"Im Angesicht des Verbrechens"

Nie war die Russenmafia so cool wie auf Arte

| Lesedauer: 7 Minuten
Holger Kreitling

Zwangsprostitution, Waffenhandel, Zigarettenschmuggel – das steht für die Russenmafia. Dominik Graf hat sie in der Mini-Serie "Im Angesicht des Verbrechens" inszeniert, die nun auf Arte läuft. Darin muss sich der russisch-jüdische Polizist Marek Gorsky (Max Riemelt) entscheiden: zwischen der Familie oder dem Gesetz.

Stella, die Ehefrau, hat Geburtstag, die Kinder in der Villa haben etwas vorbereitet, ihr Mann Mischa auch. Zuletzt stand die Ehe auf der Kippe. Der Zuschauer spürt deutlich die Unruhe im Raum, die Spannung. Plötzlich brummt es bedrohlich, ein Helikopter kommt, die Vorhänge wehen, was an eine Szene aus „Der Pate 3“ erinnert, die in Maschinengewehrgarben endet. Naht der Tod in der sechsten Folge der Serie „Im Angesicht des Verbrechens“?

Dann aber zieht Misel Maticevic Marie Bäumer in den Garten, sie sehen in den Himmel, und aus dem Hubschrauber regnet es Rosenblätter. Gunter Sachs hat das einst so gemacht, hat Rosenbündel auf Brigitte Bardot abwerfen lassen. Also erst großes Kino, dann großer Kitsch. So eine Verbindung ist typisch für den Zehnteiler, charakteristisch für den Regisseur Dominik Graf. Und natürlich findet man im deutschen Fernsehen kaum so eine Szene in dieser Abfolge und Prägnanz.

„Im Angesicht des Verbrechens“ hat einen derart langen Vorlauf, dass die Prestige-Serie nun, wo sie ins Fernsehen kommt, kleiner aussieht als womöglich beabsichtigt. Die ersten zwei Folgen laufen auf Arte (Dienstag, 27. April, 22.00 Uhr) . Das Spartenkulturfernsehen ist nun nicht die ganz große Bühne. Bei der Berlinale im Februar war der Film am Stück zu sehen und wurde bejubelt (WELT v. 22.2., finden Sie ). Mehr als zwei Jahre dauerte die Produktion, eine Firma ging Pleite darüber. Dann wurde der fertige Film noch um ein ganzes Jahr geschoben, die ARD wird die Serie im Herbst ausstrahlen.

Es wirkt, als hätte der Urheber eine gewisse Scheu. Liebe. Action. Krieg. Gewalt. Sehnsucht nach Leben. Dominik Graf und sein Drehbuchautor Rolf Basedow haben ungeheuer viel Material verarbeitet, um ihre Geschichte von zwei Polizisten zu erzählen. Die Geschichte um Marek Gorsky, der aus einer jüdisch-russischen Familie stammt (Max Riemelt) und mit der russischen Mafia konfrontiert wird, weitet sich von Folge zu Folge. Mit seinem Kollegen Sven Lottner (Roland Zehrfeld) ermittelt er gegen Zigarettenschmuggler. Die Spur führt zu seiner Schwester Stella und ihrem Mann.

Immer wieder treten andere Figuren hervor, korrupte Polizisten, versklavte Prostituierte, verliebte Bandenmitglieder, russische Killer. Sie alle eint die Suche nach Anerkennung und Herzenswärme. Es sind Gezeichnete, die unaufhörlich strampeln müssen, um den Kopf über Wasser zu halten. Nicht umsonst schlagen sich so viele Charaktere den Schädel wund. Und dass sie nie denunziert oder als Pappkameraden dargestellt, sondern in ihren Schwächen und Gefühlen mit Zuneigung betrachtet werden, liegt an Buch und Regie. Niemand im deutschen Fernsehen kann und will so erzählen. Mehrmals schwelgt der Film in Familienfeiern, die genau beobachtet werden. Die Kamera schaut auf die jüdischen und russisch-orthodoxen Rituale, als sei der Apparat selbst fasziniert von der Andersartigkeit. Auch hier haben sich Graf und Basedow viel bei Francis Coppola und Michael Cimino abgeschaut. Immer wieder zeigen sie die unbändige Lust der Figuren am Leben, sei es im Restaurant der Schmuggler, sei es in der Russendisko, sei es bei der Orgie eines Berliner Unternehmers im Hotelzimmer. Berührende Momente der Wahrheit entstehen so, wenn die Gefühle kippen und Helden und Schurken auf einmal voller Blöße dastehen. Romantik und Realismus, Poesie und Härte, Magie und Verbrechen. Das große Nebeneinander.

