Berliner Spaziergang

Marion Döring, ewige Streiterin für Europa

| Lesedauer: 13 Minuten
Sonst joggt sie die Strecke, mit uns spazierte sie hier: Marion Döring, Präsidentin der Europäischen Filmakademie, am Spreeufer, hier gegenüber vom Reichstag

Sonst joggt sie die Strecke, mit uns spazierte sie hier: Marion Döring, Präsidentin der Europäischen Filmakademie, am Spreeufer, hier gegenüber vom Reichstag

Foto: jörg Krauthöfer /Funke MedienGruppe

Seit 30 Jahren ist sie bei der Europäischen Filmakademie. Ein Spaziergang mit Marion Döring.

Eigentlich ist sie keine Spaziergängerin. Marion Döring joggt lieber. Früher lief sie von Halensee, wo sie wohnt, bis zum S-Bahnhof Friedrichstraße und zurück. Das sind gut 22 Kilometer. Ein Halbmarathon. Auch heute noch läuft sie drei Mal die Woche, sieben bis acht Kilometer am Werktag, zehn bis zwölf am Wochenende. „Da kriegt man den Kopf frei“, meint sie, „irgendwann ist man auf Autopilot. Manchmal vergesse ich dann sogar, dass ich laufe.“ Diese Ausdauer kann sie für ihren Job gut gebrauchen.

Marion Döring ist Geschäftsführerin der Europäischen Filmakademie (EFA), die ihren Sitz in Berlin am Kurfürstendamm hat. Sie ist auch mitverantwortlich für den Europäischen Filmpreis, der von der Akademie alljährlich verliehen wird. Am 15. Dezember zum 31. Mal, diesmal in Sevilla. Die 65-Jährige ist seit der Gründung der Akademie, also seit genau 30 Jahren, dabei – und eigentlich, mit ihrer markanten Brille, die in all den Jahren nur die Farbe, nicht aber die Form gewechselt hat, das Gesicht der EFA. Diese Bezeichnung findet sie zwar „ein bisschen vermessen“. Es gebe viele Köpfe, die da wirken. Aber die Kontinuität, das muss sie zugeben, das sind Wim Wenders, der Akademie-Präsident, und sie. Und Wenders dreht halt auch noch viele Filme. Während Marion Döring ganz für die EFA zuständig ist. Eine wichtige Institution, von der viele allerdings gar nicht wissen, dass es sie gibt. Oder was die überhaupt so tut.

Ständig unterwegs, kreuz und quer durch den Kontinent

Deshalb treffen wir uns zum Spazieren. Marion Döring wählt eine Route, die ihr vom Joggen vertraut ist: von der Akademie der Künste am Hanseatenweg aus überqueren wir die Moabiter Brücke und laufen an der Spree entlang mit Ziel Friedrichstraße. Die Route hat sie jedoch aus einem anderen Grund ausgesucht: Weil man die vor 30 Jahren, „als das alles anfing mit uns“, noch gar nicht hätte langlaufen können. Da teilte die Stadt noch eine Mauer, den Kontinent noch ein eiserner Vorhang.

Die ersten Fotos werden gleich auf der Brücke gemacht, die lange eine Baustelle war. Erstaunlich viele Passanten nutzen sie an diesem kalten Morgen. Marion Döring lässt den Fotografen geduldig machen, als sei sie es gewöhnt, im Rampenlicht zu stehen. Aber kaum sind die Fotos geschossen, knüpft sie genau da an, wo wir das Gespräch unterbrochen haben. Natürlich, müssen wir uns entschuldigen, geht es erst mal um die leidigen Fragen. Aber noch bevor wir sie stellen können, meint sie, sie wisse schon, welche: Was macht die EFA eigentlich das ganze Jahr? Und, auch das hört sie oft: Ist das überhaupt ein Fulltime-Job?

Das ist es allerdings. Die Akademie zählt derzeit über 3500 Mitglieder aus 53 Ländern – also weit mehr als das, was man politisch unter Europa versteht –, die man erst mal zusammenbringen muss. Für die Preisverleihung hat die Akademie eine eigene, gemeinnützige Firma gegründet, EFA Productions, bei der Marion Döring ebenfalls Geschäftsführerin ist. Der Preis wird an allen ungeraden Jahren in Berlin, dem Stammsitz, verliehen, an den geraden aber in immer anderen europäischen Städten. Da muss man mehrere Kandidaten inspizieren, Locations auswählen, Geldgeber gewinnen, die Veranstalter vor Ort betreuen. Zur Verleihung kommt dann die Crème de la Crème des europäischen Kinos zusammen. Aber im Gegensatz etwa zum Deutschen Filmpreis, wo sich alle im Saal kennen, sind hier viele Stars über ihre Landesgrenzen hinaus kaum bekannt. Die muss man erst mal zusammenführen. Der Europäische Filmpreis, sagt die Geschäftsführerin nicht ohne Stolz, „ist die einzige pan-europäische Kulturveranstaltung, die einmal im Jahr zusammenkommt.“

