Es ist die Geschichte des jungen Pianisten Karlrobert Kreiten, der hoffnungsvoll auf dem Weg in eine große Solistenkarriere ist, dann aber in die Fänge des „Volksgerichtshofs“ von Roland Freisler gerät und zur Abschreckung in der „Blutnacht von Plötzensee“ am 7. September 1943 hingerichtet wird. Es ist eine Berliner Geschichte über Denunzianten, Bombennächte, das Konzertleben, über versteckte Juden und über Nazis, deren Größenwahn nach Stalingrad zunehmend der Panik weicht. Es ist eine chronologisch erzählte Geschichte über Angst im Alltag des „Dritten Reichs“, als der Tod auch jenseits der Front allgegenwärtig ist.
Dem Jahr 1943 hat sich der Berliner Historiker Oliver Hilmes in seinem Buch „Schattenzeit“ zugewandt. Das erste Kapitel ist „Stalingrad“ überschrieben, aber zunächst wird der 1916 geborene Pianist Karlrobert Kreiten vorgestellt. Der niederländische Vater Theo ist Klavierprofessor, Mutter Emmy Sängerin. Zur Familie gehören „Grand’maman“ und Schwester Rosemarie. Es ist eine typische Künstlerfamilie, eine, die ziemlich unpolitisch ist. Alle werden später versuchen, ihren Karlrobert zu beschützen und zu retten.
Als 16-Jähriger gewann Karlrobert den vom preußischen Staat gestifteten Mendelssohn-Preis. Über Wien kam er Ende 1937 nach Berlin, um beim Starpianisten Claudio Arrau zu studieren. Kreitens Klavierabende in der Philharmonie sind stets ausverkauft. Die Kritiken sind überschwänglich. Da er wie sein Vater die niederländische Staatsbürgerschaft hat, wird er nicht zur Wehrmacht eingezogen. Er reist und gibt Konzerte.
Oliver Hilmes' Buch ist wunderbar auserzählt
„An der Wolga ist es Scheiße“, schreibt der 25-jährige Soldat August Eberl Anfang 1943 an seine Mutter. In Stalingrad sind rund 230.000 deutsche Soldaten von der Roten Armee eingekesselt. Man friert und hungert. Am 10. Januar beginnt die Großoffensive der Sowjets. Zwei Tage später feiert Reichsmarschall Hermann Göring seinen 50. Geburtstag. Am Vorabend gibt es eine Galavorstellung im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Intendant Gustaf Gründgens präsentiert Kleist und Shakespeare, Stars wie Heinz Rühmann, Theo Lingen oder Bernhard Minetti sind dabei.
In seinem wunderbar auserzählten Buch lässt Oliver Hilmes um Berlin herum einen Kosmos der Zeitumstände aufscheinen. In der marokkanischen Hafenstadt Casablanca treffen sich am 14. Januar der amerikanische Präsident Roosevelt und der britische Premier Churchill. Stalin muss wegen Stalingrad absagen. „Die Dame“, das deutsche Journal für den verwöhnten Geschmack, empfiehlt ihren Leserinnen im Januar ein Jäckchen, das „aus gebrauchten Kleidungsstücken hergestellt werden kann.“ Das Journal wird bald schon eingestellt.
Lesen Sie auch: Der Tag, als Adolf Hitler an die Macht kam
„In einer Bäckerei wurde mir Brot verweigert“, schreibt Victor Klemperer am 6. Januar in sein Tagebuch. Der als Jude aus seiner Professur entlassene Romanist wird im Dresdner Alltag immer mehr diskriminiert. Er beschließt, ein Buch über die „Sprache des Dritten Reiches“ zu schreiben. Als er einer Bekannten in Berlin eine Postkarte zuschickt, kommt die mit dem Hinweis „Abgewandert“ zurück. Klemperer notiert für sein Buch: „,Abgewandert’ für abgewandert worden. Harmloses Wort für ,vergewaltigen’, ,vertreiben’, ,in den Tod schicken’.“
Der von den Nazis verbotene Schriftsteller und Kabarettdichter Erich Kästner („Emil und die Detektive“) beschließt im Januar, „wichtige Einzelheiten des Kriegsalltag auszuzeichnen“. Am 1. März wird Berlin bombardiert. Kästner hat einen neuen Witz gehört und notiert: „Wenn die Engländer noch ein paar Mal so kommen, müssen sie sich die Häuser selber mitbringen!“ Andere werden für Äußerungen dieser Art umgebracht. Der Sänger und Kabarettist Robert Dorsay erzählt im Restaurant des Deutschen Theater einen Führerwitz und ein Gestapo-Spitzel hört zu. Demnach hält ein Mädchen Hitler beim Einzug in eine Stadt ein Büschel Gras entgegen gehalten. Was er damit solle?, fragt Hitler. Das Mädchen: „Alle sagen, wenn der Führer ins Gras beißt, kommen bessere Zeiten“. Dorsay wird in Plötzensee hingerichtet.
Lesen Sie auch: „Die NSDAP war im Auseinanderfallen begriffen“
Hans Rosenthal versteckte sich in Lichtenberger Schrebergartenkolonie
In dem großartigen Buch sind viele Geschichten zusammengetragen, die man kennt, aber nicht sofort dem Jahr 1943 zuordnen könnte. Dazu gehören verschiedene Hitler-Attentatsversuche. Oder aber die Geschichte des jüdischen Teenagers Hans Rosenthal, dem späteren „Dalli Dalli“-Liebling, der sich in der Lichtenberger Schrebergartenkolonie „Dreieinigkeit“ vor den Nazis versteckt. Erich Kästner notierte am 25. August: „Der neue Gruß heißt jetzt in Berlin: Bleiben Sie übrig!“
Erschreckenderweise ist das Überleben oder Sterben von Zufällen abhängig. Pianist Kreiten ist auf Tour und übernachtet bei einer alten Freundin seiner Mutter. Mit ihr gerät der junge Heißsporn in Streit über die Nazi-Politik. Die Freundin hechelt empört das Gesagte im Haus und mit Freundinnen durch. Es kommt zur Anzeige, der junge Mann wird von der Gestapo verhaftet. Kein prominenter Bekannter kann oder will der Familie Kreiten helfen. Der Pianist wird wegen „Wehrkraftzersetzung“ angeklagt und von Freisler zum Tode verurteilt. In einer Bombennacht am 4. September wird die Haftanstalt Plötzensee teilweise zerstört, darunter auch die Guillotine. Um Platz zu schaffen, ergeht der Befehl zu beschleunigten Hinrichtungen. Die Häftlinge werden brutal aufgehängt. Kreiten ist unter den 250 Ermordeten.
Lesen Sie auch: Weltwirtschaftskrise 1929 – Der lange Weg in den Abgrund
Der Journalist Werner Höfer schlägt in seiner Kolumne im Berliner „12 Uhr Blatt“ Kapital aus der Hinrichtung des jungen Musikers. Es ist schäbig. Nach dem Krieg wird Höfer Gastgeber der Sendung „Internationaler Frühschoppen“. Er ist eitel und hochgeschätzt. 1962 holt die DDR-Propaganda Höfers Text über jenen „ehrvergessenen Künstler“ wieder hervor. Es geschieht nichts. Erst 1987 nach einem „Spiegel“-Artikel muss der WDR Höfer aufgeben. Es gehört zu Hilmes’ Leistung, im Buch die Spuren der Beteiligten weiter zu verfolgen. Aber auch die Nachkriegsgeschichte ist ernüchternd.