Berlin. Zur Berlinale habe ich eine lange und enge Verbindung. Das fing schon zu meinen Studentenzeiten an, Mitte der 70er-Jahre. Da hatte ich ja noch etwas mehr Zeit. Da war auch die Berlinale noch nicht ein solcher Publikumsrenner, da konnte man noch am selben Tag Karten kriegen. Für mich war immer wichtig, nicht die Filme zu sehen, die sowieso in den Verleih kommen, sondern solche, die vielleicht nicht ins Kino kommen.
Mit dem Festival verbinde ich natürlich auch Dieter Kosslick. Er ist für mich immer „Mister Berlinale“. Auch seine Vorgänger haben ihre Verdienste, aber die Art, wie Dieter Kosslick das Festival verkörpert hat, das macht ihm keiner nach. Das war ein echtes Kontrastprogramm zu Moritz de Hadeln. Zu dessen Amtszeit gab es eine große Distanz. Die gab es bei Dieter gar nicht. Manche mögen ihm das als Distanzlosigkeit auslegen. Ich würde das eher Offenheit nennen, und die hat seine Amtszeit geprägt. Auch diese Neugierde, der unmanierierte Umgang mit den Stars dieser Welt.
„Zwischen uns stimmte die Chemie von Anfang an“
Über die Filmauswahl kann man sich immer streiten, über manche Bärenverleihung auch. Aber Dieter hat es geschafft, wirklich alle in dieses Festival zu binden und weit über ein Filmfestival hinaus für die ganze Stadt und alle Kunstsparten attraktiv zu machen. Wie er da bei Wind und Wetter im roten Schal vor dem Berlinale-Palast stand, das macht ihm keiner nach.
Und er hat die Berlinale zum größten Publikumsfestival gemacht, etwas, das weder Cannes noch Venedig, die großen Konkurrenten der A-Festivals, geschafft haben. Dass da jetzt über 300.000 Tickets pro Jahr verkauft werden, ist Wahnsinn. Und das macht die Berlinale zu einem ganz demokratischen Festival: Man hat auch eine Chance, da reinzukommen, wenn man nicht auf der Akkreditierungsliste steht. Das Festival ist nicht nur auf einen elitären Kreis beschränkt, das Festival ist für alle da.
Dieter und ich, wir haben fast zeitgleich begonnen. Als ich als Regierender Bürgermeister antrat im Juni 2001, hatte Dieters Vertrag als Berlinale-Chef gerade einen Monat zuvor begonnen. Und zwischen uns stimmte eigentlich von Anfang an die Chemie. Das war herzerfrischend und passte zu dem Berlin, das ich mir vorgestellt hatte und das ich versuchte zu leben. Und das hat auch viel zum Image von Berlin beigetragen.
Die Stadt hat sich plötzlich viel weltoffener gezeigt. Und wurde viel herzlicher angenommen. In der Zeit hat sich auch die ganze Filmindustrie hier angesiedelt, obwohl es starke Konkurrenz aus Tschechien, England und anderen Ländern gab, wo ganz anders subventioniert wurde. Das darf man auch nicht vergessen: dass hier ganz viele Arbeitsplätze geschaffen wurden.
"Alles war grau in grau und perspektivlos"
Jede Zeit bringt ihre Persönlichkeiten hervor. Das sind Zufälle, das kann man nicht planen. Aber für mich war es ein echter Glücksumstand, dass Dieter diesen Part mit abgedeckt hat, der nicht nur für den Film, sondern für die ganze kreative Szene der Stadt stand. Das hat sich immer wieder gekreuzt und inspiriert, das war wirklich ein langer gemeinsamer Weg. Als ich angetreten bin, haben mir viele gesagt, dass zuvor immer so eine Käseglocke über der Stadt war. Das war alles eher gepresst und entwickelte auch schon einen eigenen Geruch. Alles war grau in grau und perspektivlos.
Klar, die ökonomische Situation war weitaus schwieriger, als das heute der Fall ist. Wir hatten damals, das wird heute gern vergessen, eine Arbeitslosenquote von 19 Prozent. Da musste man Ideen entwickeln und überlegen: Wo hat die Stadt ihre Stärken? Bis heute sind noch viele der Meinung, das gehe mit industriellen Arbeitsplätzen. Aber mit Verlaub, die Industrie ist damals in andere Regionen abgewandert. Berlin musste sich auch in anderen Bereichen bewähren. In der Forschung. Und in der Kultur.
Wir haben auch versucht, dass die Politik bei der Berlinale nicht immer so steif rüberkommt. Das ist uns ein Stück weit auch gelungen. Es gab allerdings auch das Jahr, als Charlotte Roche während der Rede des Kulturstaatsministers unters Podium kroch. Da war im Jahr darauf leider alles wieder steif. Aber wir haben immer versucht, das etwas lockerer zu gestalten.
