Vor 80 Jahren war die Welt zu Gast in Berlin – Gastgeber waren die Nazis. Historiker Oliver Hilmes über Sport und Propaganda.
Drei Jahre nach Hitlers Machtergreifung fanden in Deutschland die Olympischen Spiele statt. Der Historiker Oliver Hilmes , Autor des Buches „Berlin 1936“, schildert in unserem Interview, wie sich selbst Gegner des Regimes von von der Inszenierung der Nazis einnehmen ließen, es aber auf der anderen Seite auch stille Helden und eine subversive Szene in der Hauptstadt gab.

Berliner Illustrirte Zeitung: Kurz vor Beginn der Olympischen Spiele 1936 wurden in Berlin die Schaukästen mit dem antisemitischen Hetzblatt „Stürmer“ abgebaut. Die Nazis wollten sich zahm zeigen. Gelang das?
Oliver Hilmes: Die Spiele waren eine große Propagandainszenierung. Man wollte dem Ausland das Bild eines friedlichen, liberalen, weltoffenen und toleranten Deutschlands zeigen. Das Dritte Reich hatte ja drei Jahre nach der Machtübernahme ein großes Imageproblem. Es wurde von den europäischen Mächten kritisch beäugt, zu Recht, wie wir wissen.
Berlin 1936: Die Olympischen Spiele im Reich der Gewalt
Ein Jahr zuvor waren die Nürnberger Gesetze erlassen worden.
Die Ausgrenzung der Juden war schon Staatsdoktrin, in Gesetzesform gegossen. Aber mit diesen Spielen wollte man nun ein anderes Bild inszenieren. Das hat auch geklappt, wie man heute weiß.
Für die deutsche Mannschaft trat die Fechterin Helene Mayer an. Sie hatte einen jüdischen Vater, nach dem nationalsozialistischen Verständnis galt sie als Halbjüdin. Wie kam es zu ihrer Teilnahme?
Das ist eine ganz tragische Geschichte. In den USA gab es eine sehr starke Boykottbewegung, die sich 1934/35 ganz vehement dafür einsetzte, dass die amerikanische Mannschaft nicht nach Berlin reiste. Hitler war natürlich sehr daran interessiert, dass die Amerikaner mitmachten, weil die USA die größte Sportnation waren. Und es war zu befürchten, dass sich andere Nationen dem Boykott anschließen und nur noch Rumpfspiele in Berlin stattfinden würden. Es kam zu langwierigen Verhandlungen zwischen dem amerikanischen olympischen Komitee, dem internationalen olympischen Komitee und der Reichsregierung. Beide Komitees schickten Unterhändler nach Berlin, die es aber Hitler sehr leicht machten. Das waren verkappte Nazisympathisanten. Sie schlugen Hitler einen Ausweg vor: Weil es in Amerika Leute gebe, die Wert darauf legten, dass Deutschland jüdische Sportler in seiner Mannschaft habe, sollte er doch zumindest eine Person aufnehmen. So wurde Helene Mayer als deutsches Mitglied nominiert.
Zahlen und Fakten: Die Olympischen Spiele von 1936
Sie lebte zu der Zeit in Amerika. Hielt sie niemand ab, ins nationalsozialistische Deutschland zurückzukehren?
Viele sehr prominente Stimmen haben Helene Mayer gebeten, es nicht zu tun. Unter anderem auch Thomas Mann. Sie hat trotzdem teilgenommen. Das ist die große Tragik: Wenn sie es nicht gemacht hätte, hätte dieser Hitler vorgeschlagene Ausweg nicht funktioniert. Man hätte natürlich eine andere Person benennen können, aber das wäre nicht so einfach gewesen.
Als Helene Mayer die Silbermedaille errang, posierte sie auf einem Foto bei der Siegerehrung im Olympiastadion stehend mit Hitlergruß.
Victor Klemperer bezeichnete das als Geschmacklosigkeit. Zu ihren Beweggründen gehörte wahrscheinlich, dass sie dazu gehören und sich nicht ausgrenzen wollte. Später sagte sie einmal, sie habe teilgenommen, weil sie Heimweh hatte. Sie lebte in Kalifornien, weit von Europa entfernt. Nun wollte sie Teil dieser Mannschaft sein. Vieleicht wollte sie den Nazis mit dem Hitlergruß auch ein Zeichen senden: Seht her, ich bin eine gute Deutsche. Das ist eine ganz große Tragik. Insofern hat Helene Mayer an dem Zustandekommen der Olympischen Spiele eine gewisse Verantwortung. Sie hat sich funktionalisieren lassen.

