100 Jahre Kriegsende

Wie der Erste Weltkrieg unsere Sprache veränderte

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Utta Raifer
Matthias Heine, Journalist und Buchautor

Matthias Heine, Journalist und Buchautor

Foto: David Heerde

Wenn Wörter verschwinden und neue Begriffe auftauchen: Matthias Heine hat untersucht, wie sich der Krieg auf die Sprache auswirkte.

Berlin. Deutscher Humor als Exportschlager? Ein geheimnisvolles Pidgindeutsch aus Neuguinea? Glanzvolles Berliner Nachtleben ausgerechnet im „Kaffee Vaterland“? Matthias Heine, Buchautor und Sprachkolumnist der „Welt“, taucht in seinem neuesten Buch „Letzter Schultag in Kaiser-Wilhelmsland“ in die sprachliche Welt des Ersten Weltkriegs ein und zeichnet nach, wie er sich auf Ansehen und Entwicklung unserer Sprache ausgewirkt hat. Wir trafen ihn in einem Café in der Wilhelmstraße, benannt nicht nach Kaiser Wilhelm II., sondern nach dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I., der von einer französischen Gouvernante erzogen wurde und zeitlebens ein schlechtes Deutsch sprach, das mit vielen französischen Fremdwörtern durchsetzt war.

Berliner Illustrirte Zeitung: Vor dem Ersten Weltkrieg war die deutsche Sprache eine expandierende, aufstrebende Sprache. Wie zeigte sich das?

Matthias Heine: Sie hat sich räumlich ausgebreitet. Erstens in den Kolonien, wo man Anfang des 20. Jahrhunderts angefangen hat, Deutsch in den Schulen zu unterrichten. Vorher hat man darauf nicht so viel Wert gelegt. Deutschland war ja erst seit relativ kurzer Zeit Kolonialmacht. Zweitens hat sich Deutsch in Osteuropa und Mitteleuropa ausgebreitet, zum Beispiel in den Teilen, die damals noch zu Deutschland gehörten, wie Westpreußen. In Ostpreußen sind ganze Bevölkerungsgruppen wie die Masuren zur deutschen Sprache übergetreten. Das waren ja Slawen, die sich immer mehr als Deutsche empfunden haben und dann angefangen haben, nur noch Deutsch zu sprechen. In Österreich-Ungarn war Deutsch die Sprache des Militärs und der Politik. Deshalb gibt es beispielsweise im Kroatischen noch immer viele Lehnwörter aus dieser Zeit.

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Deutsch war auch die Sprache der Wissenschaft?

Viele ausländische Studenten kamen nach Deutschland, um zu studieren, und haben dann vieles in ihre Länder zurückgetragen. Studiengänge wurden nach deutschem Vorbild reformiert. Das hat dazu beigetragen, dass Deutsch eine der führenden Sprachen der Wissenschaft war. Es ging im 19. Jahrhundert um die Frage, was an die Stelle des Lateinischen treten sollte. Zeitweise war Französisch die dominierende Sprache. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges waren Deutsch und Englisch im Vormarsch. Durch die großen wissenschaftlichen Leistungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Chemie, Biologie oder Philosophie war Deutsch die aufsteigende Wissenschaftssprache. Wenn Sie jemanden um 1900 gefragt hätten, was die führende Wissenschaftssprache im 21. Jahrhundert sein wird, hätte er auch auf Deutsch tippen können. Die Japaner zum Beispiel haben gezielt Leute nach Deutschland geschickt, damit sie hier studieren und sich die Institutionen anschauen und das dann nach Japan zurückbringen. Es gibt ein berühmtes Foto von japanischen Studenten und Wissenschaftlern, die an der Brücke am Lustgarten stehen. Das war eine Abordnung, die das deutsche akademische Milieu kennenlernen und adaptieren sollte. Jahrzehntelang war für japanische Mediziner Deutsch die wichtigste Fachsprache.

Und was passierte in den Kolonien?

Es ist schon sehr spannend zu sehen, was da war. Besonders im Südwestpazifik, in Neuguinea, der nordöstliche Teil hieß Kaiser-Wilhelms-Land, und Samoa. In den 1970er-Jahren entdeckte ein australischer Germanist zufällig eine bis dahin unbekannte Variante des Deutschen. Er gab Deutschunterricht, als ihm auffiel, dass eine Schülerin schon etwas Deutsch sprach, allerdings auf eine ungewöhnliche Art. Es kam heraus, dass ihre Familie aus Neuguinea eingewandert war und diese Sprache, sie nannten es „Unserdeutsch“, als Familiensprache pflegte, weil es Teil ihrer Identität war. Nachforschungen ergaben, dass der Ursprung eine Missionsschule für Mixed-Race-Kinder in Rabaul war, damals Hauptstadt von Kaiser-Wilhelms-Land. Die Kinder hatten sie entwickelt, um sich zu verständigen, weil Neuguinea das sprachenreichste Land der Welt ist. Heraus kam eine vereinfachte Pidginvariante mit Einflüssen aus dem Englischen und den indigenen Sprachen. Die Kinder gaben die Sprache an ihre Kinder weiter. Die meisten haben untereinander geheiratet, auch weil sie als „gemischtrassig“ noch lange nach der Unabhängigkeit stigmatisiert wurden und als Kollaborateure der Kolonialverwaltung galten. Deswegen sind sie fast alle Anfang der 1960er-Jahre nach Australien übersiedelt, weil sie in Neuguinea Sorgen um ihre Zukunft hatte. Seitdem „Unserdeutsch“ erforscht wird, fangen die Jüngeren wieder an, es als Teil ihrer Familiengeschichte zu begreifen. Mittlerweile gibt es sogar eine Facebook-Gruppe mit ein paar Hundert Sprechern, die versuchen, die Sprache wiederzubeleben.

