Es ist schneidend kalt in Berlin am 30. Januar 1933, einem Montag. Die Wettervorhersage prophezeit, in den kommenden Tagen würden die Temperaturen bis auf minus acht Grad absacken. Eine katastrophale Nachricht für die Berlinerinnen und Berliner, von denen ein knappes Drittel an oder unter der Armutsgrenze lebt und kein Geld für die Kohlen zum Heizen aufbringen kann. Seit Tagen grassiert landesweit eine Grippewelle, von der auch die Hauptstadt betroffen ist. Wegen erheblicher Ausfälle beim Personal schließen mehr als 30 Schulen, in den Krankenhäusern bricht der Notstand aus. Aus dem Umland werden Fälle von Typhus gemeldet.
Die Last der Alltagssorgen lenkt ab von den einschneidenden Veränderungen, die sich derweil im politischen Berlin vollziehen – und für niemanden ohne Folgen bleiben werden. Dies ist die Lage: Am 3. Dezember 1932 hat der greise Reichspräsident Paul von Hindenburg den ihm nahestehenden Franz von Papen (ehemals Zentrum) schweren Herzens aus dem Amt des Reichskanzlers entlassen. Wenige Wochen zuvor, bei den Wahlen vom 6. November 1932, hatten KPD und NSDAP die Sperrmajorität errungen. Das Zentrum und die SPD hatten Papen die Gefolgschaft verweigert. Pläne, den Staatsnotstand auszurufen und das Parlament für unbestimmte Zeit nach Hause zu schicken, wurden von Reichswehrminister Kurt von Schleicher erfolgreich durchkreuzt. Schleicher schürte bei Hindenburg die Angst vor einem Bürgerkrieg und beschwor ein Szenario, wonach die Reichswehr gegen die Kräfte von NSDAP, KPD und demokratischen Parteien chancenlos wäre.
Der Parlamentarismus als „hoffnungslos toter Frosch“
Schleicher wurde also Kanzler. Aber auch er, der Papens größtenteils adliges „Kabinett der Barone“ nur auf zwei Positionen erneuerte, sah sich von den grassierenden Problemen der späten Weimarer Republik schnell schachmatt gesetzt. Die Gewerkschaften verweigerten schon bald die Kooperation mit der neuen Regierung. Die SPD sowieso, weil sie auf eine Rücknahme des „Preußenschlags“ pochte, mit dem die sozialdemokratische Landesregierung des Freistaates im Frühsommer 1932 entmachtet worden war. Auch von rechts häuften sich die Widerstände, vor allem vonseiten der Großagrarier gegen den Plan, Arbeitslose anstelle der billigen Saisonarbeitskräfte im Osten anzusiedeln.
Und so ging es, wie Harald Jähner in seinem Buch „Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen“ (Rowohlt Berlin, 2022) schreibt, „weiter wie gewohnt“: „Der Reichstag tagte unter Polizeischutz und lieferte in jeder Sitzung ein wüstes Spektakel unflätigster Beschimpfungen, verbotener Demonstrationen und Prügeleien. Hermann Göring, seit August 1932 Reichstagspräsident, missbrauchte sein Amt nach Kräften. Er genoss die Pöbeleien und heizte sie an, so gut er konnte. Ein Teil der Parlamentarier titulierte sich gegenseitig als ,Lumpengesindel‘, ,Untermenschen‘, ,Pack‘; der Abgeordnete Gok von der DNVP bezeichnete den Parlamentarismus als ,hoffnungslos toten Frosch‘.“
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Adolf Hitler, der trotz der Stimmenverluste bei den Novemberwahlen 1932 weiter selbstbewusst jedes Regierungsmodell ohne seine Kanzlerschaft abgelehnt hatte, konzentrierte sich derweil auf die Stärkung seiner Verhandlungsposition. Im Miniaturfreistaat Lippe am Rand des Teutoburger Waldes sollten am 15. Januar 1933 Landtagswahlen stattfinden. Die gesamte Prominenz der NSDAP wurde aufgeboten, um dort Station zu machen. Hitlers Gewährsmann Joseph Goebbels sprach, wie er von sich selbst fasziniert notierte, „dreimal zum Teil in ganz kleinen Bauerndörfern“. Er war es auch, der die Wahl propagandistisch zum Stimmungstest, zur Richtungsentscheidung für das gesamte Reich erklärte – und damit sogar Überzeugungskraft entfaltete. Am Ende konnte die NSDAP 39,5 Prozent für sich verbuchen, die auch prompt einen Stimmenzuwachs von 36,1 Prozent im Vergleich zu den letzten Landtagswahlen feierte und dabei lieber von den Reichstagswahlen im Frühsommer 1932 schwieg, bei denen die Partei im selben Kreis noch deutlich besser abgeschnitten hatte.
