Dan Diner, emeritierter Professor für Moderne Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem und Vorstand der Alfred Landecker Stiftung, hat das Konzept für die Ausstellung „Roads Not Taken“ im Deutschen Historischen Museum erarbeitet, die sich mit Wendepunkten und verpassten Chancen der deutschen Geschichte befasst.
Herr Professor Diner, Sie wehren sich gegen den Begriff der „Machtergreifung“. Warum?
Dan Diner: Weil es die Nationalsozialisten selbst waren, die diesen Begriff geprägt haben. Damit sollte insinuiert werden, es habe sich mit Hitlers Ernennung zum Reichskanzler um einen revolutionären Vorgang gehandelt. Das entsprach dem Selbstbild der NSDAP als einer revolutionären Partei. Den tatsächlichen Vorgang beschreibt das Wort Machtübertragung viel zutreffender. Diejenigen, die die Macht in Händen hielten, übertrugen diese Macht in einem bestimmten Augenblick auf Hitler. Er bekam sie gewissermaßen geschenkt. In diesem Sinne war es ein Akt, dem aus heutiger Sicht, aber auch aus Sicht der Zeitgenossen etwas Unerwartetes, vielleicht sogar des Zufälligen zukam. Also etwas, das jenseits von Wahlen oder eines militanten Zugriffs erfolgte.
Inwiefern?
Insofern, als die Macht in den Händen des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg lag. Weil der Reichstag aufgrund einer negativen Mehrheit von Nationalsozialisten und Kommunisten gelähmt war, ist diese Macht aus dem Reichstag mit Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung vom Parlament auf den Reichspräsidenten übergegangen. Diese Macht hat Hindenburg auf Hitler übertragen.
Hindenburg hat sich gewehrt, Hitler zum Kanzler zu berufen. Was hat ihn am 30. Januar bewogen, es dann doch zu tun?
Auch nach inzwischen 90 Jahren liegt dieser Augenblick in gewisser Hinsicht im Dunkeln. Da war auf der einen Seite der greise Reichspräsident, der in Hitler eine Gefahr erkannte. Er und der Kreis um ihn, die sogenannte Kamarilla, waren zwar bestrebt, die Nationalsozialisten in eine Koalitionsregierung einzubinden, aber nicht unter einer Kanzlerschaft Hitlers – das ging zu weit, das war zu gefährlich. Hitler wiederum hat im entscheidenden Jahr 1932/33 eine Politik betrieben, die alle Optionen einer Regierungsbeteiligung außerhalb seiner Kanzlerschaft ausschlug. Für ihn hieß es: alles oder nichts. Das ging so weit, dass er sogar Ende Dezember 1932 seinen Parteigenossen mit Selbstmord drohte. Nun geschah aber etwas, was uns heute nicht in den letzten Details klar ist: Hindenburg empfand offenbar eine von General Kurt von Schleicher ausgehende Bedrohung und damit der Reichswehr. In Berlin waren Gerüchte im Umlauf, dass Schleicher und Kurt von Hammerstein die Potsdamer Garnison in Bewegung setzen würden, um militärisch einzuschreiten, sogar, dass Hindenburg auf sein Gut Neudeck abgeschoben werden würde.
Hinzu kamen Intrigen Franz von Papens, den Schleicher in der Reichskanzlei abgelöst hatte.
Papen gelang es, sich das Vertrauen Hindenburgs zu erschleichen. Er insinuierte, eine Koalitionsregierung mit parlamentarischer Mehrheit könne herbeigeführt werden und nicht, wie von Hitler begehrt, ein Präsidialkabinett. Auf seiner Kabinettsliste war die Position des Justizministers offengelassen, so dass Hindenburg den Eindruck gewinnen konnte, das Zentrum würde noch hinzutreten. In der Anspannung und der Befürchtung, die Reichswehr würde eingreifen, hat Hindenburg Hitler ein Präsidialkabinett auf Grundlage des Artikels 48 gewährt. Am 28. oder am 29. Januar wäre keiner eine Wette eingegangen, dass Hitler tags darauf Reichskanzler würde. Alle dachten an Papen.
Zumal sich die Nationalsozialisten im Abschwung befanden.
Bei den Reichstagswahlen im November 1932 hatten die Nazis zwei Millionen Stimmen verloren. Das war erheblich. Hinzu kam noch etwas anderes: Ein leicht fühlbarer wirtschaftlicher Aufschwung. Deutschland war noch mitten in der Weltwirtschaftskrise, aber die Maßnahmen begannen zu greifen. Man empfand schon im Herbst 1932 einen langsamen Aufschwung in der Wirtschaft und es gab auch Pläne von größeren Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Die Nazis waren im Januar 1933 in einer großen Krise, auch finanziell. Sie waren eigentlich bankrott, die Partei war im Auseinanderfallen begriffen.
