Die Filmwelt ist in großer Unruhe. Es dräut nicht weniger als ein Kulturkampf. Die Gretchenfrage, die sich die Branche stellen muss, müsste lauten: Wie hältst du’s mit den Plattformen? Genauer: Wie mit Netflix? Denn ausgerechnet an einer kleinen Netflix-Produktion entzündet sich derzeit eine große Debatte: „Roma“, ein sehr persönliches Porträt des mexikanischen Regisseurs Alfonso Cuáron über das Hausmädchen, mit dem er groß wurde. Eine kleine Geschichte, in der sich die große spiegelt und ein Gesellschaftspanorama vom Mexiko der 70er-Jahre entwickelt, aufgenommen in grandiosen, poetischen Schwarz-Weiß-Bildern. All das ist, was man gemeinhin großes Kino nennt, wird aber, das ist die Ironie, nicht groß im Kino zu sehen sein.
Wie hältst du’s mit Netflix? Die Ersten, die sich die Frage stellen mussten, waren die Filmfestivals. Cannes hat sie klar beantwortet. Dort kommt nur aufs Festival, was dann auch ins Kino kommt. Also wurde „Roma“, den Netflix dort eingereicht hat, abgelehnt. Der Konkurrent in Venedig hat sofort zugegriffen. „Roma“ lief dort nicht nur im Wettbewerb, sondern gewann auch den Hauptpreis, den Goldenen Löwen.
Wie hältst du’s mit Netflix? Das wird sich demnächst auch die Film-Academy in Hollywood fragen. Denn schon jetzt werden dem Film von Cuarón, dessen „Gravity“ 2013 sieben Oscars gewann, große Oscar-Chancen eingeräumt. Es könnte das erste Mal sein, dass eine Netflix-Produktion gar in der Hauptkategorie als Bester Film reüssiert.
Wie hältst du’s mit Netflix? Das müssen sich jetzt auch die Kinos fragen. Denn für einen Oscar kann ein Film erst nominiert werden, wenn er für eine gewisse Weile im Kino lief. Und weil der Oscar noch mehr Renommee verspricht als ein Festivalhauptpreis, lässt Netflix „Roma“ in Deutschland ab dem heutigen Donnerstag gönnerisch in, wie das umschrieben wird, „ausgewählten Kinos“ laufen.
Aber nur eine Woche lang und nur an drei Tagen, dann ist er schon auf der Plattform abrufbar. Wie viele Zuschauer für „Roma“ ins Kino gehen, dürfen die „ausgewählten“ Lichtspielhäuser nicht verraten. Was top oder Flop ist, bleibt bei Netflix Chefetagensache. Die meisten Kinos wollten sich darauf nicht einlassen. In Berlin läuft „Roma“ daher nur in drei Kinos, in der Astor Filmlounge, im Cinestar im Sony-Center und in der Kulturbrauerei. Ganze neun Vorstellungen für eine Kinometropole wie Berlin.
Keine Kinoauswertung: der Western der Coen-Brüder, „The Ballad of Buster Scruggs“ kam gleich bei Netflix heraus picture alliance / Everett Collection
Bislang hat Netflix wie Amazon und andere Streamingdienste vor allem dem Fernsehen das Leben schwer gemacht, mit aufwendigen Serien. Das verfängt zumindest beim jungen Publikum. Nun aber sagt Netflix auch dem Kino den Kampf an. Indem es seine Talente abwirbt. Gerade erst hat Netflix das jüngste Werk der Brüder Coen, die schräge Western-Hommage „The Ballad of Buster Scruggs“ gestartet, ganz ohne Kinoauswertung. Die Prestigeproduktion für 2019 soll das neue Epos von Martin Scorsese sein, „The Irishman“ mit Robert De Niro und Al Pacino.
Dass sich die Debatte nun gerade an „Roma“ entzündet – nicht gerade ein Blockbuster, von dem man weder erwarten wird, dass er auf Netflix Millionen mal abgerufen wird, noch, dass er Scharen neuer Abonnenten anziehen wird –, liegt an dem Umstand, dass Netflix zwar die Meriten der Branche sucht, Premierenrummel, Filmpreise und die damit verbundene Berichterstattung, sich aber nicht an die gängige Praxis hält und Kinos als reine Werberampe missbraucht – zu eigenen Konditionen. „Wir hätten ,Roma‘ gern gezeigt, aber nicht unter Bedingungen, die letztlich das Kino zerstören“, sagt Christian Bräuer, der Geschäftsführer der Berliner Yorck-Kinogruppe und zugleich Vorsitzender des Verbandes AG Kino, der 700 Arthousekinos vereint.
Bislang zählt für einen Film eine Viermonatsfrist im Kino, danach kommt die Zweitverwertung auf DVD und Blu-ray und zwei Jahre später die Ausstrahlung im Fernsehen – oder das Abrufen per Stream. Netflix aber will diese bewährte Praxis umgehen und austesten, was derzeit möglich ist. Man darf sich da nichts vormachen, so Bräuer: „Das ist ein Global Player, der alles plattwalzen will. Nicht aus Boshaftigkeit, das ist einfach sein erzkapitalistisches Geschäftsmodell: Was im Wege steht, wird weggefegt.“ Wenn diese Praxis erst mal einreißt, werden als Erstes die kleinen Verleiher verschwinden, die noch für Kinovielfalt sorgen. Und als Nächstes die Kinos.
Die Branche steht damit vor einer Zeitenwende, einem radikalen strukturellen Umbruch, nur vergleichbar mit den 50er-Jahren, als das Fernsehen seinen Siegeszug antrat und die Menschen zu Hause blieben und nicht mehr ins Kino gingen. Auch andere Filmkonzerne schielen und zielen längst in Richtung Plattform: Disney hat, als Reaktion auf Netflix, Amazon & Co. das Konkurrenzstudio 20th Century Fox aufgekauft, um ein eigenes Streaming-Angebot mit möglichst großer Auswahl zu starten, Warner Brothers plant Ähnliches. Die Studios von einst, sie produzieren nach wie vor Kino. Aber nicht mehr zwingend fürs Kino.
Wie hältst du’s mit den Plattformen? Das wird immer mehr zur Glaubensfrage. Eine Frage, die sich auch Festivals wie die Berlinale stellen müssen, wenn sie ihre Marke schützen wollen. Eine Frage, die sich aber auch die Länder stellen müssen. Per Gesetz muss bei einem europäischen Streaming-Angebot 30 Prozent aus europäischen Produktionen bestehen. Vieles wird nur aus diesem Grunde produziert, um entsprechend Content zu bieten. Doch die jeweiligen Länder rennen Netflix dabei fast hinterher und überbieten sich an Unterstützung mittels Filmförderung – womit man zwar die heimischen Filmschaffenden unterstützt, aber dem Kino auf Dauer das Wasser abgraben könnte. Wohlgemerkt ohne jeden Einfluss auf die Auswertung der geförderten Filme.
Es gilt also, genau hinzuschauen, mit wem man sich da einlässt. Auch da lohnt sich das Beispiel „Roma“. Alfonso Cuáron, so hört man, leidet immens darunter, dass sein Film nicht in mehr Kinos zu sehen ist. Und dass alle dabei nur über die „Netflix“-Debatte sprechen, nicht aber über „Roma“ selbst.