen, entgegen der bundesweiten Wahrnehmung allerdings nicht automatisch Zahnarztspross.

Weil Mutlu seit Jahren tapfer das harte Thema Bildung beackert, ist er dennoch besser verdienenden Helikopter-Eltern ein Begriff. Kaum zu glauben, aber auf seiner kleinen Laufrunde wird Mutlu von einem Taxifahrer freundlich angehupt, ein paar Passanten winken, und ein potenzieller Wähler will rasch ein Foto. In Zeiten allgemeiner Politikerskepsis muss der Volksvertreter schon froh sein, wenn er nicht angepöbelt wird.

Sein Häuserkampf scheint sich auszuzahlen. „Mutlu walkt and talkt“, lädt Bürger ein, den Kandidaten in den hintersten Ecken des Kiezes auf Missstände aufmerksam zu machen. Im Kleinen Tiergarten wiesen Bürger auf sinnlose Betonklötze hin, für die wiederum Bäume gefällt wurden. Ob Mutlu dieses Thema zum Gegenstand einer Kleinen Anfrage im Bundestag macht? Kommunale Themen, die im Bund nichts verloren haben, treiben die Leute mehr um als NSA oder Finanztransaktionssteuer.

Künasts Vorschlag eines Veggie-Day polarisiert

Egal. Immer weiter, ganz gleich, womit. Bei „Mutlu kocht“ können Wähler den Politiker nach Hause einladen, wo er ein Menü zaubert. Zumindest der Nachtisch soll genießbar sein, heißt es. Unlängst kochte Mutlu in einer WG, wo 15 Studenten zunächst verhalten, dann deutlich offener redeten, als es um den Veggie-Day ging, jenes Tischfeuerwerk, das Renate Künast ins Sommerloch gefeuert hatte.

Während Reflex-Empörer mit dem Gemüsezwang die Fortsetzung der DDR-Diktatur gekommen sahen, erfuhr Mutlu einmal mehr, dass Vegetarismus nicht nur ein Projekt schlechtlauniger Singlefrauen ist, sondern eine Art Religionsersatz, der nicht nur im grünen Kulturkreis gewaltigen Zuspruch findet.

Wie weit die Debatte vorgedrungen ist, hat Mutlu in der eigenen Familie erfahren: „Wo ist das Essen?“, fragte sein Vater neulich. Eine Mahlzeit ohne Fleisch betrachtet Mutlu senior bestenfalls als Vorspeise. „Renate Künast hat gesagt …“, entgegnete Mutter Mutlu, und den beiden Männern war klar, dass jetzt etwas Strenges folgen würde.

Mutlu hat die Berliner Stadtpolitik eigentlich satt

Während Sohn Özcan still in sich hineingrinste, wurde über fleischfreies Leben debattiert, über Gesundheit und Welternährung. Dass die Luxusdebatte seiner Parteifreunde eines Tages bis an den Mittagstisch seiner Eltern reichen würde, hätte sich das Einwandererkind nie träumen lassen.

Weder Jürgen Trittin mit seinen Steuererhöhungen noch Menschenrechte scheinen die Menschen derart zu bewegen. Allenfalls die Päderastiedebatte hat derzeit Wucht. Aber wie soll, wie kann Mutlu jene frühen Grünen erklären, die Sex mit Kindern als liberale Errungenschaft propagierten?

Obgleich Mutlu seine Rolle als Abgeordneter zum Anfassen genießt, hat er die Berliner Stadtpolitik eigentlich satt. „Die vergangenen zwei Jahre waren die schlimmsten“, sagt er resigniert. Die große Koalition habe sich in einem geschäftigen Klima des Nichtstuns eingerichtet, von seiner Lieblingsfeindin, der Bildungssenatorin Scheeres, fühlt er sich unterfordert.

Mit voller Kraft voraus in den Bundestag

Mit deren Vorgänger Zöllner konnte er sich noch einen fröhlichen Schlagabtausch liefern, jetzt trifft er nur noch Watte. „Entweder ganz raus aus der Politik und noch mal was ganz anderes“, das war eine Option für ihn. Oder aber mit voller Kraft voraus in den Bundestag. Mutlu geht es wie Hertha: Zweite Liga muss irgendwann einfach mal vorbei sein.

Mutlu trabt über die kleine Brücke zwischen den Parlamentsgebäuden. „Da unten ist die Kantine“, ruft er fröhlich. Die wichtigsten Orte kennt er schon. Ein kleines Problem könnte allerdings auf ihn warten: Ausgerechnet die träge große Koalition, die er loszuwerden hofft, die könnte ihm im Bundestag gleich wieder drohen. „Macht nichts“, sagt Mutlu, „immerhin neue Gesichter. Und Opposition kann ich ja.“