Selten ist eine Vorstellung des Theatertreffen-Programms mit so viel Spannung erwartet worden wie diese – und das nicht nur, weil das traditionsreiche Festival in diesem Jahr seine 60. Ausgabe präsentieren wird. Matthias Pees, seit September 2022 Intendant der Berliner Festspiele, hatte in der Nachfolge von Yvonne Büdenhölzer ein vierköpfiges, vollständig weibliches und internationales Leitungsteam berufen und öffentlich darüber nachgedacht, wie man das Treffen auch für nichtdeutschsprachige Länder öffnen könnte. Die Folge war eine von vielen Missverständnissen durchwucherte Diskussion darüber, ob die Unabhängigkeit der Jury in Gefahr geraten könne, die alljährlich die zehn bemerkenswerten Inszenierungen aus dem deutschsprachigen Raum auswählt. Im Oktober gaben die Festspiele zudem bekannt, den Stückemarkt als bislang festen Bestandteil des Theatertreffens nicht fortzusetzen.
Im neuen Modell werden nun den zehn nach Berlin eingeladenen Inszenierungen zehn sogenannte Treffen, sprich Veranstaltungsformate gegenübergestellt, in denen sich der erstrebte internationale Akzent bemerkbar machen soll. Dabei wird es nicht nur um das aktuelle Festival, sondern auch um die Reflexion aktueller gesellschaftlich-politischer Großthemen gehen – der Krieg in der Ukraine wird ebenso eine Rolle spielen wie verschiedene Facetten des Feminismus, Diversität und Nachhaltigkeit. Die Stipendiatinnen und Stipendiaten des Internationalen Forums sind in den Treffen präsent, der Blog des Theatertreffens wird das Festival wie in den vergangenen Ausgaben kritisch begleiten.
Man kann gefahrlos vorhersagen, dass die zehn eingeladenen Inszenierungen den größten Publikumszuspruch und auch die stärkste Medienresonanz erfahren werden. Die Jury sichtete im Vorfeld 461 Stücke in 58 Städten und einigte sich, mit Ausnahme des Anhaltinischen Theaters Dessau, auf Inszenierungen an den beim Theatertreffen regelmäßig gastierenden Bühnen in Berlin, Bochum, München, Wien, Basel und München. Der selbstauferlegten Quotierung gemäß, die auch im kommenden Jahr zur Anwendung kommen soll, handelt es sich dabei zu 50 Prozent um Stücke mit Frauen auf der Regieposition.
1. Die Eingeborenen von Maria Blut. Burgtheater Wien, Regie: Lucia Bihler. Die Bühnenfassung des Romans der österreichischen Schriftstellerin Maria Lazar (1895-1948), erschienen 1937 im dänischen Exil. In die katholische Provinz schleicht sich der Antisemitismus ein.
2. Ein Sommernachtstraum. Theater Basel. Regie: Antú Romero Nunes. Nunes lässt ein Lehrerkollegium auftreten, das Shakespeares Lustspiel inszeniert. „Ein großer Spaß“, urteilt die Jury.
3. Der Bus nach Dachau. Ein 21st Century Erinnerungsstück. Schauspielhaus Bochum. Regie: Vincent Rietveld, Ward Weemhoff (De Warme Winkel). Rietveld und Weemhoff fragen innovativ nach den heutigen Möglichkeiten der Erinnerung an den Holocaust.
4. Nora. Ein Thriller von Sivan Ben Yishai, Henrik Ibsen, Gerhild Steinbuch und Ivna Žic. Münchner Kammerspiele, Regie: Felicitas Bruckner. Eine Bankdirektorinnengattin bricht aus den Zumutungen der Erwartungen aus, die an sie herangetragen werden. Ibsens Original mit zeitgenössischen Ergänzungstexten.
5. Ophelia’s Got Talent.Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin. Regie: Florentina Holzinger. Apnoetauchen und Massenmasturbation auf einem schwebenden Helikopter: Holzingers gefeiertes Entgrenzungs- und Befreiungstheater reibt sich an Shakespeares Ophelia.
6. Zwiegespräch. Burgtheater Wien. Regie: Rieke Süßkow. In Peter Handkes im vergangenen Jahr erschienenen Ausgangstext setzen sich zwei Sprecher Erinnerungsfragmente entgegen, das Erzählen selbst wird so zum Thema. Rieke Süßkow verlegt ihn in ein Altenheim und speist über das Pflegepersonal auch den Generationenkonflikt mit ein.
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7. Der Einzige und sein Eigentum. Deutsches Theater Berlin, Regie: Sebastian Hartmann. Zusammen mit dem Komponisten PC Nackt macht Hartmann aus Max Stirners Schrift eine bilderreiche, wilder und anarchische Musikrevue.
8. Kinder der Sonne. Schauspielhaus Bochum, Regie: Mateja Koležnik. In historisch akkurater Kulisse macht die Regisseurin aus Gorkis Stück über den Choleraaufstand 1892 an der unteren Wolga nach Ansicht der Jury einen Abend, der mit seinen Figuren „ganz nah an uns und unsere von Krisen geplagte Wirklichkeit“ heranrückt.
9. Das Vermächtnis. Regie und Bühne Philipp Stölzl, Residenztheater München, Ein zweiteiliges Bühnenepos aus der Feder von Matthew Lopez, das bis in die Trump-Ära reicht. Mit sieben Stunden in rekordverdächtiger Länge.
10. Hamlet. Anhaltisches Theater Dessau, Regie: Philipp Preuss. Shakespeares Drama in einer von Zombies bevölkerten Alptraumkulisse mit einem „atemberaubenden Bühnenbild“, wie die Jury schreibt.
Theatertreffen, 12.-28. Mail. Tickets ab 28. April, 14 Uhr.