Dann kam die Urkatastrophe, der Erste Weltkrieg. Wie veränderte er die deutsche Sprache?

Vieles, was wir mit dem Zweiten Weltkrieg verbinden, der Verlust deutschsprachiger Gebiete im Osten, der Niedergang von Deutsch als Wissenschaftssprache, beginnt am Ende des Ersten Weltkrieges. Westpreußen kommt zu Polen, das Sudetengebiet, wo überwiegend Deutsch gesprochen wurde, kam zur Tschechoslowakei, Südtirol zu Italien. In Polen und Italien gab es nach dem Ersten Weltkrieg starken Assimilierungsdruck. Die Menschen sollten gezwungen werden, die jeweilige Sprache nicht nur zu lernen, sondern auch ausschließlich zu sprechen. In der Tschechoslowakei war es nicht ganz so schlimm: Tschechisch wurde erwartet und wichtiger, aber man konnte weiterhin Deutsch reden. Kafka konnte bekannterweise seine Bücher in Prag in deutscher Sprache publizieren. Andererseits konnte Kafka nur als Versicherungskaufmann arbeiten, weil er auch Tschechisch sprach. Die Tschechoslowakei war ein demokratischer Staat, der Anpassungsdruck war nicht so stark wie in den Diktaturen von Piłsudski in Polen und Mussolini in Italien.

Ein Wendepunkt für die Stellung der deutschen Sprache im Ausland war das Jahr 1915, der Untergang der „Lusitania“.

In Amerika gab es eine sehr starke deutsche Auswandererkultur. Es gab Schulen, deutsche Zeitungen und Theater. Ein deutschsprachiger Dirigent konnte problemlos nach Amerika gehen, und wurde von den Musikern verstanden. Umgekehrt konnte Lyonel Feininger als Sohn deutschstämmiger Einwanderer nach Deutschland gehen, studieren und als Comickünstler wieder in Amerika erfolgreich werden, weil damals gerade deutschstämmige Comickünstler von amerikanischen Zeitungen gesucht wurden. Deutschland galt damals noch als exportfähige Humornation mit einer langen Generation von lustigen Bildgeschichten wie jenen von Wilhelm Busch. Das endet dann abrupt 1915 nach der Versenkung der „Lusitania“ mit amerikanischen Zivilisten an Bord durch deutsche U-Boote. Obwohl die Rolle Amerikas am Anfang des Krieges noch nicht so klar gegen Deutschland war. Es gab starke antideutsche Aufwallungen bis hin zu Pogromen. Wilson nannte Deutsch-Amerikaner „hyphenated Americans“: Bindestrich-Amerikaner, die den Bindestrich als Dolch mit sich tragen würden, den sie möglicherweise der neuen Mutternation in den Rücken stoßen würden. Der Deutschunterricht wurde massiv zurückgefahren, und es kam massenweise zu Umbenennungen. Auch in Kanada. „Berlin“ in Ontario wurde gegen den Willen der Bevölkerung in „Kitchener“ umbenannt – nach dem englischen Kriegsminister, der bei der Versenkung eines Schlachtkreuzers durch deutsche U-Boote gestorben war. Viele Umbenennungen überall auf der Welt wurden nach Kitchener benannt. Der Kaiserstuhl in Australien wurde zum Mount Kitchener. Und der „Berliner“, den wir hier „Pfannkuchen“ nennen, heißt in Australien bis heute „Kitchener Bun“.

Andere Umbenennungen konnten sich nicht so durchsetzen?

Die Sauerkrautindustrie in Amerika wollte nur noch „Liberty Cabbage“ verkaufen, weil der Konsum von Sauerkraut stark zurückgegangen war. Geblieben ist aber „Hotdog“, das sich gegen „Frankfurter“ durchgesetzt hat.

Der Schäferhund, der „German Shepherd“ wurde in England zum Alsatian ( Elsässer) und erst im späten 20. Jahrhundert wieder rückbenannt.

