Du musst ganz ruhig gehen, hatten sie ihm gesagt. Und dreh dich nicht um, auf gar keinen Fall. Fang auch nicht an zu rennen, wenn du an der weißen Linie bist. Sie können immer noch schießen.
Schritt für Schritt bewegt sich Ingo Borchardt voran. Wie in Zeitlupe erscheint es ihm. Seine Beine wollen laufen, so schnell es geht, aber sie dürfen nicht. Noch 20 Meter. Langsam, ruhig atmen. Vor ihm die weiße Linie. Die Freiheit. Aber da steht noch einer. Sein Maschinengewehr am Anschlag. Zehn Meter. Nur nicht den Kopf wenden. Nicht schauen, was er macht. Weiter. Fünf Meter. Wie viele Schritte noch? Ein Klicken neben ihm. Nicht umdrehen. Er fühlt nichts. Funktioniert, wie ein Roboter. Die weiße Linie. Freiheit. Losrennen. Nein. Noch nicht. Ein Schritt vor den anderen. Wie lange noch?
Immer weiter geht er, in die Dunkelheit der Straße hinein. Auf einmal springt ein Mann aus dem Gebüsch. Stellt sich vor ihm in den Weg. Der Unbekannte nimmt ihm den Pass ab. Dieses Dokument, das ein paar Minuten zuvor noch über sein weiteres Leben bestimmt hat. 20-Pfennige bekommt er in die Hand gedrückt. West-Pfennige. Ruf deinen Bruder an. Ingo Borchardt geht in die Telefonzelle. Schaut die Wählscheibe an. Erst ein paar Mal hat der 21-Jährige in seinem Leben telefoniert. Zu Hause gab es kein Telefon. Aber zu Hause, das ist weit weg. Er wählt. Rüdiger, ich bin da.
Ein Jahr Vorbereitung für die Flucht
„Das klingt so unspektakulär“, sagt Ingo Borchardt heute, während er in einem dicken Ordner mit Unterlagen von damals blättert und an diesen Tag vor fast 50 Jahren zurückdenkt, „den falschen Pass nehmen, rüber und fertig. Aber so einfach war es nicht.“ Ein Jahr Vorbereitung hat seine Flucht gebraucht, und was hätte alles passieren können. „Zum Glück habe ich mir damals keine Gedanken darüber gemacht. Sonst hätte ich viel zu viel Angst gehabt und wäre deshalb schon aufgefallen.“
Ingo Borchardt wurde im Krieg geboren. Kurz vor Weihnachten 1943. Seinen Vater hat er nicht kennengelernt, er fiel noch im Krieg. Die Mutter musste ihre drei Söhne allein durchbringen: Tassilo, der Älteste, Rüdiger, Ingo war der Jüngste. Das war nicht einfach, aber sie war eine patente Frau, machte immer eine gute Figur. Es gibt ein altes Foto von ihr und dem kleinen Ingo Ende der 40er-Jahre, auf dem Kudamm, hinter ihnen die kaputte Gedächtniskirche, beide schick angezogen, mit Hut. Als hätte es den Krieg nicht gegeben.
Die Mutter war Kostümbildnerin an der Staatsoper. Wer hier arbeitete, hatte ein bisschen mehr Freiheiten als andere. So ließ man sie gewähren, als sie Ingo in Wilmersdorf aufs Gymnasium schickte. Das war ungewöhnlich, aber vor dem Mauerbau möglich. „Berlin, das war damals für mich eine Stadt, nicht Ost und West“, erzählt Ingo Borchardt heute. Mit der S-Bahn fuhr er für 20 Pfennig hin und her, von Rahnsdorf ganz im Osten der Stadt nach Wilmersdorf. Zu Hause in ihrem kleinen Häuschen in Neu-Venedig hatte er Idylle, im Westen Trubel. Freunde hier und da.
Er müsse sich politisch bewähren
Aber mit dem unbeschwerten Leben war es am 13. August 1961 schlagartig vorbei. Der Weg zu seiner Schule war versperrt. Sein Bruder Rüdiger, der an der Technischen Universität studierte, verließ vier Tage nach dem Mauerbau Hals über Kopf die Familie, kam gerade noch mit dem Ausweis eines Freundes über die Grenze, bevor West-Berlinern der Übergang in den Ost-Teil verwehrt wurde. Auf einmal war Berlin auch für Ingo Borchardt eine geteilte Stadt.
Der damals 17-Jährige musste im Bezirksamt Treptow vorstellig werden. „Vor mir saß ein Offizier der Volksarmee mit Militärstiefeln und Uniform, die Arme vor der Brust verschränkt.“ Der Elftklässler kam sich vor wie ein Verbrecher, dabei wollte er nur zur Schule gehen. Er müsse sich erst mal politisch bewähren, sagte der Offizier. Er steckte ihn zurück in die achte Klasse seiner alten Schule, damit er nachholen könne, was er an politischer Bildung verpasst habe. Ein 17-Jähriger in einer Klasse mit 14-Jährigen. Natürlich klappte das nicht.