So war der Druck auf den Reichspräsidenten und auf Kanzler Schleicher noch einmal spürbar gewachsen. Der vom letzteren düpierte Papen setzte nun alles daran, ins Kabinett zurückzukehren – und mochte es nur auf der Position des Vizekanzlers sein. Zusammen mit Staatssekretär Otto Meissner und Hindenburgs Sohn Oskar bildete er die vielzitierte Kamarilla und versuchte nachdrücklich, den Reichspräsidenten von einem Kabinett Hitler zu überzeugen, in dem dieser, nur mit wenigen Ministerposten ausgestattet, gewissermaßen eingerahmt werden konnte. „In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt, dass er quietscht!“, soll Papen in einer der verhängnisvollsten Fehleinschätzungen der deutschen Parlamentsgeschichte geäußert haben.
Hindenburg gab seine Widerstände gegen den „böhmischen Gefreiten“ auf. Es ist viel darüber spekuliert worden, woher der Sinneswandel kam. Plötzlich aufflammende, womöglich gezielt gestreute Gerüchte, Schleicher habe die Potsdamer Garnison alarmiert, um Hindenburg festzusetzen, mögen eine Rolle gespielt haben. Am Ende waren es wohl mehrere Ursachen: „Gewiss sind die massiven Einwirkungsversuche der Kamarilla so wenig ohne Erfolg geblieben wie die Drohungen der NSDAP oder die Interventionen der großagrarischen und nationalen Interessengruppen, schrieb Joachim Fest schon in den 1970er-Jahren in seiner Hitler-Biografie, „und nicht ohne Wirkung ist auf den Präsidenten auch geblieben, dass die von dem verhätschelten Allerweltskerl Papen versprochene neue Regierung ohne Ausnahme aus Vertretern der Rechten bestehen sollte.“
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30. Januar 1933, 11.15 Uhr: Noch die letzten Momente vor der Ernennung Hitlers entbehren nicht der Dramatik. Im Dienstzimmer von Otto Meissner sind die künftigen Regierungsmitglieder des „Kabinetts der Nationalen Konzentration“ versammelt: Neben Hitler und Papen, der Vizekanzler und Reichskommissar für Preußen werden soll, sind es auch Pressemogul Alfred Hugenberg (DNVP, Wirtschaftsminister), Konstantin von Neurath (Auswärtiges), Lutz Schwerin von Krosigk (Finanzen), Werner von Blomberg (Reichswehr), Paul von Eltz-Rübenach (Verkehr) und Franz Seldte (Arbeit). Aus der NSDAP sind neben Hitler nur Wilhelm Frick (Inneres) und der als Minister ohne Geschäftsbereich vorgesehene Göring zugegen. Der designierte Kanzler streitet sich mit Hugenberg über die Neuwahlen zum Reichstag, die Hitler möglichst schnell angesetzt sehen will. Der aufgebrachte Hugenberg will schon gehen, als Meissner hereinplatzt und die Herren zum Präsidenten bittet.