Die berühmteste Umbenennung, die wieder zurückgenommen wurde, geschah gleich zu Kriegsbeginn. St. Petersburg wurde zu Petrograd. Nicht zurückgenommen wurde „Windsor“ für das britische Königshaus, das eigentlich Haus Sachsen-Coburg-Gotha hieß. King George entsorgte 1915 seinen deutschen Namen und alle deutschen Titel.

Was passierte in Deutschland? Gab es auch hier Umbenennungen?

Es gab nicht so viel umzubenennen, weil Deutschland kein Einwanderungsland war, in das Ausländer Namen mitgebracht hatten. Den Belle-Alliance-Platz in Kreuzberg, heute Mehringplatz, wollte man nicht umbenennen, weil es die preußische Bezeichnung für den Sieg bei Waterloo war. Andererseits gab es schon seit der Reichseinigung 1871 Bestrebungen zur Fremdwörterverdeutschung, vorangetrieben vom Allgemeinen Deutschen Sprachverein. Aus „Coupé“ wurde „Zugabteil“ und aus „Couvert“ wurde „Briefumschlag“. Post- und Bauministerium übernahmen viele dieser Begriffe, die wir heute noch benutzen. Das nimmt zu Beginn des Ersten Weltkrieges extrem an Fahrt auf. „Wer jetzt patriotisch ist, der muss entwelschen“, schreibt der Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, Otto Sarrazin (Ururgroßonkel von Thilo Sarrazin), und erklärt den Weltkrieg gegen die Fremdwörter. Manchmal betraf es auch nur die Schreibweise. „Keks“ setzt sich gegen „Cakes“ durch und „Büro“ gegen „Bureau“. Das „Café Piccadilly“ in Berlin wird zum „Kaffee Vaterland“.

Und der Pariser Platz?

Der sollte an den Befreiungskrieg 1814 erinnern und wurde deshalb nicht umbenannt. In Berlin wirkte die Hugenotteneinwanderung als große Erfolgsgeschichte noch stark nach, sodass französische Begriffe wie Bulette oder gar der Französische Dom am Gendarmenmarkt unangetastet blieben.

Hielt die Stimmung gegen die deutsche Sprache nach dem Krieg an?

Es gab organisierte Boykotte gegen Deutsch als Wissenschaftssprache. Deutsch wurde auf internationalen Kongressen verboten. Wichtige Wissenschaftsorganisationen, die weltweit verbindliche Normen einführten, wurden ohne deutsche Beteiligung gegründet. Deutsche Fachzeitschriften wurden ersetzt.

Obwohl die Franzosen führend beteiligt waren am Boykott der deutschen Sprache, konnten sie den Aufstieg des Englischen nicht verhindern.

Im eigenen Land pflegen sie die Sprache erfolgreich, auch durch gesetzliche Regelungen, über die wir uns hierzulande oft lustig machen. In Deutschland gibt es eher eine Laissez-faire-Politik, Sprachpflege gilt als nationalistisch, lächerlich, pedantisch. Aber klar, anders als die Franzosen sich das erhofft haben, begann der Aufstieg des Englischen. Das hängt aber auch mit dem Aufstieg der amerikanischen Universitäten zusammen.

Hat sich seitdem etwas geändert?

Seit dem Mauerfall ist Deutsch wieder eine Sprache, die mehr gelernt wird, es konkurriert mit Spanisch um den vierten Platz und wird zunehmend attraktiver. Deutschland hat das schlechte Image der Weltkriege abgelegt, laut BBC ist Deutschland eine der beliebtesten Nationen der Welt. Das führt dazu, dass wieder mehr Deutsch gelernt wird.

Was ist in unserer Alltagssprache geblieben vom Ersten Weltkrieg?

Wir benutzen immer noch Wörter aus dem Ersten Weltkrieg, oft in übertragener Bedeutung: „Trommelfeuer“, „Materialschlacht“, „Grabenkampf“ in der Politik. Ein schönes Beispiel ist „dicke Luft“ im Sinne von Gefahr. Das kam in den Schützengräben auf, weil die Luft plötzlich bleihaltig, dick ist. Oder „robben“, auf dem Bauch kriechen. Es gab das Wort möglicherweise schon vorher, aber erst im Ersten Weltkrieg mussten Soldaten auf dem Bauch kriechen wie die Robben.

Ein Begriff, der leider direkt zu den Nationalsozialisten und in den Zweiten Weltkrieg führte, ist die „Dolchstoßlegende“.

Kurz nach dem Ersten Weltkrieg verbreiteten reaktionäre Militärs, im Felde unbesiegt wäre man von der Heimatfront von hinten erdolcht worden. Die Linken bezeichneten das dann zu Recht als Dolchstoßlegende. Aktuell wird Hans-Georg Maaßen, dem ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten, vorgeworfen, er stricke an seiner persönlichen Dolchstoßlegende.

Matthias Heine, Letzter Schultag in Kaiser-Wilhelmsland. Hoffmann und Campe, 224 Seiten, 16 Euro.

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