Der Völkermord an den Herero und Nama und die deutsche Ethnologie: Lars Kraumes Film „Der vermessene Mensch“ im Berlinale Special.

Nach der Weltpremiere im Haus der Berliner Festspiele betrat der Produzent Thomas Kufus erkennbar bewegt die Bühne. Dies sei mit Sicherheit der emotionalste Film seiner Laufbahn gewesen, sagte er – und wenn man bedenkt, was Regisseur Lars Kraume in der Diskussionsrunde danach von den Dreharbeiten erzählte, kann man das gut nachvollziehen.

Kraume, der zuletzt mit „Der Staat gegen Fritz Bauer“ (2015) und „Das schweigende Klassenzimmer“ (2018) eine besondere Sensibilität für historische Stoffe unter Beweis gestellt hat und dafür auch zurecht mehrfach ausgezeichnet wurde, wendet sich diesmal dem Vernichtungsfeldzug der deutschen Besatzungsmacht gegen die Herero und Nama in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika zwischen 1904 und 1908 zu, bei dem nach Schätzung von Historikern zwischen 60.000 Herero und rund 10.000 Nama ermordet worden und noch viele weitere Verbrechen vom Raub über Vergewaltigung bis zur Grabschändung zu verzeichnen waren.

„Der vermessene Mensch“: Ausgangspunkt war ein Roman von Uwe Timm

Der Schriftsteller Uwe Timm hat 1978 den Roman „Morenga“ veröffentlicht, dessen Titel sich auf einen der bekanntesten Anführer im Aufstand der Ovaherero und Nama bezieht, seine Geschichte aber aus der Sicht eines deutschen Veterinärs erzählt. Für Lars Kraume war Timms Buch, das 1983/84 bereits einmal von Egon Günther verfilmt wurde, ein „wichtiger Anfangspunkt“: „Die einzig legitime Erzählperspektive ist für uns die Täterperspektive. Damit verbietet sich eine deutsche Heldenfigur. Und die tragische Heldenreise eines Morenga zu erzählen, wäre kulturelle Aneignung in einer Form, die ich nicht akzeptabel finde.“

Lesen Sie auch: Berlinale – News zu Kinos, Filmen und Stars

Schauspieler Peter Simonischek, Regiseeur Lars Kraume, Schauspielerin Girley Charlene Jazama and Schauspieler Leonard Scheicher bei der Berlinale-Pressekonferenz.
Schauspieler Peter Simonischek, Regiseeur Lars Kraume, Schauspielerin Girley Charlene Jazama and Schauspieler Leonard Scheicher bei der Berlinale-Pressekonferenz. © Getty Images | Sebastian Reuter

Die Leidensgeschichte der Opfer gehört den Opfern. „Der vermessene Mensch“ wurde an Originalschauplätzen in Namibia gedreht wurde, die Crew bestand größtenteils aus namibischen und südafrikanischen Fachkräften. Hier galt es, Vertrauen aufzubauen. Mit Marcella Katjijova wurde am Set eine Psychologin für die emotional besonders schwierigen Szenen engagiert, für das Setdesign reiste Szenenbildner Sebastian Soukup bereits mehrere Monate vorab nach Namibia, um im Gespräch mit Einheimischen Authentizität sicherzustellen.

„Der vermessene Mensch“ wird zunächst in Namibia gezeigt

Gespannt darf man darauf warten, wie der Film in Namibia aufgenommen wird, noch vor dem deutschen Kinostarts sind dort mehrere Vorführungen angesetzt. In jedem Fall betritt er ein Terrain, das trotz einer nun recht lange andauernden und wichtigen Postkolonialismus-Debatte in Deutschland auf deutschen Leinwänden ausgespart blieb. „Der vermessene Mensch“ ist darin ein sehr mutiger Film.

Er ist es auch in der richtigen Entscheidung für eine hochambivalente Hauptfigur. Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) ist Ende des 19. Jahrhunderts Ethnologie-Doktorand in Berlin, wo im Namen einer sozialdarwinistisch pervertierten Wissenschaft Schädel vermessen werden, um die Überlegenheit der weißen Rasse über alle anderen zu belegen. Hoffmann hegt daran Zweifel, vor allem nachdem er Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama) kennengelernt hat, die als Dolmetscherin eine Delegation von Herero und Nama zur „Deutschen Kolonial-Ausstellung“ begleitet. Im Namen der Wissenschaft vermisst er sie und demütigt sie damit schwer, zeigt aber danach aufrichtiges Interesse an ihrem Wesen – sein Einspruch gegen die Theorie der „minderwertigen Rasse“ erntet aber nur den Hohn von Kollegen und Doktorvater (Peter Simonischek). Um Artefakte für das Museum zu sammeln, reist Hoffmann danach durch die von Gewalt erschütterte Kolonie und will dort auch Kezia wiedertreffen. Das ist über weite Strecken spannend und ohne Scheu vor den historischen Fakten erzählt und setzt nur in der entscheidenden Szene auf einen Schockeffekt, den diese ohnehin erschütternde Geschichte nicht nötig gehabt hätte.