Berlin. Die Jury des Friedrich-Luft-Preises gibt ihre Nominierungen für die Spielzeit 2022/23 bekannt. Er wird seit 1992 verliehen.
Die Favoriten für den Friedrich-Luft-Preis stehen fest. Die Jury hat sich auf zehn Inszenierungen aus der Theatersaison 2022/2023 geeinigt, die es auf die Nominierungsliste geschafft haben. Der Friedrich-Luft-Preis, benannt nach dem Theaterkritiker Friedrich Luft, wird seit 1992 verliehen, seit 2021 gemeinsam von Deutschlandfunk Kultur und der Berliner Morgenpost. Er würdigt die beste Berliner Theateraufführung und ist mit 7500 Euro dotiert. Die Jury: Susanne Burkhardt (Deutschlandfunk Kultur), Hans Dieter Heimendahl (Deutschlandfunk Kultur), Felix Müller (Berliner Morgenpost), die freien Theaterkritikerinnen Elena Philipp und Katrin Pauly, die Schauspielerinnen Claudia Wiedemer und Martina Gedeck sowie Ernst Elitz, der Gründungsintendant des Deutschlandradios. Das Preisträgerstück wird am 25. August bekanntgegeben. Wir stellen die Anwärter auf den Preis, den die Berliner Morgenpost gemeinsam mit Deutschlandfunk Kultur verleiht, im Überblick vor.
„Verrückt nach Trost“ (Regie: Thorsten Lensing, Sophiensäle)
Es geht um alles, die Jugend, das Alter, die ganze Zeit dazwischen. Wir lernen die Geschwister Charlotte und Felix als Kinder kennen, die ihre Eltern verloren haben. In „Verrückt nach Trost“ erzählt Thorsten Lensing in loser Szenenfolge, wie ihr Leben weitergeht und mit welchen Strategien sie ihrer Verlorenheit beikommen. Es treten außerdem auf: ein wendiger Oktopus, ein Orang-Utan, eine Schildkröte, ein Pflegeroboter, die nebst anderen diese surreale Szenerie bevölkern. Allesamt gespielt von einem phänomenal entfesselten Hochkaräter-Ensemble, bestehend aus Ursina Lardi, Devid Striesow, Sebastian Blomberg und André Jung. Das ist ungeheuer virtuos, es ist komisch, tragisch, melancholisch und vor allem eine große Feier des puren Spiels.

„Angabe der Person“ (Regie: Jossi Wieler, Deutsches Theater)
Elfriede Jelinek geriet wegen ihres Münchner Zweitwohnsitzes einst ins Visier der deutschen Steuerfahndung. Das nahm die Literaturnobelpreisträgerin als Ausgangspunkt für ihren Text „Angabe der Person“. Jossi Wieler brachte ihn im Deutschen Theater zur Uraufführung. Reduziert, konzentriert und mit drei herausragenden Schauspielerinnen: Linn Reusse, Fritzi Haberlandt und Susanne Wolff tauchen in drei atemberaubenden Monologen ein in diese Jelineksche Suada. Sie schlängeln sich in die Schuldfragen, die die Autorin aufwirft, durchpflügen ihre Familiengeschichte. Jede bändigt den drängenden, widerspenstigen Text auf ihre eigene Weise. Sie tasten ihn ab, nehmen ihn ernst, nehmen ihn leicht, nehmen es grandios mit ihm auf.
„Kindheitsarchive“ (Regie: Caroline Guiela Nguyen, Schaubühne)
Das „Internationale Büro für Kindheit“ ist ein Ort, an dem Lebensschicksale entschieden werden. Hierher kommen Menschen, die ein Kind aus dem Ausland adoptieren möchten. Die Sozialarbeiterinnen sind konfrontiert mit der Euphorie der Adoptionswilligen und mit ihrer Verzweiflung. Sie moderieren Emotionen, bändigen westliche Überheblichkeiten, erklären bürokratische Details. Auf Basis von ausführlichen Recherchen verwebt Regisseurin Caroline Guiela Nguyen an diesem vielschichtigen Abend unterschiedliche Aspekte zum komplexen Thema Auslandsadoption mit exemplarischen Einzelschicksalen, die berühren.

