Sie ist nicht ganz schwindelfrei. Aber als der Fotograf sie fragt, ob sie für das Foto nicht auf den Trägerbalken an der Wand will, klettert sie tapfer die paar Meter hoch. Ein wenig eitel, schmunzelt die Schauspielerin, sei sie ja schon. Und dass das ein gutes Motiv gibt, weiß sie auch. Außerdem hat sie das Bühnenbild ja selbst entwickelt und schickt auch andere Darsteller dort hinauf. Da steht sie nun also. Und wir müssen sofort an ihre Website denken, wo als erstes ein Bild aufpoppt, auf dem die 60-Jährige adrett in Kostüm und Pumps auf einem Sprungbrett steht.
Es ist also kein Zufall, dass die Schauspieler in ihrer Regiearbeit auch auf so eine Art Sprungbrett müssen. Es ist ein Sinnbild – für die Angst des Schauspielers. Denn Schauspieler, so Petra Zieser, müssten sich immer in unglaubliche Gefahr begeben. „Ständig zieht man sich die Hosen aus, man ist so pur, und alle gucken einem dabei zu, wie man aus schwindelnder Höhe in Gefühle reinspringt.“ Deshalb hat sie das Bild für ihre Website gewählt.
Die Angst des Schauspielers vor dem Fall
Auch im übertragenen Sinn steht die Zieser jetzt wieder auf so einem hohen Brett. Weil sie zum ersten Mal am Grips-Theater ein Stück inszeniert. Regie hat die Schauspielerin schon öfter geführt. Aber noch nie hier. Dabei verbindet man sie zuerst mit diesem Haus. Hier gehörte sie in den 1980er-Jahren zum Ensemble, hier hat sie in der legendären „Linie 1“ gespielt, auch in der Verfilmung, die sie wie ihre Mitspieler Dieter Landuris oder Ilona Schulz bekannt machte. Noch heute, nach 30 Jahren, wird sie darauf angesprochen, wenn sie beim Bäcker Brötchen kauft.
Eine ganze Generation ist mit dem Stück sozialisiert worden. „Ich erzähle“, schmunzelt die Grips-Veteranin, „dann immer vom Krieg.“ Also wie das damals war. Und noch heute hat sie mit dem Stück zu tun. Denn die „Linie 1“ steht nach wie vor auf dem Spielplan des Grips, und wann immer neue, jüngere Schauspieler dazukommen, ist Petra Zieser diejenige, die sie in die Produktion einarbeitet.
Zieser, die aus vielen Film- und Fernsehauftritten bekannt ist und auch im Vorstand der Deutschen Filmakademie sitzt, ist dem Grips also eng verbunden. Und als Philipp Harpain, seit 2017 der neue Leiter des Grips, sie fragte, ob sie nicht auch mal Regie hier führen würde, und dann gleich für eine Abendproduktion, nicht für die Kindervorstellungen nachmittags, hat sie sofort zugesagt. „Ich war hier einfach fällig“, sagt sie mit Nachruck, „auch für mich.“ Aber natürlich ist ihr klar, dass ihr später Regie-Einstand hier mit großer Aufmerksamkeit betrachtet wird. Wenn sie darüber nachdenkt, gesteht sie, „kriege ich Adrenalinausschüttung“.
„Phantom (Ein Spiel)“, das am Donnerstag Premiere hat, ist das neue Stück von Lutz Hübner und Sarah Nemitz, von denen der Bühnenhit „Frau Müller muss weg“ stammt. Begonnen haben sie damit noch vor der großen Flüchtlingswelle, nun handelt es ganz aktuell von Arbeitsmigration, Parallelgesellschaften und Vorurteilen. In einem Fastfood-Restaurant finden die Mitarbeiter beim Aufräumen ein Baby. Auf der Überwachungskamera sind Phantombilder einer Frau mit Kopftuch zu sehen. Sofort ist klar: Das muss die Mutter sein. Und die Mitarbeiter überlegen, warum sie ihr Kind wohl hier ausgesetzt hat.
Ein Spiel mit vielen Ebenen
Ein Spiel mit vielen Ebenen. Die Schauspieler steigen aus dieser Rahmenhandlung aus und springen wechselweise in die Figuren, denen sie nachspüren. Das ist schwierig zu inszenieren, gibt Zieser zu. Deshalb hat sie den Balken als zusätzliche Ebene eingebaut. Und dann gibt es noch drei Märchen in dem Stück, die ziemlich herausfallen, Monologe, die quer stehen zum Rest des Stücks. Dafür hat sie eine weitere Ebene mit Trickanimationen eingeführt.
Ihre Tochter beginnt gerade ein Animationsstudium, so kam sie auf die Idee. Nächtelang hat sie sich „durchs Internet gegraben“ und ist dabei schließlich auf Arbeiten von Gregor Dashuber gestoßen. Ihr war klar, das kann man nie bezahlen. Trotzdem nahm sie Kontakt mit ihm auf. Und er hat sofort zugesagt und sein Kollektiv „Talking Animals“ mit ins Boot geholt.
Nun steht Petra Zieser auf dem Balken, während neben ihr die Animationen an die Wand projiziert werden. Die Schauspieler haben gerade Pause, das Kollektiv tüftelt am Sound. Wie ist das nun, plötzlich als Regisseurin am Grips zu arbeiten? „Ich sage immer, das ist mein Stall“, lacht sie, nachdem sie wieder nach unten geklettert ist. „Das Grips hat mich geprägt, auch in meiner Haltung zum Theater und zur Spielweise.“ Sie habe hier viel gelernt, kenne das Haus, den Spirit. Sie musste auch keine Schere im Kopf haben, keiner sagte, das darfst du nicht, wie das bei anderen Häusern vorkam. Petra Zieser weiß, alle haben hier totales Vertrauen in sie. „Ich kann also in einem geschützten Raum arbeiten.“ Das ist ganz wichtig für sie.
Sie spricht ganz offen darüber, mehr als die meisten Kollegen ihres Fachs, wie viel Angst sie selbst als Schauspielerin hat. Immer. Die Angst vorm Fallen. Und manche Regisseure, auch Regisseurinnen, die nur Machtspielchen ausüben. Aber weil sie das immer wieder am eigenen Leib erfahren hat, weiß sie umso mehr, was Schauspieler brauchen. Und schafft ihnen ebenfalls einen Schutzraum, in dem die sich ganz angstfrei bewegen können. Für ihre Arbeit als Regisseurin findet sie ebenfalls ein schönes Sinnbild: „Man muss absolut leiten können. Muss im Dunkeln vorgehen und immer so tun, als wisse man, wo’s langgeht.“ Als Regisseur, findet sie und muss selber schmunzeln, „ist man eigentlich ein Pfadfinder“.