Was wäre passiert, wenn es tatsächlich zu einem Boykott der amerikanischen Mannschaft gekommen wäre?
Das hätte die ganze Inszenierung völlig zunichte gemacht. Den Olympischen Spielen wäre die Größe genommen worden.
Hätte es den Fortlauf der Geschichte beeinflusst?
Wahrscheinlich nicht. Es wäre sicherlich auch so zum Krieg gekommen. Aber es hätte Hitler unmöglich gemacht, sich im Sommer 1936 als großer, freundlicher Gastgeber zu inszenieren.

Hätte ein ausländischer Besucher in Berlin das Unrecht hinter der Fassade erkennen können?
Ich denke schon. Aber man hätte deutsch sprechen müssen. Wer nur Englisch konnte, der glaubte, was man ihm sagte oder was in irgendwelchen mehrsprachigen Zeitungen stand – die großen Berliner Tageszeitungen hatten mehrsprachige Blätter. Wer aber in der Lage war, sich auf Deutsch zu verständigen, konnte sich in irgendeine Kneipe setzen, kam dort vielleicht mit Leuten ins Gespräch, die ihm nach dem dritten Bier irgendwas erzählten. Einer der Helden in meinem Buch, der amerikanische Schriftsteller Thomas Wolfe, hat es so gemacht. Er war zwar der deutschen Sprache nicht mächtig, aber er kam mit Leuten zusammen, die Englisch konnten und ihm erzählten, was hier passierte. Darüber hinaus gab es ja auch Proteste im Ausland: Heinrich Mann, Thomas Mann, aber auch viele andere Leute haben keinen Zweifel daran gelassen, was von diesen Spielen zu halten ist. Und Exilorganisationen, zum Beispiel die der SPD, haben Flugblätter ins Reich geschmuggelt. Die Gestapo hatte einige Probleme, die schnell wieder einzusammeln. Also, wenn man ganz genau hinschaute und sich bemühte, konnte man, glaube ich, einiges erfahren. Aber die Wahrheit ist, dass viele, viele Touristen hierher kamen und daran gar kein Interesse hatten, die wollten einfach eine Show sehen, die wollten dieses dunkle Disneyland erleben.

Also einerseits angezogen und andererseits abgestoßen?
Ich glaube, das ist ein Faktor, der bei vielen Berlin-Besuchern im August 1936 eine Rolle spielte: diese leicht morbide, gruselige, aber zur gleichen Zeit fantastisch glanzvolle Atmosphäre. Die Nazis haben es sogar geschafft, ihre Feinde zu überzeugen. Wie den sehr einflussreichen englischen Diplomaten, Sir Robert Vansittart. Er hat Hitler nicht über den Weg getraut. Joachim von Ribbentrop, der später auch Außenminister wurde, hat es geschafft, Vansittart und viele andere Engländer, Zeitungsverleger und Politiker, nach Berlin einzuladen. Sie wurden in den besten Berliner Hotels untergebracht, bekamen Chauffeure und persönliche Adjutanten. Große Empfänge und Partys wurden gegeben. Vansittart wurde von Göring, Goebbels und Hitler empfangen. Nach seiner Rückkehr nach London schrieb er seinem Außenminister einen sehr umfangreichen Bericht über die Tage und zeigte sich total begeistert. Am Ende steht so ein Satz, den ich jetzt nur sinngemäß zitieren kann: Vielleicht haben wir den Deutschen Unrecht getan. Im weiteren Verlauf der 30er-Jahre wird sich Vansittart sehr schnell eines Besseren belehren lassen und wieder die Position des totalen Hitler-Gegners einnehmen. Nur für eine kurze Zeit, im August 1936, war er von dem, was er in Berlin sah, total begeistert. Das ist für mich der schlagende Beweis gewesen, wie perfekt die Inszenierung gewesen sein muss.

Und die Deutschen? Wenn man auf Bilder aus dieser Zeit schaut, wirken die Berliner in diesem Olympiatreiben entspannt und fröhlich.
Ich habe jetzt bei meinen Lesungen viele Leute kennen gelernt, ganz alte Damen und Herren, die fast feuchte Augen bekamen und sagten, was das für eine tolle Zeit gewesen sei. Alles war ja auch perfekt choreographiert. Dazu die vielen technischen Innovationen. Die Sportberichterstattung hat 1936 einen Quantensprung gemacht. Es gab erste Fernsehstuben in Berlin, Potsdam und Leipzig, im Grunde genommen wurde da public viewing erfunden. Es gab erste Live-Übertragungen, im Radio wurde das Event in die halbe Welt übertragen.
Einer, der sich nicht blenden ließ, war der Schauspieler Hubert von Meyerinck, von dem Sie in Ihrem Buch erzählen. Bei den Pogromen 1938 half er Juden.
Meyerinck war einer dieser stillen Helden. Er hat in der Nazizeit Karriere gemacht, hat Film nach Film gedreht, darunter viele Klamotten, die man heute gar nicht mehr kennt. Aber er ist trotzdem, wie ihm Billy Wilder Jahrzehnte später attestierte, anständig geblieben. Einer, der sich nicht hat verbiegen lassen.
Meyerinck war 1936 auch eine illustre Figur im Berliner Nachtleben. Zu den angesagten Adressen gehörte das Restaurant „Horcher“ in Schöneberg.
Das gibt es heute noch, in Madrid. Es wird jetzt von der Enkelin des damaligen Besitzers, Otto Horcher, geführt.