„Clockwork Orange“ (Regie: Tilo Nest, Berliner Ensemble)
Sie sind wild, verroht und skrupellos: Alex und seine Gang ziehen durch die Straßen und rauben, prügeln, vergewaltigen. In seinem dystopischen Roman „A Clockwork Orange“ beschreibt Anthony Burgess die brachialen Gewaltausbrüche der Halbwüchsigen detailliert. Gemeinsam mit Studierenden der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch findet BE-Ensemblemitglied und Regisseur Tilo Nest dafür kluge Bilder. Die Brutalität der Jugendlichen (und später auch die der staatlichen Organe) bricht sich zwischen fetten, aufgepumpten Reifenschläuchen Bahn. Die Spielerinnen und Spieler in wechselnden Rollen sehen mit ihren Harlekinkappen und den verschmierten Mündern wie grausame Clowns aus. Die physische und psychische Gewalt, die sie ausüben (und erleben) bleibt optisch abstrakt, aber dennoch tief spürbar und erschütternd.
„Ophelia‘s Got Talent“ (Regie: Florentina Holzinger, Volksbühne)
Was für ein Spektakel! Florentina Holzinger flutet in „Ophelia’s Got Talent“ das riesige, weite Rund der Volksbühne mit überwältigenden Bildern, komponiert aus Schmerz und Schönheit, Verletzlichkeit und Stärke, Witz und Wahnsinn. Mit Wasser flutet sie die Bühne auch, das ist das zentrale Motiv des Abends. Drei Wasserbassins dominieren die Bühne. Bevölkert werden sie von mehr als einem Dutzend weitestgehend nackter Frauen, die sich hier schambefreit, stolz und lustvoll als Wiedergängerinnen diverser weiblicher Wasserwesen aus der Literatur und der Mythologie die vom männlichen Blick dominierten Narrative über Sirenen, Undine, Ophelia Co. zurückerobern. Das ist laut, wild, manchmal sogar blutig, Varieténummern wechseln mit kalkulierten Schockmomenten, die famose Compagnie dreht immer weiter auf und hat das Publikum damit vom Anfang bis zum Schluss sicher am Haken.

„Dschinns“ (Regie: Nurkan Erpulat, Maxim Gorki Theater)
Nach jahrelanger harter Arbeit in Deutschland hat sich Hüseyin seinen Traum erfüllt und eine Wohnung in Istanbul gekauft. Bevor er dort einziehen kann, erliegt er einem Herzinfarkt. Zur Beerdigung reist die Familie aus Deutschland an, seine Frau Emine und die vier Kinder. Die Trauer vermischt sich mit Verletzungen, unterdrückten Emotionen und Geheimnissen, über die nie gesprochen wurde. Mit „Dschinns“ hat Fatma Aydemir einen deutsch-türkischen Familienroman über mehrere Generationen geschrieben. Regisseur Nurkan Erpulat inszenierte den Stoff mit empathischer Zuneigung für die Figuren. Dieser Abend ist melancholisch, musikalisch, jongliert elegant mit Zeitebenen und Perspektiven. Wunderbares Erzähltheater ist hier zu bestaunen, das ungemein ans Herz geht.