Sie halten es auch für möglich, dass die Sache noch wenige Minuten vor seiner Ernennung zu Hitlers Ungunsten hätte ausgehen können. Können Sie das erläutern?
Es gibt eine berühmte Szene, die sich im Vorzimmer Hindenburgs kurz vor der Einschwörung abspielte. Wir sehen Adolf Hitler, den ehemaligen Zentrums-Politiker und inzwischen parteilosen Franz von Papen, den Medienmogul und Vorsitzenden der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), Alfred Hugenberg, den für den Posten des Reichsinnenministers vorgesehenen NSDAP-Mann Wilhelm Frick und Otto Wagener, Hitlers Wirtschaftsberater. Hugenberg berichtete später, wie sich Hitler und er über die Frage von Neuwahlen entzweiten. Hugenberg war klar, dass die DNVP bei schnellen Neuwahlen nur Verluste einfahren konnte – zugunsten der NSDAP. Hitler insistierte, der Reichstag müsse sofort aufgelöst und Neuwahlen ausgeschrieben werden. Hugenberg sagte: So haben wir nicht gewettet. Er stand auf, um seinen Mantel und seinen Regenschirm zu ergreifen, alles schien zu platzen. In diesem Moment trat Meissner, der Staatssekretär beim Reichspräsidenten, in den Raum und sagte: „Meine Herren, wir können den Herrn Reichspräsidenten nicht weiter warten lassen.“ So wurde das Kabinett Hitler eingeschworen.
Wie konnte Hitler so sicher sein, bei den von ihm alsbald ausgerufenen Neuwahlen zu obsiegen?
Ihm war klar, dass er mit der Macht in Händen den politischen Gegner verfolgen und ausschalten konnte. Die KPD konnte er gewissermaßen aus dem Wahlvorgang herausrechnen, auch wenn sie natürlich noch zur Wahl stand. Die SA betrieb ihren Terror, die Sozialdemokraten waren eingeschüchtert. Zu den Wahlen im März 1933 muss man aber auch festhalten, dass auch hier die Nationalsozialisten von einer absoluten Mehrheit sehr weit entfernt waren, auch wenn ihnen der Reichstagsbrand zuvor Wind in die Segel getrieben hatte.
Hätte Hitler verhindert werden können?
Ich denke schon. Aber nicht im Sinne eines demokratischen Regimes an seiner Stelle. Dieser Weg war 1933 verbaut. Die Aussage fällt nicht leicht, aber 1933 gab es nicht mehr die Wahl zwischen Demokratie und Diktatur, sondern die Wahl zwischen der einen Diktatur und einer anderen Diktatur. Einer Militärdiktatur vielleicht oder einer konservativen Diktatur, wie sie Schleicher offenbar vorschwebte. Sie wäre dann mit Diktaturen und autoritären Regimen vergleichbar gewesen, wie sie seinerzeit vielfach in Europa bestanden haben, so etwa in Polen und in Ungarn. Östlich von Deutschland waren in den 1920er- und 1930er-Jahren autoritäre Regime fast selbstverständlich, nur die Tschechoslowakei noch demokratisch. Aber das wäre, im Nachhinein betrachtet, ein großer Unterschied zur Hitler-Diktatur gewesen. Nach dem Tod von Hindenburg hat Hitler relativ schnell den Führerstaat etabliert, es gab keine Machtinstanz neben ihm. Solch eine absolute Herrschaft bestand nicht einmal im faschistischen Italien, wo der faschistische Großrat 1943 Mussolini absetzen konnte. In Italien bestand noch die Monarchie. Das gab es in Deutschland nicht. Es gab keine Machtinstanz neben Hitler.
Das Scheitern der Weimarer Republik bewegt bis heute. Lag der Geburtsfehler in der Verfassung?
Die Weimarer Verfassung war äußerst liberal und offen, und die Bundesrepublik hat später viel aus ihrem Scheitern gelernt. Allein, dass wir in der Bundesrepublik so etwas wie ein konstruktives Misstrauensvotum haben, ist den Erfahrungen mit der ersten Demokratie in Deutschland zu danken. In Weimar konnten Nationalsozialisten und Kommunisten mittels der negativen Mehrheit jede Regierung stürzen, ohne eine Alternative anbieten zu müssen. Das ist heute nicht mehr möglich.