Als sich der Soziologie-Student Sudhir Venkatesh Ende der 80er-Jahre erstmals in die Robert Taylor Homes - die damals größte Sozialbausiedlung der USA - begab, um dort Armutsforschungen zu betreiben, waren seine Annäherungsversuche zunächst nicht von Erfolg gekrönt. Mit seinen naiven Fragen à la "Was ist es für ein Gefühl, arm und schwarz zu sein?" erntete der Sohn indischer Immigranten bei den gewaltbereiten Jugendlichen in dem Chicagoer Vorort allem voran Hohn - und die Drohung, zusammengeschlagen zu werden.
Schließlich befolgte er den Rat des Gangsterbosses J.T. und hing so viel Zeit wie möglich mit den Jugendlichen ab, statt abstrakte Fragen zu stellen. Die Erfahrungen, die der heutige Professor an der Columbia Universität in den folgenden sieben Jahren machte, verarbeitete er in dem Buch "Underground Economy". Mit überraschenden Ergebnissen: "Gerade in puncto Krisenmanagement können Manager eine ganze Menge von Bandenanführern lernen", sagt der heute 43-Jährige.
Morgenpost Online: Herr Venkatesh, was war Ihre Motivation, sich als Sohn aus ordentlichem Haus für Ihre Doktorarbeit ausgerechnet in den 'Untergrund' von Chicago zu begeben?
Sudhir Venkatesh: Ich selbst bin sehr wohlbehütet in einer kalifornischen Vorstadt aufgewachsen, und mich hatte schon länger beschäftigt, wie viele Vorurteile Menschen wie ich über das Leben in den armen Stadtvierteln haben - ohne jemals da gewesen zu sein. So war mein Ziel allem voran ein wissenschaftliches: Ich wollte ein präziseres Verständnis bekommen von dem Leben im Untergrund. Ich wollte begreifen, was die ständige Präsenz von Gewalt mit den Menschen macht. Hinzu kam von Anfang an auch eine ökonomische Stoßrichtung: Ich wollte die Strukturen des Wirtschaftssystems im Untergrund verstehen - in einer Welt, in der es kaum Jobs, keine Regierung, keine Gesetze und keine Verträge gibt, zumindest nicht in der Form, wie wir sie kennen.
Morgenpost Online: Die Leute vor Ort dürften Sie nicht gleich mit Handkuss begrüßt haben. Was war das größte Hindernis, um ihr Projekt durchzuführen?
Venkatesh: Das größte Hindernis war das Misstrauen mir gegenüber, der ich doch ganz offensichtlich aus einer anderen, besseren Welt kam. Ich musste den Leuten immer wieder klar machen, dass ich kein Polizist war und keine versteckte Agenda verfolgte, und das war nicht immer leicht. Aber im Gegensatz zu den meisten Journalisten hatte ich ein großes Privileg - ich hatte viel, viel Zeit. Über sieben Jahre hinweg habe ich die Robert Taylor Homes fast täglich besucht und viel Zeit mit der Drogendealergang "Black Kings" verbracht, die das öffentliche Leben innerhalb des Ghettos damals de facto kontrollierte. Entsprechend nahm das Misstrauen ab, so dass ich sogar zu dem Gangsterführer J.T. der "Black Kings" enge Beziehungen aufbauen konnte.
Morgenpost Online: Gab es Situationen, in denen Sie um Ihr Leben gefürchtet haben?
Venkatesh: Angst war in jenen Tagen sicher einer meiner verlässlicheren Begleiter. De facto kann aufgrund der allgegenwärtigen, aber unvorhersehbaren Gewalt eigentlich jede Situation unerwartet sehr gefährlich werden. Ein Vorfall ist mir in besonderer Erinnerung geblieben: Als ich plötzlich in eine Schießattacke verwickelt wurde und die Fenster meines Autos eingeschossen wurden. Da habe ich mich schon gefragt, ob ich den richtigen Beruf gewählt habe.
Morgenpost Online: Um so mehr fragt man sich allerdings, was an diesen Strukturen vergleichbar sein soll mit der Art und Weise, wie Wirtschaftsunternehmen funktionieren.
Venkatesh: Natürlich ist es nicht die Art der Geschäfte, die beides verbindet, so wie auch die Brutalität der Untergrundwelt im normalen Unternehmensalltag natürlich nicht zu finden ist. Doch egal ob mit legalen oder illegalen Produkten gedealt wird - die Organisationsstrukturen von Gangs und Unternehmen sind schon vergleichbar. De facto funktionieren diese Gangs heute nicht mehr wie streng patriarchalische Systeme, die der Willkür eines einzelnen Mafia-Bosses unterstehen, sondern - vor allem aufgrund der hohen Nachfrage nach Drogen und der daraus resultierenden scharfen Konkurrenz - eher nach dem Vorbild großer amerikanischer Konzerne.
Morgenpost Online: Inwiefern?
Venkatesh: Tatsächlich haben die meisten Gangs - wie die meisten Unternehmen - eine Organisationsstruktur mit Arbeitern, die auf Basis von Mindestlöhnen bezahlt werden, einem mittleren Management und einem Vorstand, der das große Geld macht. Und um seine Mitarbeiter zu Höchstleistungen zu animieren, setzt der Gangsterboss ebenso wie gute Firmenchefs unter anderem auf Boni und andere Leistungsanreize. Nur sehen die natürlich anders aus als in der normalen Geschäftswelt - statt vom Arbeitgeber ein Segelwochenende finanziert zu bekommen, darf der erfolgreiche Dealer dann vielleicht einen gewissen Prozentsatz der von ihm vertickten Drogen behalten.