Die Rolling Stones und George Michael zu Besuch
Als Bürgermeister hatte ich natürlich nicht mehr so viel Zeit, um das Festival zu besuchen. Ich war oft schon froh, wenn ich vier Filme gesehen habe. Aber wir haben uns Mühe gegeben, nicht nur zur Eröffnung und zur Preisverleihung zu kommen, sondern auch zwischendurch mal reinzugehen. Ich erinnere mich an Highlights: etwa als die Rolling Stones zur Berlinale kamen, das war schon ein Ereignis. Ich durfte sie auch backstage erleben. Auch wenn Mick Jagger da das absolute Sagen hatte und alle zusammenstauchte, wenn etwas nicht in seinem Sinne war.
Unvergessen auch, als George Michael zur Berlinale kam. Wir wollten mit ihm in der Friedrichstraße essen. Sein Partner kam, sein Manager, nur er fehlte. Nach endlos langem Warten erschien ein völlig aufgelöster George Michael, der im „Hotel Adlon“ ohne Zimmerkarte ins Untergeschoss gefahren war und nicht mehr rauskam. Immer schön ist natürlich Tilda Swinton, die eine so tolle Frau ist, die auch immer zur Teddy-Verleihung kommt und sich überhaupt so wohl fühlt in der Stadt.
Unverdiente Kritik am Ende seiner Karriere
Wir haben immer am ersten Berlinale-Sonntag ein Essen gegeben für die Jurys, im „China Club“. Das war für die Juroren eine richtige Oase, einmal wegzukommen aus dem Filmrummel. Die kamen immer alle, das Ambiente hat auch verwöhnten Stars Eindruck gemacht, und mit dem Blick auf das Holocaust-Mahnmal konnte man auch etwas über Berlin erzählen. Wenn nur nicht Dieter immer auf Vegetarisches bestanden hätte! Das ist ihm nicht auszutreiben, da ist er richtig fanatisch.
Aber davon abgesehen, hat Dieter das Festival ganz entscheidend vorangetrieben. Es hat mir richtig leidgetan, dass am Ende noch dieser offene Brief geschrieben wurde, wo ich mich wirklich frage, wozu eigentlich. Dass Dieter nicht mehr lange im Amt sein würde, war da längst klar. Man hätte damit auch warten können. Und Monika Grütters hätte sich in dieser Situation ruhig klar hinter Dieter stellen können.
Stattdessen hat sie propagiert, seine Amtszeit werde nicht noch mal verlängert. Obwohl doch längst klar war, dass Dieter das gar nicht wollte. Das war nicht eben loyal. Man kann es auch illoyal nennen. Das war absolut nicht nötig. Natürlich kann man einzelne Entscheidungen kritisch betrachten, das gehört sich auch in einer pluralistischen Gesellschaft, aber Dieter hat unbestreitbare Verdienste. Diese Misstöne zuletzt, das hat er nicht verdient.
„Einmal ist die Zeit vorbei, das habe ich auch lernen müssen“
Die Fußstapfen, die er nach dieser Berlinale hinterlassen wird, sind sehr groß. Da wird es jeder schwer haben. Das fängt schon bei der Eröffnung an: Dieses Doppel mit Kosslick und Anke Engelke ist genial, das hatte so viel Esprit, so was muss man erst mal wieder finden. Aber die Neuen, die ja erstmals in einer Doppelspitze kommen, werden sicher eigene Akzente setzen. Und man muss ihnen eine Chance geben. Ich glaube aber nicht, dass sie einen radikalen Bruch machen werden. Das wäre auch schlecht für die Berlinale.
Für Dieter wird diese letzte sicher eine schwere Berlinale. Da wird viel Wehmut dabei sein, das wird auch emotional. Ich weiß durchaus, wovon ich spreche. Bei mir war das ja auch ein lange angekündigter Rücktritt. Aber wenn es dann ganz konkret wird am Ende, greift einen das doch noch mal an. Das wird auch an Dieter nicht so einfach vorbeigehen. Irgendwann ist die Zeit aber für jeden einmal zu Ende. Das habe ich auch lernen müssen. Und wenn man im Frieden gehen kann, ist das doch schön.
Wenn ich ihm einen Rat auf diesen Weg geben darf: Das Wichtigste ist, auch mal das Wort Nein zu gebrauchen bei den vielen Angeboten, die dann kommen. Das sieht man bei ganz vielen, dass sie die frei gewordene Zeit gleich wieder mit neuen Projekten auffüllen. Aber man muss Platz lassen, dass man auch wieder Zeit für sich und die Familie hat. Also, lieber Dieter: Lerne, Nein zu sagen. So wie du ja auch bei der Einladungsliste zur Eröffnung ganz oft Nein sagen musst, weil da immer viel mehr kommen wollen, als im Kino Platz haben.
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