Bald saß er wieder im Bezirksamt. Dort bekam er zwei Alternativen: Als Hilfsarbeiter ins Betonwerk Rummelsburg oder als Hilfsarbeiter ins Kabelwerk Oberspree in Oberschöneweide. Aber was sollte er da? Die Dummheit dieses Staates sei der Grund gewesen, dass er fliehen wollte, sagt er heute. „Man muss doch die Jugendlichen heranziehen, damit sie selbst einmal die Zukunft gestalten. Aber wenn man ihnen nur Steine in den Weg legt, dann rebellieren sie und brechen aus.“ Ingo Borchardt rebellierte. Erst leise. Nach außen machte er mit. Statt Hilfsarbeiter fand er als dritte Alternative einen Ausbildungsplatz in einer Autowerkstatt. Die einzige, die in Ost-Berlin Mercedes-Wagen reparierte.
Ingo Borchardt gewöhnte sich an die Arbeit, an sein neues Leben in der DDR nicht. Er träumte von einem Leben im Westen. Aber wie sollte er da hinkommen? Immer schärfer wurden die Grenzen bewacht, immer mehr Fluchtwege gekappt. Über seinen Bruder in West-Berlin bekam er Kontakte zu Studenten, die DDR-Bürger in den Westen schleusten. Und auf einmal lief ihm die Zeit davon: Er hatte einen Einberufungsbefehl für die Volksarmee bekommen. Am 3. Mai 1965 sollte er antreten.
Überwacht von Stasi und KGB
Da wurde die Lösung wie auf einem Tablett serviert. Die Werkstatt plante einen Ausflug mit der Belegschaft nach Prag. Ingo Borchardt war inzwischen Geselle. Er sollte sich dort absetzen, in ein bestimmtes Hotel kommen. Da würde er weitere Anweisungen bekommen. Tschechisch konnte er nicht. Was, wenn er das Hotel nicht fand? Wird schon.
Am 11. April 1965, einem Sonntag, sollte die Fahrt beginnen. Im Nachhinein war Ingo Borchardt froh, dass alles doch anders kam, weil die Schleuser sich bereits für einen andern Weg entschieden hatten. Die Flucht in Prag wäre für ihn der sichere Weg ins Gefängnis gewesen. Aber das hat er erst viel später erfahren. Nach dem Mauerfall. Als er zum ersten Mal seine Stasi-Akte einsehen konnte. Und als er erfuhr, dass er längst beschattet worden war, von der Stasi, sogar vom KGB. Vor ihm liegt ein Dokument von damals, aus dem Russischen übersetzt, in dem bereits vor den möglichen Fluchtplänen gewarnt wurde. „Damals war ich mutig“, sagt er, „aber wenn ich heute meine Stasi-Akte lese, wird mir im Nachhinein Angst und Bange.“
Einen Tag vor der Abfahrt nach Prag klingelte es an der Tür. Es war Nachmittag. Ingo Borchardt machte auf. Eine junge Frau stand vor ihm. Schnell, eine halbe Stunde hätten sie nur Zeit. Ingo Borchardt wusste sofort: Es ist es so weit. Das Passbild wollte sie. Er hatte es heimlich machen lassen. So etwas musste sonst offiziell beantragt werden.
Die junge Frau fummelte an dem Foto herum und nietete es in einen westdeutschen Pass, während er seine Sachen zusammensuchte. Er fand nicht gleich alles. Die Mutter half ihm stumm, sie wusste auch ohne Worte Bescheid und holte West-Anzug, West-Schuhe, West-Unterhose. Die Sachen waren ihm vorher nach und nach gebracht worden. Er musste für eine Leibesvisitation gewappnet sein.
Dokumente im Steuerknüppel
Der Pass war inzwischen fertig, die junge Frau steckte ihm West-Geld und einen benutzen BVG-Fahrschein vom Vortag in die eine und ein wenig Ost-Geld in die andere Hosentasche. Dabei bläute sie ihm die ganze Zeit Namen und Geburtsdatum des Passbesitzers ein. Er wisse den Namen nicht mehr, sagt er heute. Und auch wenn, würde er ihn nicht preisgeben, er könnte ja noch leben. Sein Gesellenbrief und noch ein paar Dokumente waren das einzige, was er mitnahm. Die junge Frau faltete sie winzig klein zusammen und stopfte sie in den Steuerknüppel ihres Fiat 600.