Daneben betreut die Akademie viele andere Projekte: etwas „A Sunday in the Country“, wo junge Filmemacher aus zehn Ländern zu einer Landpartie zusammenkommen. Oder der Young Audience Award, wo Jugendliche im Mai in 34 Ländern drei Filme sehen und, ähnlich wie beim Eurovision Song Contest, den Sieger küren. Darüber hinaus führt die Akademie die Liste „Schätze der europäischen Filmkultur“, um Stätten mit besonderer Bedeutung für die Filmgeschichte zu würdigen, und unterhält viele Kooperationen mit Filmfestivals. Ständig reist Marion Döring dafür quer durch Europa. Am Ende eines Jahres muss sie selber im Kalender schauen, wo sie überall war.

Noch so eine Frage, die man stellen muss, auch wenn man weiß, dass sie sie nicht gern hört, ist die nach dem Oscar. Der Europäische Filmpreis wird immer wieder mit dem großen Bruder aus Hollywood verglichen, auch gern Euro-Oscar genannt. Nervt das eigentlich? „Ehrlich gesagt: ja“, gibt Marion Döring offen zu. Der Oscar sei doch eine ziemlich lokale Veranstaltung. Der werde immer am selben Ort verliehen, die Leute kämen dafür nur von ihren Hollywood-Hügeln runter. „Bei uns kommen die Leute aus allen möglichen Ländern, immer an einen anderen Ort. Und es ist uns ein Anliegen, den Veranstaltungsort mit einzubinden.“ Ganz bewusst würde auch nicht der „Beste Film“ gekürt wie bei der Amerikanischen Filmakademie, sondern der „Europäische Film“ des Jahres.

Der Vergleich, wenden wir ein, hat natürlich auch damit zu tun, dass der Europäische Filmpreis nicht, wie der Oscar in den USA, der César in Frankreich oder der Goya in Spanien einen Namen hat. Anfangs hieß er noch Felix, „der Glückliche“. Aber dem war kein Glück beschieden, der Name setzte sich nicht durch. 1996 hat man ihn deshalb abgelegt. Es sei auch schwer, einen zu finden, der in ganz Europa Bestand hat, Felix etwa, so heißt in Norwegen ein Katzenfutter. Die Geschäftsführerin gibt zu, dass man auch in der Akademie immer wieder darüber nachdenkt, ob man nicht doch einen Namen finden müsste. „Aber das kann man nicht erzwingen“, sagt sie. Und fragt gleich: „Wüssten Sie einen?“

Durch reinen Zufall zur Adakemie gekommen

Wir sind jetzt auf der Höhe des Bundeskanzleramts angelangt. Das Licht ist schön herbstklar, man kann deutlich den Fernsehturm sehen, die Luft riecht nach gefallenem Laub. Hier kommen uns mehrere Jogger entgegen. Marion Döring überkommt, wie sie zugibt, in solchen Momenten immer Neid. „Weil ich weiß, wie die sich fühlen.“ Joggen sei das Einzige, was sie bei ihrem Beruf überall machen könne. Deshalb sind die Laufschuhe immer im Koffer. Und in Städten, in denen sie öfter ist – in Cannes etwa oder in Sevilla, wo immer auf dem Filmfestival im November die Nominierungen für den Europäischen Filmpreis bekannt gegeben werden –, da hat sie sogar feste Laufstrecken.

Der Weg zur EFA kam dagegen ganz zufällig zustande. Marion Döring kam 1980 nach Berlin, weil ihr damaliger Mann, ein Schauspieler, hierher wollte. Sie hat als freie Journalistin gearbeitet. Als sie im Vorfeld zur 750-Jahr-Feier der Stadt Berlin im Jahr 1987 eine Porträt-Serie über die Veranstalter schrieb, fragte man sie, ob sie nicht die Pressearbeit dafür übernehmen wolle. Das tat sie, aber noch im Laufe des Festjahres wechselte sie zum nächsten Projekt „E 88“, als Berlin 1988 zu Europas Kulturhauptstadt ernannt wurde – oder „Kulturstadt“, wie es damals noch hieß.

Zum Ende jenes Jahres wurde ein Europäischer Filmpreis verliehen, das sollte eigentlich eine einmalige Veranstaltung sein. In der Nacht vor der Verleihung gab es dann ein historisches Treffen in einer Suite im Kempinski, lauter Granden des Europäischen Kinos hockten da auf Sesseln und Betten, Bernardo Bertolucci, István Szabó, Wim Wenders, Ben Kingsley, Isabelle Huppert. Und Marion Döring mittendrin, die sich fragte, wie sie dahin gekommen war. Alle beklagten, dass „Europäisches Kino“ fast ein Schimpfwort geworden sei. Alle wollten was dagegen tun. Das war der Startschuss für die Europäische Filmakademie. Volker Hassemer, der damalige Berliner Kultursenator, hat das unterstützt. Meinte aber, dann müsse es auch einen regulären Europäischen Filmpreis geben und die Akademie müsste ihn verleihen. So kam das eine zum anderen. Und Marion Döring war immer mit dabei. Erst als Pressereferentin, dann seit 1996 als Geschäftsführerin. Sie habe einfach Glück gehabt, meint sie, und staunt selbst manchmal darüber.