„Planet B“ (Regie: Yael Ronen, Maxim Gorki Theater)
Mit der Erde geht‘s den Bach runter. Um die Sache abzuwickeln, organisieren ein paar aus dem Weltraum eingeflogene Aliens eine Art Survival-Reality-Show. Es geht für die Vertreter der noch verbliebenen Spezies um nicht weniger als eine zweite Chance auf einem Alternativplaneten. Mit „Planet B“ haben Yael Ronen und ihr Co-Autor Itai Reicher ein hochaktuelles Stück zur Klimadebatte geschrieben, das Ronen als irrwitzig überdrehte, hochkomische und bis in Detail clever ausgearbeitete Science-Fiction-Komödie mit einem extrem spielfreudigen Ensemble auf die Bühne bringt. Da kämpfen nun also Mensch, Fuchs, Ameise, Huhn, ein depressiver Panda, ein Macho-Krokodil und eine hinreißend weltentrückte Fruchtfledermaus ums nackte Überleben. Ein fabelhafter Spaß!
„T4. Ophelias Garten“ (Regie: David Stöhr, Theater unterm Dach)
Im Kriegswinter 1941 treffen in einer schicksalshaften Begegnung zwei Frauen aufeinander: die junge Waise Ophelia, die allein in der Villa ihrer Eltern lebt und die Krankenschwester Gertrud, die prüfen soll, ob die behinderte Ophelia in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden soll. Gertrud ahnt, dass die Einweisung in dieser Zeit, in der die Nazis ihr euphemistisch „Euthanasie“ oder „Aktion T4“ genanntes systematisches Ermordungsprogramm an kranken und behinderten Menschen durchführten, für Ophelia höchstwahrscheinlich den Tod bedeuten würde. Regisseur David Stöhr bringt diesen Stoff als historisch grundiertes Kammerspiel ins Theater unterm Dach mit einem starken Schauspielerinnen-Duo: Maja Zećo als Gertrud und Neele Buchholz, eine Schauspielerin mit Down-Syndrom, als Ophelia harmonieren hervorragend miteinander, es gibt Verspieltheit zwischen ihnen, Härte und auch Poesie. Ein berührender Abend.
„Eines langen Tages Reise in die Nacht“ (Regie: Torsten Fischer, Schlosspark Theater)
Alle ganz schön kaputt hier: Mutter Mary Tyrone ist morphiumsüchtig, Vater James ein gescheiterter Schauspieler und ein übler Geizkragen noch dazu. Der eine Sohn ist ein zorniger Säufer, beim anderen wurde gerade Tuberkulose diagnostiziert. Wenn diese Familie sich auf der Bühne des Schlosspark Theaters, für das Torsten Fischer Eugene O‘Neills Familiendrama inszeniert hat, in den Arm nimmt, dann spürt man ihre Sehnsucht nach familiärer Verbundenheit, erkennt aber auch, wie sehr sie einander einengen und begrenzen. Lebenslügen, Rausch und Neurosen sind die Komponenten, die diese von der Regie und dem vortrefflichen Ensemble fragil und abgründig gezeichnete und mit symbolträchtigen Sequenzen durchzogene Zimmerschlacht immer aufs Neue befeuern. Erlösung ist für diese Familie nicht in Sicht.

„Sistas!“ (Regie: Isabelle Redfern, Katharina Stoll , Volksbühne)
Drei Schwestern in Zehlendorf: Für ihre Inszenierung „Sistas!“ verfrachten Isabelle Redfern und Katharina Stoll mit ihrem Theaterkollektiv „Glossy Pain“ Tschechows sinnsuchendes Schwestern-Trio von der russischen Provinz ins Berlin der 90er Jahre. Ihr Vater ist hier ein schwarzer GI, der in Deutschland stationiert war, die Familie aber längst verlassen hat. Zur Geburtstagsfeier der Jüngsten kommt er aus den USA zu Besuch. Ein Katalysatormoment, der Fragen und Selbstbefragungen nach Identität, kultureller Aneignung und strukturellem Rassismus an die Oberfläche spült. Klug und mit viel Witz wurde Tschechows Konversationsstück hier auf gegenwärtige Diskurse umgeschrieben. Letztlich geht es auch um die Sehnsucht, irgendwo dazuzugehören. Das ging den ursprünglichen Tschechow-Sisters ähnlich. Auch wenn die Umstände jetzt gänzlich andere sind.