Der Botschafter achtet darauf, was im Alltag funktioniert. Als er zum Interview empfängt, steht er auf einer der verschachtelten Treppen in der Israelischen Botschaft. Er liebe diese Architektur, sagt Yakov Hadas-Handelsman, weil man sich wohlfühle. Dagegen sei das Ministerium in Jerusalem ungemütlich, zu sehr am Reißbrett geplant. Es erinnere ihn an die Werbung für ein Auto, auf der stehe: „Beschleunigt in 2,3 Sekunden von Null auf 100“. Aber dann, sagt er, lese man klein gedruckt daneben: „Beschleunigung unter Laborbedingungen getestet.“ An dieser Stelle muss er lächeln. Dabei geht es eigentlich um ein ernstes Thema: Heute ist internationaler Holocaust-Gedenktag.
Berliner Morgenpost: Als Sie noch ein Kind waren, Herr Botschafter: Was ist Ihre früheste Erinnerung an den Holocaust-Gedenktag?
Yakov Hadas-Handelsman: Mir wurde gesagt, dass ich zu den Glücklichen gehöre. Weil ich, anders als viele Klassenkameraden, noch Familie hatte. Damals besuchte ich die Grundschule in Tel Aviv, das war Mitte der 60er-Jahre. Meine Eltern waren vor dem Krieg nach Palästina ausgewandert. Die Familie meiner Mutter überlebte in Russland, die meines Vaters wurde ermordet. Aber im Detail wurde darüber nicht gesprochen. Wir haben gesungen, im Radio lief Trauermusik. Heute sind die Veranstaltungen anders, da erzählen Überlebende auf Veranstaltungen ihre Geschichte.
Warum wurde damals kaum gesprochen?
Ich denke, es war zu früh. „Lager“ oder „Ghetto“, diese Schlagwörter fielen, aber Menschen haben nicht erzählt, was sie dort erlebten. Weil man nicht begreifen konnte, was geschehen war. Wie in dem Film „Der 81. Schlag“: Das ist die Geschichte eines Überlebenden, der damals Israel erzählt hat, dass die Nazis ihn 80-mal mit einer Peitsche geschlagen haben. Als öffentliches Exempel, weil er Kartoffeln ins Ghetto geschmuggelt hat. Niemand glaubte ihm. Warum? Erstens, weil sie dachten, niemand werde so oft geschlagen, nur weil er Kartoffeln geschmuggelt hat. Zweitens: Kaum jemand würde 80 Schläge überleben. Er heißt „81. Schlag“, weil das wie ein weiterer, vielleicht schwerster Hieb für den Überlebenden war: dass seine Leute ihm nicht glaubten.
Konnten sich die Überlebenden nicht erinnern?
Ich bin kein Psychologe. Aber Menschen erinnern alles. Vor allem, was sie als Kind erlebt haben. Und die meisten Überlebenden von heute waren damals Kinder. Als ich in Warschau war, habe ich aus dem Hotelfenster im 14. Stock geschaut und mit meinem Vater telefoniert, da war er 82 Jahre alt. Er konnte mir genau sagen, welche Straße wo ist, obwohl er seit 1938 nicht mehr in Warschau war. Ich habe Videos gemacht von der Straße, in der er gelebt hat, er kannte die Adresse auswendig. Mein Vater merkte sofort, dass die Fensterrahmen an einigen Stellen damals anders dekoriert waren: Mit zwei eisernen Blüten statt einer. Es stimmte, das Haus war nach dem Krieg etwas anders wieder aufgebaut worden. Aber in den Jahren davor hatte mein Vater kaum über seine Jugend gesprochen.
Warum fangen die Menschen an, doch zu erzählen?
Sie müssen es wollen. Das kommt meist im Alter. Weil sie wissen, dass ihre Geschichte sonst verloren ist. Und weil sie sich nicht mehr schämen.
In Deutschland haben viele Täter nie mit ihren Kindern gesprochen
Das Ergebnis mag dasselbe sein. Aber es ist etwas anderes, wenn Menschen verheimlichen, dass sie Straftaten begangen haben.
