Serie Berlin 2021

„Eine belebte Stadt muss Freiraum für Kunst bieten“

| Lesedauer: 11 Minuten
Martin Rennert

UdK-Präsident Martin Rennert wünscht sich mehr Anerkennung für die Bedeutung der Kultur. Der zwölfte Teil unserer Serie.

In Berlin laufen Koalitionsverhandlungen. Die Stadt steht vor großen Herausforderungen. Was muss sich ändern? Experten stellen in der Berliner Morgenpost ihre Konzepte für Berlin 2021 vor: von der Verwaltung über die innere Sicherheit, die Wirtschaft bis zur Bildung.

Um die vielfältige kulturelle Landschaft in Berlin zu erhalten, ist es wichtig, die gegenwärtige, immer noch verhältnismäßig günstige Situation zu stabilisieren. Es findet derzeit eine ungebremste Entwicklung der Stadt statt, die zu einer Prekarisierung auch der Kultur führt. Damit will ich nicht sagen, dass die Kultur als solche bedroht ist, sondern die Umstände, unter denen Künstler hier wirken können.

Sobald nachwachsende Künstler aber hier nicht mehr tätig werden können, ist der Kulturstandort Berlin relativiert, ich will nicht sagen gefährdet. Die Opernstiftung wird zu Recht weiter finanziert, auch die großen Museen und Theater werden nicht zugemacht. Aber die Stadt lebt von vielen Dingen, von einem Fluidum, von einem Geist, der hier herrscht. Und dafür braucht es auch in der Kunst und Kultur Menschen, die hierher kommen und etwas erreichen wollen. Das dies möglich ist, ist einer der Gründe, warum Berlin im internationalen Vergleich so erfolgreich ist. Wenn wir aber zusehen, wie die Stadt immer schwieriger wird für Menschen, die weniger Geld haben, dann haben wir nicht nur für die Kunst, aber auch für sie etwas falsch gemacht.

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Gentrifizierte Kieze, wie ich sie aus New York oder London kenne, haben eines gemeinsam: Sie sind attraktiv, weil sie lebendig sind – und sobald sie attraktiv sind, sterben sie, weil sie mehr oder weniger gleichgeschaltete Orte für Besserverdienende sind.

Eine belebte Stadt muss Anregung und Freiraum für Kunst bieten. Menschen müssen sich bewusst sein, dass Kunst und Kultur Teile ihres täglichen Lebens sind. Das kann auf vielen Ebenen ermöglicht werden. Man kann Investoren vorgeben, Wohnungen für Menschen mit Wohnraumberechtigungsschein anzubieten, wofür ich sehr bin, damit die soziale Mischung in der Stadt erhalten bleibt. Aber das gleiche kann auch für Ateliers, für Galerieräume gelten, für Säle, in denen Theater gespielt wird, Konzerte gegeben werden, Bands proben. Junge Kunst sollte man überall spüren können, es wäre doch schade, wenn man zum Beispiel durch die halbe Stadt ginge und gar nicht spürte, wie wir mit, aber auch von der kulturellen Vitalität leben.

Dieses Umfeld ist es, was unser Selbstwertgefühl stärkt und bereichert. Das ist, wovon man begeistert erzählt, wenn man aus anderen Orten zurückkommt, und von dem andere erzählen, wenn sie in Berlin waren: dass man durch die Stadt geht und feststellt, dass eine gemischte Bevölkerung mit verschiedensten Aktivitäten vorhanden ist, die sich kulturell äußert, gegenseitig erlebt und friedlich zu verstehen versucht.

Solche Vielfalt lässt sich nicht planen, aber es gibt Faktoren, die so etwas möglich oder unmöglich machen, zum Beispiel durch steigende Mietpreise. Da kann Politik eine gewisse Gegenmacht darstellen. Sie versucht es auch: in Berlin hat der Kulturstaatssekretär Tim Renner vieles geleistet. Seine Anerkennung in der Stadt ist gewachsen.

