Konfrontativ könnte man das kuratorische Konzept nennen, mit dem die neuen Leiterinnen des Theatertreffens gestartet sind. Zur 60. Ausgabe des traditionsreichen Festivals rahmten sie mit „10 Treffen“ als Kontra(st) die zehn bemerkenswerten Inszenierungen, die alljährlich von einer Kritiker-Jury ausgewählt werden. Hier Kunst als Kern, dort Politik als Programm: Bildete die 10er-Auswahl die Breite zeitgenössischen Sprechtheaters ab, den state of the art aus Basel, Berlin, Bochum, Dessau, München, Wien, waren zu den „Treffen“ Gastspiele osteuropäischer Künstlerinnen und Künstler geladen, die den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine anprangern.
Verzweifelt ihre Frage: Ist es statthaft, Kunst zu machen, während unsere Kollegen an der Front sterben? Bei der Auftakt-Pressekonferenz, kurz nach den verstärkten russischen Angriffen vom 9. Mai, deutete die ukrainische Co-Leiterin des Theatertreffens, Olena Apchel, gegenüber dem geladenen Gast Andriy May an, dass sie schlechte Nachrichten für ihn habe – hier ragte die Zeitgeschichte bizarr in die Veranstaltung hinein, ohne mit ihr in Verbindung oder explizit gegen sie in Stellung gebracht zu werden. Der Eindruck verfestigte sich in den folgenden drei Wochen: Das verstörende Nebeneinander von in sicheren Räumen entstandener Hochkultur und prekär finanzierten Exil-Arbeiten, die in Bunkern oder temporären Aufenthalten entstanden sind, wurde nur ausgespielt, nicht adressiert – und so bleibt Ohnmacht angesichts der obszönen Unverbundenheit.
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Möglich, aber persönlich radikal ist der Weg aus der Handlungsstarre, den die polnische Regisseurin und Aktivistin Magda Szpecht in ihrer Lecture „Cyber Elf“ weist: Als Hackerin geht sie im Internet gegen russische Propaganda und Fake News vor. Sie gleicht Social Media-Posts über Open Source-Quellen investigativ mit dem Kriegsverlauf ab und identifiziert alten Content, der zu neuen Hassbotschaften montiert wird. Szpecht hat dem Theater dafür vorerst den Rücken gekehrt – und verbringt ihr Leben vor dem Bildschirm.
Ihre mönchische Existenz prallte produktiv auf das schwarzhumorige „Bunker Cabaret“ der exilierten Hooligan Art Community, die in kleinen Szenen vom Krieg und seinen Folgen berichtete. Wird hier eine russische Neubewohnerin des Donbas veralbert als eine nur vermeintlich Nichtwissende, aber Mitschuldige an Putins Aggression, gerät in Andriy Mays „Putinprozess“ das Verhältnis von politischer Botschaft und ästhetischen Mitteln aus den Fugen: Hier vögelt ein Darsteller seiner kreischenden Kollegin Tschechows „Möwe“ aka die russische Besatzerkultur aus dem Leib. Diese Form nationaler Selbstbehauptung, die Kunst gebraucht, um die eigene Position zu bekräftigen, ist angesichts drohender Vernichtung vielleicht verständlich. Und doch möchte man die Forderung nach einer pauschalen Aussetzung russischer Kultur nicht unkommentiert von einem staatlich geförderten Festival unterstützt sehen.
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Insofern gut, dass die Jury eine Gorki-Inszenierung als eine von zehn bemerkenswerten Saison-Produktionen eingeladen hatte. In „Kinder der Sonne“ erzählt die slowenische Regisseurin Mateja Koležnik gemeinsam mit dem Bochumer Ensemble in psychologisch fein abgestimmter, tonal heruntergedimmter Manier vom Haushalt eines Chemikers, in dem alle nurmehr um ihre eigenen Befindlichkeiten kreisen – und erst spät mitbekommen, dass sich draußen, in Zeiten der Cholera, ein Aufstand gegen die herrschende Klasse formt. Am Schluss brennen hinter den Salonfenstern die Fackeln und die Inszenierung hält uns den Spiegel vor.
Theatertreffen: Eine Sprechoper zu Freiheit und Egoismus am Deutschen Theater
Welthaltig sind etliche der zehn Inszenierungen: „Das Vermächtnis“ vom Residenztheater München folgt über fünfeinhalb Stunden empathisch den Leben einer Gruppe homosexueller Männer – angesichts von schwulen- und transfeindlichen Übergriffen und Gesetzgebungen ein Statement. Sebastian Hartmann und PC Nackt haben am Deutschen Theater mit „Der Einzige und sein Eigentum“ eine Sprechoper zu Freiheit und Egoismus entwickelt, anhand obskurer, wieder zu entdeckender Texte von Max Stirner. Und in der zweiten eingeladenen Bochumer Inszenierung, „Der Bus nach Dachau“, denkt die niederländische Theatertruppe De Warme Winkel darüber nach, wie man nach dem Tod der letzten Zeitzeugen die Juden-Vernichtung in Erinnerung halten kann. Über Filme wie „Schindlers Liste“ wird debattiert, aber auch – ein höchst umstrittenes Stilmittel – KZ-Szenen in Häftlingskleidung nachgespielt. Drastisch berührend ein „Scheiße“-Monolog, den Vincent Rietveld mit unbeteiligter Stimme spricht, welcher allein durch seine Dauer deutlich macht, wie sehr die Inhaftierten auf ihre grundlegendsten Körperfunktionen, das Minimum des Überlebens, reduziert wurden.
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Als eine Ode an das Leben und die Emanzipation erscheint dagegen das zweite Berliner Theatertreffen-Gastspiel: In „Ophelia’s Got Talent“, dem Volksbühnen-Hit der Choreographin Florentina Holzinger, feiert eine Truppe nackter Frauen ihre Verbundenheit mit dem Wasser, bringt Stunts und Attraktionen auf die Bühne und stellt ein sehr zeitgemäß vom männlichen Blick befreietes Tanztheater vor. Ähnlich üppige Theatermittel bietet der Basler „Sommernachtstraum“ von Antú Romero Nunes auf: Eine Gruppe Lehrer nähert sich scheu dem Shakespeare-Stück, erliegt dann aber dem Zauber des Waldes und seiner Figuren. Ein Fest für die Schauspielerinnen.
Daneben gab es, mit dem Dessauer „Hamlet“ oder „Die Eingeborenen von Maria Blut“ und „Zwiegespräch“ vom Wiener Burgtheater, starke konzeptionelle Setzungen, mit denen – wie üblich – nicht alle einverstanden waren. Dissens gehört zum Theatertreffen. Ein Wunsch fürs nächste Jahr: weniger Konfrontation und mehr offen ausgetragene, anschlussfähige Kontroverse.