Am Gedenktag in Israel heulen im Land für zwei Minuten die Sirenen. Jeder bleibt stehen, egal was er gerade macht. Auch Autos halten an. Sollten am 27. Januar in Deutschland nicht auch Sirenen heulen?
Jedes Land hat seine Art des Gedenkens. Das kommt auf die Kultur an. Die Engländer halten am 11. November, Remembrance Day, eine Schweigeminute ohne Sirene. Es geht nicht darum, was besser ist, sondern darum, was verankert ist und funktioniert. In Deutschland konzentriert man sich sehr auf den 9. November, den Jahrestag der „Reichskristallnacht“ als Beginn des Holocaust, was auf eine Art stimmt. Was aber zählt ist, dass sich Menschen verbinden und gedenken.
In Israel fällt der Yom HaShoa, der Gedenktag für die Opfer des Holocaust, auf den Tag des Aufstandes im Warschauer Ghetto. Der 27. Januar aber ist der Tag der Befreiung von Ausschwitz durch die Rote Armee. Macht das einen Unterschied?
Der Widerstand ist sehr wichtig für uns. Eine Wahrnehmung lautet, die Juden hätten sich wie Schafe zur Schlachtbank führen lassen. Die Wahrheit ist: Viele haben nicht gemerkt, was da wirklich geschah. Aber als wir begriffen haben, fing der Widerstand an. Dafür ist der Aufstand in Warschau zum Symbol geworden. Aber das ist kein Widerspruch zum 27. Januar, der ein weltweiter Gedenktag ist, den die Vereinten Nationen ausgerufen haben. Der Holocaust ist eine Tragödie für die gesamte Menschlichkeit. Das bekräftigt unsere Anstrengungen, dass so etwas nie wieder geschehen darf.
Das Berliner Themenjahr „Zerstörte Vielfalt“ ist gerade zu Ende gegangen. Wie ist Ihre Bilanz?
Es gab viele Erfolge. Ich habe Menschen auf der Straße gesehen, die sich Bilder von Juden angeschaut haben, die damals in Berlin gelebt haben. Die Bilder hingen an einem Geschäft. Sie haben den Ladenbesitzer gefragt: Was ist das? Der hat es ihnen erklärt. Genau das ist der Sinn: Es Menschen zu zeigen, die es nicht wissen. Wer betroffen ist, hat sowieso seinen persönlichen Holocaust vor Augen.
Viele Israelis kommen nach Berlin, wenn auch meist nur für begrenzte Zeit. Muss man den Alltag hier kennen, um die Vergangenheit zu verstehen?
Zuerst: Die Botschaft weiß gar nicht so viel über die Israelis in Berlin. Zu uns kommen sie meist nur, wenn etwas schief gelaufen ist. Ich denke aber, viele kommen aus Neugier, andere nur zum Arbeiten, und ja: Viele haben deutsche Vorfahren. Egal. Wichtig ist doch, dass sie kommen. Als ich das erste Mal nach Polen geflogen bin, habe ich in wenigen Stunden mehr über meine Familie verstanden, als in vielen Jahren in Israel. Bekenntnisse unter Staaten mögen bedeutend sein. Aber Politik vertritt immer Interessen, das darf man nicht vergessen. Wichtig sind die Kontakte der Menschen untereinander, um sich gegenseitig zu verstehen. Die Natur eines Landes verändert sich nicht.
Die Natur eines Landes verändert sich nicht. – Das klingt nicht gut.
Wissen Sie, warum Kurt Tucholsky sich im Exil umgebracht hat? Weil er es nicht ertrug, dass sein eigenes Land ihn herausgeworfen hat. Es geht nicht nur darum, dass an diesem und jenem Ort in Deutschland viele Juden gelebt haben, die verfolgt und ermordet wurden. Das ist im christlichen Europa oft passiert, wenn der Holocaust auch einzigartig ist. Nein, Juden spielen eine signifikante Rolle in der deutschen Geschichte und umgekehrt. Die ersten Juden kamen vor Christus mit den Römern, da war Deutschland noch barbarischer Außenposten. Auch die jüdische Reformation hatte ihren Ursprung in Deutschland, wichtige Rabbiner haben hier gelebt. Es gibt unzählige weitere Beispiele. Deshalb ist es für Deutsche wichtig, nach Israel zu kommen: Nicht für uns. Sondern um sich selbst besser zu verstehen.
