Berlin muss noch mindestens 1000 Flüchtlinge aufnehmen, doch die vorhandenen Flüchtlingsheime sind schon überbelegt.
In Hellersdorf wehren sich einige Anwohner gegen das neue Heim für Asylbewerber an der Carola-Neher-Straße, auch die NPD demonstrierte am vergangenen Wochenende erneut dagegen.
In Kreuzberg campieren Asylbewerber seit Monaten auf dem Oranienplatz, die neue Bezirksbürgermeisterin Monika Hermann (Grüne) lehnt eine Räumung des Camps ab – und erntet dafür heftige Kritik von Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU).
Was läuft beim Umgang mit den Asylbewerbern in Berlin schief, was muss geändert werden? Mit der Spitzenkandidatin der Berliner Grünen bei der bevorstehenden Bundestagswahl, Renate Künast, sprach Christine Richter.
Berliner Morgenpost: Frau Künast, geht der Senat richtig mit den Flüchtlingen in Berlin um?
Renate Künast: Nein. Berlin und die Bezirke sind sehr schlecht vorbereitet auf die Aufnahme von Flüchtlingen. Das Konzept, die Asylbewerber in großen Heimen unterzubringen, ist falsch. Auch die Anwohner von diesen Heimen werden nicht auf die Flüchtlinge vorbereitet. Und es gibt kein Sicherheitskonzept.
Berliner Morgenpost: Was würden Sie anders machen?
Renate Künast: Es geht doch um die Würde der Menschen, die in unser Land geflohen sind. Es geht um den Respekt ihnen gegenüber. Der Senat sollte die Flüchtlinge besser auf die Stadt verteilen. Und für die Unterbringung in Wohnungen muss es endlich Planungen geben. Außerdem müssen das Asylbewerberleistungsgesetz und die Residenzpflicht abgeschafft werden, damit die Flüchtlinge sich in Deutschland frei bewegen können, damit sie arbeiten gehen können.
Berliner Morgenpost: Schon jetzt gibt es in Berlin zu wenige Wohnungen in der Innenstadt, vor allem kleine Wohnungen fehlen zunehmend. Wie soll da Platz für Asylbewerber sein?
Renate Künast: Berlin als Ganzes betrachtet hat noch leer stehende Wohnungen. Einzelne Bezirke dürfen damit aber nicht alleine gelassen werden. Berlin insgesamt muss diese Aufgabe bewältigen. Ich fordere den Senat auf, endlich aktiv zu werden. Und als erstes die Unterbringung in kleineren Heimen zu organisieren. Aber Sie haben Recht: Der Senat hat es in den vergangenen Jahren versäumt, neue Wohnungen zu bauen. Es wird höchste Zeit – unabhängig von der Flüchtlingsfrage.
Berliner Morgenpost: Am vergangenen Wochenende hat die NPD erneut gegen das Flüchtlingsheim in Hellersdorf demonstriert. Sie waren auch unter den Gegendemonstranten. Sehen wir Sie jetzt jede Woche bei einer Gegendemonstration?
Renate Künast: Die Gegendemonstrationen sind wichtig, denn wir müssen der NPD und anderen rechten Gruppen zeigen, dass wir an der Seite der Flüchtlinge stehen. Ein Stadtteil darf nicht in die Hände der NPD fallen. Wir müssen Gesicht zeigen. Ich wollte ganz bewusst ein Zeichen setzen. Aber ich werde wohl nicht bei jeder Demonstration dabei sein können.
Berliner Morgenpost: Aber müssen sich die Hellersdorfer jetzt darauf einstellen: jede Woche ein NPD-Aufmarsch und entsprechend eine Gegendemonstration?
Renate Künast: Ich bin überzeugt, dass der NPD die Luft ausgehen wird. Wir sind mehr – und wir werden den Rechten nicht den öffentlichen Raum überlassen.
Berliner Morgenpost: Hat es Sie eigentlich verblüfft, dass nach den Vorfällen in Rostock-Lichtenhagen im August 1992, nach der Debatte um das NSU-Terrortrio wieder solche öffentlichen Proteste gegen Asylbewerber in Deutschland möglich sind?
