Es ist eines der schönsten Kinderbücher aller Zeiten. Für Kinder sind Plüschtiere die besten Freunde, und alle Kleinen träumen davon, sie könnten einmal zu echtem Leben erweckt werden, sodass man richtig mit ihnen spielen kann. In „Pu der Bär“ wird dieser Traum wahr. Seit das Buch 1926 veröffentlicht wurde, sind Generationen von Heranwachsenden mit den Geschichten von A. A. Milne und den ikonographischen Illustrationen von E. H. Shepard groß geworden. Und selbst wer die Bücher nie gelesen haben sollte, kennt die Figuren durch die nicht weniger berühmten Disney-Zeichentrickfilme, die Shepards Zeichnungen zum Laufen brachten.
Nun gibt es in diesem Sommer gleich zwei Filme zu diesem Thema. Aber nicht zwei Filme über den Erschaffer des Werks. Auch nicht über den Bären. Sondern über Pus menschlichen Freund, der tatsächlich der Sohn des Autors war: Christopher Robin. Dieser Doppelaufschlag überrascht, denn es steht kein feiernswerter Jahrestag an, weder der 100. Geburtstag des Buchs (der ist erst in acht Jahren) noch ein Todestag des Autors (Milnes starb 1956) oder gar seines Sohnes (er starb 1996).
Ein Trauma wird bewältigt, ein anderes damit erst ausgelöst
Am 16. August kommt der Film „Christopher Robin“ ins Kino, in welchem dem erwachsenen Sohn des Autors (dargestellt von Ewan McGregor) all die Plüschtierlieblinge seiner Kindheit computer-animiert wiederbegegnen. Eine bonbonbunte Kindheitsfantasie aus dem Hause Disney, das ja zur Zeit all seine alten Trickfilmklassiker real neu verfilmt. Bereits diese Woche startet ein Film, der schon im Titel wie ein Gegenentwurf klingt: „Goodbye Christopher Robin“, und der das tieftraurige, abgründige Drama hinter dem berühmten Buch erzählt.
Es ist die Geschichte eines Traumas. Das des gefeierten Londoner Bühnenautors Alan Alexander Milne (Domhnall Gleeson), der um seine Jugend betrogen und traumatisiert aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrt. Er will keine Lustspiele mehr schreiben, kann die Leute nicht mehr zum Lachen bringen, will sie stattdessen gegen alle künftigen Kriege mobilisieren. Wann immer ein Sektkorken knallt oder ein Scheinwerfer aufblitzt, fühlt er sich ins Trommelfeuer zurückkatapultiert. Und flüchtet aufs stillere Land, nach Sussex.
Seine Frau (Margot Robbie) ist davon keineswegs erbaut. Auch als ihr Sohn geboren wird, frönt sie lieber dem fernen Gesellschaftsleben und überlässt Christopher Robin dem Kindermädchen (Kelly Macdonald). Als die eines Tages wegen eines Todesfalls unvermittelt abreisen muss, sieht sich der Vater, der sich bis dahin auch nie groß um den Jungen (Will Tilston) gekümmert hat, plötzlich allein mit ihm.
Und beginnt, so ungelenk er sich dabei auch erst anstellt, mit ihm und seinen Plüschtieren, dem Bär, dem Esel und dem Schweinchen zu spielen. Und mit ihnen durch den Wald zu streifen. Nun bringt nicht mehr er die Leute, sondern sein Kind ihn zum Lachen. Aus Dank und Übermut schreibt er ihre gemeinsamen Abenteuer auf. Lädt seinen Freund, den Illustrator Shepard ein. Und gemeinsam machen sie sich an das Buch „Pu der Bär“.
Hier könnte der Film zu Ende sein. Happy End durch Selbstheilung. Doch das ist das Besondere von Simon Curtis’ Film: Der ist gerade mal in der Hälfte angelangt und erzählt plötzlich eine ganz andere Geschichte. Von einem anderen Trauma. Dem des Jungen. Denn „Pu der Bär“ wird nicht nur ihm geschenkt, es erscheint im Buchhandel, wird ein Kassenschlager, wird bald fortgesetzt. Alle Welt kennt, alle Welt liebt „Winnie the Pooh“, wie das Buch im Original heißt.
Alle Kinder haben plötzlich einen Stoffteddy wie Christopher Robin, auch die Plüschtiere finden reißenden Absatz. Und nicht nur der Autor, auch sein Sohn wird zur Berühmtheit, ein Pop-Star, auch wenn es das Wort noch nicht gibt. Der Junge wird ständig fotografiert, muss Interviews geben, Passanten sprechen ihn auf der Straße an. Aber zu Hause muss er weiterhin allein spielen, während seine Eltern sich im fernen Amerika vergnügen. Und wenn sie ihn zum Geburtstag anrufen, ist auch da noch das Radio live dabei.
Zum zweiten Mal bricht der Film mit einer scheinbar heilen Welt. Alles beneidet Christopher Robin um die Kindheit, die er nie gehabt hat, um die er beraubt wurde. Größer geworden (und nun gespielt von Alex Lawther), hasst er den Rummel um seine Person – und um seinen Teddy. Als verhätscheltes Promi-Kind wird er in der Schule gehänselt, verspottet und verprügelt. Um endlich eigenständig wahrgenommen und akzeptiert zu werden, entscheidet er sich, Soldat zu werden. Die finsterste Pointe, die sich kein Drehbuchautor hätte ausdenken können: Ausgerechnet der kriegslädierte Pazifist treibt ungewollt seinen Sohn in den Krieg.
Es ist ein bitterer Film, den Simon Curtis da entwickelt, trotz all der versöhnlichen Elemente, die er immer wieder aussendet. Ein Trauma, das zu Lasten eines anderen bewältigt wird. Und die tragische Geschichte eines Kinder-Stars wider Willen. Christopher Robin Milne wollte später selber Schriftsteller werden, wie der Vater, doch dieser Traum blieb ihm verwehrt, da keine Literatur „von einer Kinderbuchfigur benötigt“ wurde. Er eröffnete stattdessen eine Buchhandlung, handelte also mit den Werken anderer. Wollte nie wieder ins Haus seiner Kindheit zurück. Und fühlte sich ein Leben lang in einer „ewigen Kindheit“ gefangen.
„Pu der Bär“ schenkt bis heute Millionen Menschen Freude. Der Initiator des Ganzen aber hat dafür einen hohen, den höchsten Preis gezahlt. Verrückt, dass diese Geschichte nicht längst bekannt und erzählt ist. Noch verrückter indes, dass demnächst ein zweiter Film startet, der das Ganze mit typischem Disney-Zuckerguss wieder verklärt.