Und dann ist da die Stadt. Der Koloss Berlin zieht die Gestrandeten an und wirft sie in die Maschinerie. Manchmal folgt „Im Angesicht des Verbrechens“ minutenlang Autos, die durch Berlin fahren, aus dem Himmel betrachtet wie mit dem Blick eines Raubvogels. Das Glitzern, die Mauern, die Straßen. So schön und warm und auch harsch ist Berlin lange nicht gezeigt worden. Andere Serien benutzen die Hauptstadt als Kulisse, hier hat man endgültig den Eindruck, dass Berlin selbst eine Hauptrolle spielt – als Kraftwerk und Herbergsmutter.

Dominik Graf hat sich immer für Serien interessiert. Für „Der Fahnder“ lieferte er in den 80er-Jahren die Idee und inszenierte etliche Folgen. Er inszenierte „Tatort“ und „Polizeiruf 110“. In den letzten Jahren hat der heute 57-Jährige immer wieder anerkennend über die viel bewunderten amerikanischen Serien gesprochen. Auch ist er seit je an hohem Ausstoß interessiert; Graf arbeitet fürs Fernsehen, weil Kinofinanzierung ihm schlicht zu lange dauert. Seine Arbeiten überragen fast immer das gängige Niveau. Dabei ist ein beiderseitiges Geben und Nehmen zu beobachten. ARD und ZDF beauftragen ihn, gerade weil sie wissen, dass seine Filme regelmäßig mit Preisen bedacht und von der Kritik geliebt werden.

2008 realisierte er etwa fürs ZDF „Kommissar Süden und der Luftgitarrist“ nach dem Roman von Friedrich Ani. Es sollte der Beginn einer Reihe sein, doch wegen mangelnder Quoten wurde „Kommissar Süden“ gestrichen. Prompt erhielten der Film und Dominik Graf den Grimme-Preis. Ein nützlicher Narr, der um seine Freiheit weiß.

Die Filme sind dabei manchmal sperrig, stets vertrackt und sehr stilbewusst. Sie sind im positiven Sinne exzessiv und anmaßend. Sie fordern den Zuschauer heraus. Lauter Eigenschaften, die nicht die hohen Quoten bringen. Deutschland tut sich schwer mit Serien, die lange Spannungsbögen und hohes Erzählniveau aufweisen. Auch deshalb sind die „Sopranos“ kläglich durchgefallen und „24“ weit unter den Erwartungen geblieben. „Mad Men“ will das ZDF beim Unterkanal ZDF neo zeigen. Die gar nicht wenigen Interessierten haben die grandiose Serie über die Werbeleute der Madison Avenue längst auf DVD gesehen – und dem Fernsehen als Erzählmedium den Rücken gekehrt.

So könnte es auch mit „Im Angesicht des Verbrechens“ geschehen. Die ARD ist vorsichtig; die Programmverantwortlichen wissen warum. Im Angesicht der Quote herrscht Mutlosigkeit vor. Dabei hat die Serie gerade mal zehn Teile, nicht 13 wie üblich. Von einer Fortsetzung ist bisher nicht die Rede, obwohl die Figuren sich anböten.

Vielleicht bringen Dominik Graf und sein Autor den russischen Hasardeuren, gestrandeten Mädchen und Halbweltexistenzen auch deshalb so viel Sympathie entgegen, weil sie den Wagemut mögen, ihre Risikobereitschaft, die Alles-oder-Nichts-Haltung. In einem Porträt über Graf, das Arte am Sonntag ausstrahlte, rühmt dessen Lebensgefährtin, Regisseurin Caroline Link, seine Sturköpfigkeit. Mit dem Kopf voran, immer für die Verwirklichung seiner Vision. Jetzt liegen die mustergültigen acht Stunden vor. Dafür soll's rote Rosen regnen.

"Im Angesicht des Verbrechens", Dienstag, 27. April, 22.00 Uhr auf Arte