Renate Künast: Studien zeigen, dass es in der deutschen Gesellschaft einen Anteil von rund zehn Prozent mit sogar teils sehr rechtsextremen Auffassungen gibt. Es gibt einen solchen Nährboden für die NPD und andere rechte Gruppen. Wir müssen uns mit dieser Gefahr auseinandersetzen. Aber das heißt auch, dass wir mehr in Jugendarbeit, in Prävention investieren müssen. Das ist nicht trivial.
Berliner Morgenpost: Probleme gibt es nicht nur in Hellersdorf, sondern auch in Kreuzberg. Seit Monaten campen dort Flüchtlinge auf dem Oranienplatz. Die Bezirksbürgermeister von den Grünen – erst Franz Schulz, jetzt Monika Herrmann – dulden das Camp. Das ist eine Belastung für die Anwohner, aber auch für die Flüchtlinge selbst. Was tun?
Renate Künast: Hier ist die Bundesregierung gefragt. Man kann das Problem nicht mit der Polizei lösen. Ich verstehe nicht, warum die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer, nicht zum Runden Tisch, zu dem der Bezirksbürgermeister eingeladen hat, gekommen ist.
Berliner Morgenpost: Was kann Frau Böhmer denn ausrichten? Der Bezirk, das Land Berlin ist doch verantwortlich.
Renate Künast: Nein. Hier ist der Bund gefragt. Er kann das Problem nicht auf den Bezirk abwälzen. Man darf die Menschen doch jetzt nicht alleine lassen, sondern muss sich jeden einzelnen Fall anschauen und dann für jeden einzelnen Flüchtling eine Lösung finden. Manch einer wird in ein anderes Bundesland gehen wollen, manch einer wird hier bleiben wollen. Es ist doch fatal, jetzt auf den Winter zu warten und zu hoffen, dass sich der Konflikt dann irgendwie auflöst.
Berliner Morgenpost: Die Flüchtlinge, aber auch die Grünen fordern die Abschaffung der Residenzpflicht. Für Berlin könnte das fatale Folgen haben, denn die Erfahrung zeigt, dass die Flüchtlinge in die Metropolen – also nach Berlin, Hamburg, Frankfurt – wollen...
Renate Künast: Es geht doch um hochtraumatisierte Menschen, die nach Deutschland kommen. Wenn sie Kontakte zu anderen Menschen in anderen Bundesländern haben, dann wollen sie dorthin. Diese besuchen, dort bleiben. Wir dürfen den Flüchtlingen doch nicht den Kontakt verweigern.
Berliner Morgenpost: Aber Berlin würde doch viele Hundert Flüchtlinge mehr aufnehmen müssen, es kommen doch nicht nur Menschen aus Syrien oder dem Irak nach Deutschland, auch immer mehr Tschetschenen ...
Renate Künast: Ich bezweifele, dass die Menschen alle nach Berlin kommen wollen.
Berliner Morgenpost: Wenn Rot-Grün die Bundestagswahl gewinnt, dann ändern Sie das Asylbewerberleistungsgesetz? Und heben die Residenzpflicht auf?
Renate Künast: Ja.
Berliner Morgenpost: In Syrien spitzt sich die Lage dramatisch zu. Muss Deutschland noch mehr syrische Flüchtlinge aufnehmen?
Renate Künast: Deutschland kann und muss deutlich mehr Menschen aus Syrien aufnehmen. Dazu sind wir in dieser humanitären Katastrophe als wohlhabendes Land verpflichtet. Ich wäre ja schon froh, wenn endlich wenigstens die 5000 Syrer, deren Aufnahme die Bundesregierung vor langer Zeit zugesagt hat, hier in Deutschland wären. Bundesinnenminister Friedrich redet immer nur davon, praktisch errichtet er Hürde um Hürde. Sehen Sie: Eine Million Kinder sind in Syrien auf der Flucht, die meisten von ihnen sind unter elf Jahre alt. Wir müssen helfen. Und wir können es.