Ich wünsche mir aber, dass die Rolle des Kulturressorts für das vielfältige Zusammenleben in der Stadt künftig deutlicher anerkannt wird und nicht als Zugabe erscheint. Wir haben uns nämlich daran gewöhnt – wenn auch inzwischen mit ein wenig Kopfweh – zu meinen, in der Welt gebe es etwas realitätsnahes, nützliches und wichtiges, andere Inhalte seien aber eher als Beilage zu betrachten. Das Reale bestünde darin, mit China oder mit einem anderen deutschen Bundesland auf ökonomischer Basis konkurrieren zu können, oft verzichtbare Beilage wären die Künste, die Literatur, die klassische Bildung.

Die Universität der Künste, die ich jetzt schon lange leite, hat sich zur Aufgabe gemacht, nicht eine Nische zu besetzen und zu verteidigen, sondern für viele – Studierende und Publikum, das zu Zehntausenden unsere Veranstaltungen besucht, eine Gegenwelt zu eröffnen und zu erklären. Wir sind nicht für das Gute und Schöne da, während alle anderen das machen, was uns ökonomisch wichtig ist. Das ist Quatsch. Wir sind ein Ort, an dem man jene Fragen stellt, die für die Zukunft entscheidend sein werden – übrigens auch ökonomischer Art.

Es geht um die Gestaltung von Lebensräumen

Vor allem geht es in allen künstlerischen Unternehmungen um die umfassende Gestaltung von Lebensräumen, unserer Gemeinwesen, der Stadt. Fühlt man sich darin wohl, sind wir in einem menschlichen Maß unterwegs? Welche Baustoffe können benutzt werden, damit Heimat entsteht, dass die Stadt Menschen aufnimmt und nicht ausstößt? Alle diese Dinge sind für unser Leben, so wie nicht nur Künstler es verstehen, entscheidend.

Ein weiteres Beispiel für die Vielfalt in der Stadt betrifft die Gewerbemieten, die mit Kultur scheinbar wenig zu tun haben. In Deutschland, England und den Vereinigten Staaten von Amerika, wo sie wenig kleinteiliges, aber viele Einkaufsketten in den Städten finden, ist die Gewerbemieten-Situation akulturell. Gewerbemietverträge laufen hier zu kurz, zwei Jahre, manchmal auch fünf. Das führt zu einer hohen Fluktuation der Geschäfte, die die Identität von Orten zerstören kann und wenig Risiko zulässt. In Frankreich ist das anders. Da werden langfristige Mietverträge von zehn bis 20 Jahren abgeschlossen. Das macht die Geschäfte unabhängig von Konjunkturzyklen und erhält die Vielfältigkeit einer Straße. Genau darin liegt ein Beispiel dafür, wie Politik auf das kulturelle Zusammenleben einwirken kann. Unser Lebensgefühl wird stark von solchen Umständen beeinflusst. Stadtentwicklung ist eben immer auch kulturelle Entwicklung.

Eine weitere Voraussetzung dafür, die Stadt zu stärken und kulturelle Vielfalt zu erhalten, ist Bildung. Vieles läuft gut, aber oft haben wir den Blick auf Breite und Nachhaltigkeit in dem Moment aufgegeben, als wir beschlossen haben, dass Schule vor allem nützlich sein müsse, direkt Verwertbares im Vordergrund stehen soll. Das entspricht einer ängstlichen Betrachtung der Welt, weil wir nicht darüber nachdenken, was unsere Stärken sein könnten. „Identität“ ist kein böses Wort, das wir anderen überlassen sollten, die damit vor allem Ausgrenzung verbinden wollen. Richtig ist vielmehr zu wissen, wo man herkommt und wie man sich in ein Verhältnis zu anderen setzen kann, dass man lernt zu denken. Und mittels Bildung sollten wir vor allem Menschen freie Denkräume eröffnen. Wenn wir uns etwa mit Asien in schulischen Leistungstests vergleichen, sollten wir vorher überlegen, ob unser Bild eines freiheitlichen Staates mit mündiger Bevölkerung dem dortigen gleicht, ob unser Bild von „Kindheit“ dem dortigen entspricht. Auch überlegenswert ist, ob nicht gerade gedanklicher Freiraum zusammen mit entsprechender Förderung die Grundlage vieler Erfolge sein könnte.