Es gibt Leute die sagen: Israelis kommen wieder hierher. Alles ist normal, alles ist gut.
Natürlich ist nichts normal. Kein Deutscher kann sagen: Wir haben unsere Strafe abgesessen, waren viele Jahre im Gefängnis, aber jetzt sind wir wieder frei. Wir haben ein Drittel unseres Volkes verloren, das ist nie wieder gut zu machen. Darin liegt die Einzigartigkeit unserer Beziehung. Und das liegt nicht an uns. Sondern an den Deutschen. Aber überlegen Sie mal: Was hat das beigetragen zu Ihrer Identität?
Vielleicht, dass sich Deutschland zu einem internationalen Land entwickelt. Dass es, bei allen Problemen und Vorurteilen, eine Offenheit gibt. Fakt ist, dass hier längst Menschen von überall auf der Welt leben.
Ich glaube, diese Entwicklung wäre ohne die Geschichte so nicht möglich gewesen. Ja, es gibt Übergriffe auf Minderheiten. Das kann man kaum verhindern, nur richtig darauf reagieren. Als es die Debatte gab, ob Beschneidungen verboten werden sollen, hat die Bundeskanzlerin Angela Merkel sofort klar gemacht, es wird nicht verboten. Weil sonst alle gesagt hätten: Nur 70 Jahre nach den Nazis geht es wieder los. Die Deutschen haben ihr Wissen aus der Vergangenheit. Davon profitiert das Land.
Es wird aber auch viel schön gezeichnet. Der Autor Ilan Goren war Fernseh-Journalist in Berlin, in seinem Buch steht, wie er Bilder für Israel inszeniert hat. Zu Chanukka hat er einen Rabbi, Kerzen und Kinder vor der Kamera versammelt, sie haben gesungen, alle sahen glücklich aus. Diese Diaspora entsprach aber nicht der Realität.
Ein anderes Beispiel: Im israelischen Fernsehen lief eine Serie über das Leben im Ausland. Der erste Teil ging um Berlin. Ich habe mir in Blogs später die Kommentare dazu angesehen. Eine junge Frau schrieb: „Das einzige, was in Berlin glänzt, sind die Stolpersteine auf dem Boden.“ Weil es eine Zeit lang das Image gab, dass in Berlin alles günstig zu haben sei. Dass man alles von den Deutschen kriege. Meine Mutter hat mir als Kind auf Jiddisch gesagt: „Geld wächst nicht auf Bäumen.“ Das stammt aus der Zeit, als viele Juden in die USA ausgewandert sind. Es meint: Dollars wachsen nicht wie Blätter, nur weil sie grün sind. In diese Geschichte reiht sich Berlin nun ein.
Finanzminister Jair Lapid hat kritisiert, junge Israelis verrieten ihr Land, nur weil sie in Berlin billiger wohnen als in Tel Aviv.
Dass diese Debatte aus dem Ruder gelaufen ist, zeigt doch nur, dass Berlin noch immer kein normaler Ort ist. Es ging nicht um die Israelis, die in New York oder Paris wohnen. Berlin war die Quelle des Bösen, hier fing alles an. Aber aus unserer einzigartigen Beziehung haben sich längst Gemeinsamkeiten entwickelt, die nichts mehr mit dem Holocaust zu tun haben.
Welche dieser Gemeinsamkeiten ziehen Israelis nach Berlin?
In Tel Aviv gab es etwa schon in den 90er-Jahren Start-ups. Aber unsere Experten arbeiten nicht aufgrund der Vergangenheit in der Berliner Start-up-Szene. Sondern weil es spannend ist. Sehen Sie: Unsere einzigartige Verbindung ist für beide Länder gut.