In Berlin schloss das Restaurant 1944. Der Inhaber durfte mit seinem ganzen Mobiliar nach Spanien emigrieren. Wie kam das?
Weil er ein Freund Hermann Görings war. Es ist eine der absurdesten Geschichten des Krieges, dass – während Europa in Flammen aufging – ein Restaurant von Berlin nach Madrid umziehen konnte.
Es gab ja nicht nur „Horcher“ 1936 in Berlin, sondern überhaupt beschreiben Sie ein sehr reges Nachtleben in Ihrem Buch.
Ich habe mir ganz banale Fragen gestellt: Wie und wo ist man feiern gegangen 1936? Gab es so etwas wie eine Subkultur? Hat sich etwas aus den goldenen 20er- in die 30er-Jahre hineingerettet? Oder gab es in dem Berlin von 1936 nur Eisbein und Erbsenpüree? Ich bin da zu überraschenden Antworten gekommen: Es gab in der Tat noch so etwas wie eine subversive Szene, Inseln, auf die der Nationalsozialismus anscheinend keinen Zugriff hatte. Die Swing-Musik zum Beispiel. Berlin war 1936 direkt nach dem Broadway das Epizentrum der Swing-Musik. Man könnte denken, die Nazis hätten 1936 den Swing erlaubt, um sich als besonders weltoffen zu zeigen. Nein, Swing gab es 1934 schon und 1938 auch noch. Teddy Stauffer kam im Sommer 1936 wieder mit seiner Band nach Berlin, er war damals schon eine Berühmtheit. Wenige Tage vor der Eröffnung der Olympischen Spiele hat er seine erste Platte für die Telefunken aufgenommen. Und es folgten 40 weitere Titel bis in den Sommer 1939. Auf der anderen Seite hat der Reichssendeleiter Eugen Hadamovsky, sozusagen der Oberintendant aller Rundfunkanstalten, 1935 gesagt, das Radio müsse swingfrei sein. Zur gleichen Zeit, als die Telefunken – „die deutsche Weltmarke“ – alles daran setzte, den Swing noch viel populärer zu machen. Das ist typisch für den Charakter dieser Diktatur – dass so vieles scheinbar nicht zusammen passte. Es gab auch viele Tanzbars 1936 in Berlin, die Ciro-Bar, die Sherbini-Bar, das Quartier Latin. Alles Etablissements, die sehr mondän waren und von denen man glauben konnte, dass sie Überbleibsel der goldenen 20er-Jahre sind. Die meisten wurden aber erst nach 1933 eröffnet. Ciro und Sherbini haben ihre kurze Glanzzeit während des Dritten Reiches erlebt. Das ist ein interessanter Kontrapunkt zu dem Bild, das man gemeinhin glaubt von Nazi-Berlin zu haben. Außerdem wurden das Ciro und das Sherbini von Ägyptern geführt, das Quartier Latin von einem rumänischen Juden.
...was die Nazis nicht wussten.
Dass dieser rumänische Jude es geschafft hat, sich eine zweite Identität zuzulegen und die Nazis an der Nase herum zu führen – das ist ein tolles Husarenstück gewesen.
Fernseh-und Kinofilme, Bücher – warum stoßen die Olympischen Spielen auch nach 80 Jahren noch auf so großes Interesse?
Weil sie ein Riesenmythos sind, sicherlich eines der großen Ereignisse im 20. Jahrhundert. Man muss es den Leuten auch gar nicht erklären: Berlin, 1936 – Nazi-Olympics, da können Sie auch Amerikaner fragen, die mit Europa nicht viel verbinden, aber das wissen sie schon.
Sollten in Berlin noch einmal unbelastete Olympische Spiele stattfinden?
Ich weiß gar nicht, ob ich Berlin wünschen soll, die Olympischen Spiele ausrichten zu müssen. Das ist mit einem riesigen Einschnitt in die Struktur und in den Alltag der Stadt verbunden.
Oliver Hilmes: „Berlin 1936. Sechzehn Tage im August“, Siedler Verlag, 304 Seiten, 19,99 Euro