„Ich gehe jetzt“, hat er zu seiner Mutter gesagt und war dann der jungen Frau gefolgt. Keine Abschiedsszene, kein Kuss. Jedes weitere Wort hätte gefährlich werden können. Für ihn, für sie.
Im Auto gab die junge Frau Anweisungen. Sie würde ihn bei einer Kneipe rauslassen, dort würde er jemanden treffen, mit dem solle er über den Kontrollpunkt Heinrich-Heine-Straße gehen. Aber erst bei Dunkelheit. Und er solle ruhig bleiben. Dann ließ sie ihn auch schon raus.
Der zweite Mann wirkte nervös. Sie tranken ein Bier zusammen. Die Zeit wollte nicht vergehen, bis es dämmerte. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus: „Ich gehe jetzt.“ Den Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße kannte er. Während seiner Lehre war er mit seinem Chef hier gewesen, wenn der Kofferraumdeckel eines Mercedes klemmte. Aber bis zum Warteraum war er nie vorgedrungen. Erst jetzt. Vielleicht vier Minuten musste er warten. Gefühlte vier Stunden. Dann wurde er durchgewinkt. Wenn nur jetzt nicht einer ruft: Kommse mal zurück! Keiner rief.
Botschaft: „Liebe Mutti, ich habe die Nerven verloren“
Die Spannung fiel erst am nächsten Tag von ihm ab. Aber so einfach, wie er sich es vorgestellt hatte, kam er in seinem neuen Leben nicht an. Der Schalter ließ sich nicht gleich umdrehen. Die ersten Wochen waren hart. Er hatte kein Geld, wollte aber die 20.000 DM für die Flucht an seinen Bruder Rüdiger zurückzahlen. Der hatte den Kontakt zu den Schleusern hergestellt. Bis in den Mai dauerte es, bis er alle Stempel auf seinem Laufzettel für das Notaufnahmeverfahren zusammenhatte. Immer wieder gab es Verhöre mit den West-Alliierten. Und da war die Sorge um die Mutter und den ältesten Bruder Tassilo. Er hatte ja keinen Kontakt zu ihnen und wusste nicht, ob sie durch seine Flucht Probleme hätten.
Die beiden wurden in die Stasi-Zentrale in der Normannenstraße bestellt und verhört, aber die Mutter tat ahnungslos. Überdies hatte sie auf einem Zettel in seiner Handschrift eine Botschaft geschrieben, die er angeblich im Wohnzimmer hinterlassen hätte: „Liebe Mutti, ich habe die Nerven verloren und bin in den westlichen Teil unseres Landes geflüchtet. Ihr dürft mir bitte nicht böse sein.“ Danach wurden sie in Ruhe gelassen und Ingo Borchardt freut sich noch heute über die Raffinesse seiner Mutter.
Und immer begleitete ihn die Angst. Dass die Stasi ihn holen würde. Er wusste, dass es immer wieder in West-Berlin zu Entführungen kam. „Auf der Straße konnte ich nicht am Bordstein gehen, sondern drückte mich an der Hauswand entlang.“ Wenn ein Auto neben ihm bremste, zuckte er zusammen.
Da kam die Angst wieder hoch
Ingo Borchardt entschloss sich, Berlin zu verlassen. Erst dann konnte sein neues Leben wirklich beginnen. „Ich habe Glück gehabt“, sagt er. Durch Zufall landete er beim Fernsehen, wurde bald Kameramann beim WDR in Köln. Als solcher kam er neun Jahre nach der Flucht zum ersten Mal wieder nach Ost-Berlin. Da kam die Angst wieder hoch.
Würden sie ihn überhaupt hineinlassen, würden sie ihn womöglich doch noch verhaften? Helmstedt, Dreilinden, alles ging gut. Dann ausgerechnet über die Heinrich-Heine-Straße. Wieder dauerte es nur wenige Minuten, bis er seinen Pass zurück hatte. Diesmal tatsächlich seinen Pass. Ein West-Deutscher in Ost-Berlin. „Es fühlte sich an wie eine Bestätigung: Es war richtig, was du getan hast.“
Auch als die Mauer fiel, war Ingo Borchardt in Ost-Berlin. Zufällig. Er drehte gerade einen Film über den Lyriker Johannes Bobrowski. Am Abend des 9. November 1989 saß er im Palast-Hotel, gegenüber dem Palast der Republik. Zum Feiern kam er an diesem Abend, in dieser Nacht aber nicht. Der WDR wollte sofort Bilder, wo er schon mal vor Ort war. Heute lebt Ingo Borchardt in Köln und Berlin. Er hat sich in Neu-Venedig ein Grundstück gekauft, ganz in der Nähe vom alten Haus der Familie, in dem er aufgewachsen ist. In dem noch heute sein ältester Bruder wohnt.

Foto: Amin Akhtar