Nur wenige Wochen später brannte der Reichstag
Minuten später ist Adolf Hitler Kanzler. „Die Zeichen stehen auf Sturm“, wird die „Vossische Zeitung“ in ihrer Abendausgabe schreiben. „Der Alte hat nachgegeben. Er war zum Schluss ganz gerührt. So ist’s recht“, notiert Goebbels voller Pathos in seinem Tagebuch: „Uns allen stehen die Tränen in den Augen. Wir drücken Hitler die Hand. Er hat’s verdient. Großer Jubel.“ Am Abend versammeln sich Tausende Hitler-Anhänger und Stahlhelm-Mitglieder am Großen Stern und marschieren in Richtung Brandenburger Tor. Fackeln leuchten. Die Hakenkreuzfahne weht überall.
Die weiteren Schritte zum Ausbau des nationalsozialistischen Führerstaats sind oft beschrieben worden (hier kommen Sie zur vollständigen Grafik „Der Weg ins Dunkel“). Auf den Brand des Reichstags in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar folgt die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“, mit der die Grundrechte der Weimarer Verfassung de facto außer Kraft gesetzt wurden und die politischen Gegner der NSDAP verhaftet und von der demokratischen Teilhabe ausgeschlossen werden können. Am 23. März tagt der Reichstag ersatzweise in der Krolloper, wo Göring schon vor einer großen Hakenkreuzfahne präsidiert, draußen schlägt die SA Radau. Mit den Stimmen der Regierungskoalition aus NSDAP und DNVP sowie des Zentrums, der Bayerischen Volkspartei und der Deutschen Staatspartei verabschiedet das Parlament das Ermächtigungsgesetz, offiziell „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ genannt. Hitler hat der bürgerlichen Mitte zuvor Sand in die Augen gestreut: Am 21. März hat er sich medienwirksam beim „Tag von Potsdam“, den offiziellen Feierlichkeiten zur Eröffnung des Reichstags, vor Hindenburg verneigt und ihm die Hand gereicht. Wieder und wieder hat er zudem versichert, das Gesetz nur kontrolliert anzuwenden und die Rechte der Verfassungsorgane, der Länder und der Kirche zu achten.
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Aber was alle republikmüden Parlamentarier mit Ausnahme der SPD an diesem Tag durchwinken, ist nicht weniger als der Offenbarungseid der Demokratie. Die Regierung wird mit dem Ermächtigungsgesetz in die Lage gebracht, ohne Zustimmung von Reichstag und Reichsrat, auch ohne Gegenzeichnung des Reichspräsidenten Gesetze zu erlassen. Die Gewaltenteilung ist damit de facto aufgehoben. Der Reichstag hat sich selbst entmachtet, der Weg in die Diktatur ist frei. Binnen weniger Wochen erfolgt die Auflösung der Parteien und Gewerkschaften. Mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ verabschiedet der Reichstag am 7. April 1933 die Grundlage zur Gleichschaltung des öffentlichen Dienstes und gibt mit dem darin enthaltenen „Arierparagraphen“ auch die antisemitische Staatsräson zu erkennen, die in den folgenden Jahren barbarisch eskaliert. Terror und Willkür, zuvor jahrelang den Trupps der Straße vorbehalten, werden nun von Staats wegen verübt.
Das Schicksal Weimars berührt bis heute
Vom Ende des Krieges mitsamt dem Versailler Vertrag über die Wirtschaftskrise bis hin zur Abschaffung der Demokratie: Das Schicksal Weimars berührt bis heute. Wie konnte es in einem zivilisierten Land so weit kommen? Der Historiker Hagen Schulze hat „in der Mitte des Ursachenbündels“ eine Bevölkerungsmehrheit ausgemacht, „die das politische System von Weimar auf die Dauer nicht zu akzeptieren bereit war, sowie Parteien und Verbände, die sich den Anforderungen des Parlamentarismus nicht gewachsen zeigten“. Die Republik sei „nicht schicksalhaft oder bedingt durch anonyme Sachzwänge“ gescheitert. Es waren Menschen: „Bevölkerung, Gruppen, Parteien und einzelne Verantwortliche haben das Experiment Weimar scheitern lassen, weil sie falsch dachten und deshalb falsch handelten.“ Weil sie, anders gewendet, den Wert der Demokratie unterschätzten, den Versuchungen des Autoritären erlagen und sich dessen erst bewusst wurden, als es schon viel zu spät war.