Eine Woche vor der zweiten Verleihung fiel die Mauer. Auch an der Stelle, wo wir gerade entlanglaufen. Europa wuchs wieder zusammen. Ein Hochgefühl. Gleichwohl musste sich die Akademie von Jahr zu Jahr durchhangeln. „Es ist eigentlich erstaunlich, dass wir nach 30 Jahren immer noch existieren.“ Der Tiefpunkt kam 1996, als das Land Berlin die EFA nicht mehr finanzieren wollte und sie, wie auch das Schiller Theater, aus dem Landeshaushalt warf. Das musste die EFA von der Nachrichtenagentur dpa erfahren, die um eine Stellungnahme bat. Die nächsten Preisverleihungen fielen etwas kleiner aus, aber schon bald fanden sich neue Geldgeber: das Bundeswirtschaftsministerium (heute BKM), das Filmboard Berlin-Brandenburg (heute Medienboard) und die Stiftung Deutsche Klassenlotterie.

Wie eine kleine Arche, die noch mal alle einsammelt

Heute ist die EFA eine gefestigte Institution. Und es frustriert Marion Döring schon, dass europäische Filme nicht so wahrgenommen werden, wie sie es verdient hätten. „Alle reisen mit Easyjet, aber so richtig erlebt man ein fremdes Land an einem Wochenende eher nicht. In einem Film schon.“ Sie wird da ganz leidenschaftlich. „Filme sind Botschafter unserer Welt. Das muss mehr gepflegt werden. Und das ist keine Eigenveranstaltung von uns, sonst kann das nichts werden.“ Die Länder, die Industrie, Medien, Institutionen, alle müssten viel stärker daran mitwirken. Gerade in Zeiten, wo überall der europäische Gedanke verloren geht und nationalistische Stimmen immer lauter werden.

Marion Döring findet diese Entwicklung beängstigend: „Ich verstehe nicht, warum die Menschen nicht sehen, was Europa alles geschaffen hat. An Bewegungsfreiheit. Und Frieden.“ Sie findet das vor allem schlimm für die nachkommenden Generationen, die darunter leiden werden. Ist die EFA da sowas wie die letzte Bastion der EU? Ja, manchmal kommt es auch ihr so vor, „als wären wir eine kleine Arche Noah, die noch mal alle einsammelt.“ Es gebe keine andere Veranstaltung, auf der so viele etwas zugunsten von Europa sagen würden. Vor zwei Jahren wurde der Preis in Breslau verliehen, was viele für keine gute Wahl hielten angesichts der politischen Entwicklung in Polen. Aber der Bürgermeister der Stadt hat auf der Bühne die Europafahne entrollt und sich vehement für ein vereintes Europa ausgesprochen. Diese Kooperation, meint Marion Döring, sei eine der besten Erfahrungen gewesen, die sie je gemacht habe.

Langsam denkt sie ans Aufhören

Sie redet sich bei diesem Thema richtig in Emphase. Längst sind wir an unserem eigentlichen Ziel Friedrichstraße vorbeigelaufen und steuern bereits den Hackeschen Markt an. Ausdauer, wie gesagt, hat sie. Noch eine etwas gewagte Frage: Fühlt sie sich als eine Art „Mutti des europäischen Kinos? „Wie Mutti Merkel, meinen Sie? Nee!“ Aber immerhin: Sie hat eine ganze Generation von Filmemachern begleitet. Bei der ersten Filmpreis-Verleihung 1988 wurde Pedro Almodóvar noch als Entdeckung des Jahres gefeiert, damals „ein Jungspund“. Heute ist er ein Veteran des europäischen Films. „Aber das Tolle an diesen Filmschaffenden ist, dass sie nicht älter werden. Sie haben nie ihre Neugier verloren und gehen mit großen Augen durch die Welt. Eigentlich“, bilanziert sie, „begleite ich eine Akademie, die, auch wegen ihrer vielen jungen Mitglieder, nicht welkt“.

Die begleitet sie freilich nicht mehr lange. Sie steht zu ihrem Alter. Sie könnte im Januar in Rente gehen. Das tut sie nicht, aber sie bereitet ihren Abschied vor. In zwei Jahren soll es soweit sein. „Ich finde, nach 30 Jahren muss jetzt auch mal eine andere Generation ran.“ Die weiter streiten muss. Für Europa.