Morgenpost Online: Gibt es etwas, dass sich Unternehmen von Drogendealer-Banden abschauen können?
Venkatesh: Ja, zum Beispiel setzen die Oberen der Gangs sehr viel gekonnter als viele Unternehmen auch kollektive Anreize ein, um ihre Mitglieder zu Höchstleistungen anzuspornen - was das Teamgefühl sehr unterstützen kann. Dieses Instrument sollten auch Firmen häufiger nutzen, bei Erfolg etwa ein Preisgeld festsetzen, über dessen kollektiven Verwendungszweck das Team dann selbst entscheiden kann. Außerdem ist innerhalb der Gangs das Bewusstsein viel stärker ausgeprägt, dass es Leute gibt, die führen wollen, und andere, die das unter keinen Umständen anstreben. Meines Erachtens entstehen im Unternehmensalltag die größten Fehler dadurch, dass Vorgesetzte Menschen zu Führungskräften machen, die im Grunde am liebsten Soldat bleiben wollen - und anderes auch nicht können.
Morgenpost Online: Würden Sie so weit gehen, dass die psychologischen Fähigkeiten von Gangsterbossen wie J.T., der rund 250 Crackdealern vorstand, bisweilen deutlich höher sind als die der meisten Vorstandschefs?
Venkatesh: Zum Teil trifft das sicher zu, ja. Allein weil im Untergrund ständig Gefahren lauern, auch scheinbare Freunde oder loyale Mitarbeiter sich plötzlich als falsch entpuppen können, muss ein Gangsterboss qua Bestimmung seine Leute kontinuierlich beobachten und jede, auch emotionale Veränderung seismografisch mitschneiden. Davon kann man lernen. Um sich gegen die durchaus beinharte Konkurrenz in der Szene auseinanderzusetzen, ist ein Gangleader zudem ständig dabei, das Potenzial seiner Gangmitglieder abzuchecken - die Besten zu fördern, allerdings auch die Schlechten auszusortieren. Das tun zwar auch Unternehmen, aber oft nicht so kompromisslos wie Manager im Untergrund.
Morgenpost Online: Womit Sie sich sehr deutlich für die gefürchtete Hire&Fire-Strategie in Unternehmen aussprechen.
Venkatesh: Zumindest gegen ein Verharren aus einem falschen Sicherheitsbedürfnis heraus, denn das birgt nun mal die Gefahr für schwere Krisen. Gangsterbosse haben ein deutlich größeres Verständnis dafür, dass alle Krisen von den Menschen gemacht sind, die an dem System beteiligt sind. Umso sorgfältiger sorgen sie personaltechnisch vor und umso sorgfältiger beobachten sie die Wettbewerber. Da sie ständig auf überraschend entstehende Krisen eingestellt sind, verstehen sie es einfach besser, im konkreten Fall Teams zu bilden und dagegen vorzugehen. Und wie wichtig ein gutes Risiko- und Krisenmanagement ist, haben wir ja gerade in der jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrise gesehen.
Morgenpost Online: Sie haben gerade am europäischen Managermeeting in Frankfurt teilgenommen und dabei auch deutsche Manager kennengelernt. Unterscheiden sich die deutschen Ansätze für Krisenmanagement von dem, was Sie aus Amerika kennen?
Venkatesh: Um das zu beurteilen, bräuchte man viel Zeit - die ich nicht hatte. Was mich allerdings erstaunt hat, war, wie groß die Angst der Wirtschaftslenker hierzulande vor der Krise ist und wie stark das auch artikuliert wird. Im Gegensatz dazu ist bei US-Managern das Bewusstsein, dass Krisen einfach dazu gehören, deutlich stärker verankert.
Morgenpost Online: Welche Einsicht haben Sie persönlich aus Ihrer Zeit im Untergrund mitgenommen, die Sie Unternehmern ans Herz legen würden?
Venkatesh: Den Wert von Regierungen nicht zu unterschätzen. Im Untergrund wurde mir jeden Tag aufs Neue klar, wie dankbar jeder einzelne von uns, aber vor allem auch Manager und Unternehmer sein müssen, dass es staatliche Regulierung gibt - auch wenn wir diese so oft verfluchen und ständig dafür kämpfen, sie zurückzufahren. Wir brauchen eine verantwortliche Auf-sicht, Selbstregulierung kann sehr schnell sehr gefährlich werden.
Morgenpost Online: Die Robert Taylor Homes wurden inzwischen abgerissen. Könnten Sie sich vorstellen, nochmals unter solch gefährlichen Bedingungen zu forschen?
Venkatesh: Ich bin ja inzwischen 20 Jahre älter geworden, und für solch ein Projekt, denke ich manchmal, fehlte mir heute wahrscheinlich der Mut. Momentan forsche ich im Edelprostituierten-Milieu und über die Art und Weise, wie Filmproduktionen illegale Gelder mobilisieren. Langweilig wird es mir also trotzdem nicht.