Viele Menschen kommen hierher, weil sie genau diese freie Art zu denken, dieses auf Werten, aber auch auf Liberalität gegründete, aus vielen unsäglichen Katastrophen hervorgegangene zivile Gemeinwesen als attraktiv empfinden. Wir sollten nicht vergessen, dass dies eine politische, vor allem auch eine kulturelle Errungenschaft ist, ein Ergebnis der Beschäftigung mit scheinbar nicht Nützlichem. Wir haben erlebt: Kultur und Bildung retten einen weder vor Katastrophen und inneren Idiotien noch vor den Abgründen der menschlichen Natur, aber sie geben jedem eine Chance, der an ihnen Anteil hat, sie erweitern jede Perspektive, sie fördern Selbsterkenntnis und Zweifel. Das sollte uns gerade heute wieder besonders wichtig bleiben.

Zur Person: Martin Rennert

Werdegang: Martin Rennert, 1954 in New York geboren, studierte Konzertgitarre und tritt seit dem Jahr 1972 als Solist und Kammermusiker auf. Außerdem war er als Herausgeber von Schallplatten und CDs aktiv und veröffentlichte Artikel zur Kulturpolitik.

Professur: Seit dem Jahr 1985 ist Rennert Professor für Gitarre an der Universität der Künste (UdK) in Berlin, an der rund 4000 Kunst- und Musikstudenten studieren. Seit dem Jahr 2006 amtiert er auch als der Präsident der Kunsthochschule.

Die Praktiker:

Regisseur Thomas Ostermeier: City Tax komplett für freie Szene verwenden

Thomas Ostermeier ist Theaterregisseur und künstlerischer Leiter der Schaubühne am Lehniner Platz. Den Kulturpolitikern der neuen Regierung empfiehlt er, nach den zuletzt umstrittenen Neubesetzungen wichtiger Leitungsposten, sich künftig besser beraten zu lassen, etwa durch mit Fachleuten besetzte Jurys. Auch „große Namen“ müssten ausführliche Bewerbungsunterlagen einreichen. Außerdem fordert er, die Einnahmen der City Tax in Gänze der freien Szene zukommen zu lassen. Atelierräume seien immer häufiger bedroht, Künstler dürften aber nicht an den Stadtrand gedrängt werden. Ostermeier: „Künstler müssen weiterhin die Möglichkeit haben, ihre Arbeit in geschützten Räumen zu entwickeln.

Kunstmäzen Peter Raue: Berlin braucht wieder ein eigenes Ressort für die Kultur

Peter Raue ist Anwalt und einer der wichtigsten Förderer der Berliner Kulturszene. Den Kulturpolitikern empfiehlt er, das Verhältnis zur freien Szene zu klären und dafür zu sorgen, dass Berlin auch für junge Künstler mit wenig Geld „erlebbar“ bleibe. Die Berliner Festspiele, die Volksbühne und das HAU dürften sich nicht Konkurrenz machen, sondern müssten Alleinstellungsmerkmale entwickeln. Schließlich warnt Raue davor, die Bereiche Kultur und Wissenschaft in einem gemeinsamen Ressort zu bündeln. Wenn die Kultur nicht mehr beim Regierenden Bürgermeister angesiedelt werde, müsse sie ein eigenes Ressort erhalten. „Alles andere wäre ein fauler Kompromiss“, sagt Raue.

Christophe Knoch: Honoraruntergrenze für Künstler der freien Szene

Christophe Knoch vertritt die „Koalition der Freien Szene aller Künste“. Die 40.000 bis 50.000 Kunst- und Kulturschaffenden, die dazu gehören, arbeiten nicht in staatlichen Einrichtungen, sondern „auf eigene Rechnung“. Die freie Szene erhalte nur fünf Prozent des Kulturetats, moniert Knoch. Die neue Koalition müsse daher eine Honoraruntergrenze von rund 2000 Euro brutto garantieren. Davon gingen Steuern und Versicherungsbeiträge ab. „Die Vergabe der Fördermittel ist außerdem völlig unsystematisch“, sagt Knoch. In der darstellenden Kunst gäbe es Projektförderung, in anderen Künsten nicht. Die Koalition müsse daher eine neue Fördersystematik entwickeln – aber nicht im Alleingang, sondern in verbindlichen Gesprächen mit der freien Szene.

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