Fernsehserie "Im Angesicht des Verbrechens"

Sopranos in der Russendisko

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Holger Kreitling

Foto: dpa / dpa/DPA

Ein Ereignis: Dominik Grafs Mafia-Serie "Im Angesicht des Verbrechens" wird den hohen Erwartungen gerecht. In zehn Folgen breiten die Macher ein Panorama von Gewalt, Poesie, Straßenalltag in Berlin aus. Hervorragend besetzt zeigt die Serie endlich einmal in Deutschland, was Fernsehen längst kann.

Es beginnt mit einer Wassernixe. Ein ukrainisches Mädchens schwimmt nackt im See, die Großmutter hat ihr einst versprochen, dass ihr dort der Mann erscheint, den sie lieben wird. Zu Beginn jeder der zehn Folgen sehen wir sie und ihn, Marek, der Polizist ist in Berlin. Sie werden sich begegnen, klar, und als sie sich das erste Mal sehen, sprüht ein Reinigungsfahrzeug in Charlottenburg die Straßen nass, und das Wasser tropft an der Scheibe des Wagens herab, in dem das Mädchen sitzt. Nebel und Dunst und poetische Verheißung. So groß kann Fernsehen sein. Und, die Berlinale hat sich ein wenig Mühe gegeben, dies vergessen zu machen, so groß kann Kino sein.

"Im Angesicht des Verbrechens" ist ein ungeheurer Film, wenn man ihn im Ganzen betrachtet wie nun zum Abschluss des "Forums". Acht aufregende Stunden lang, jede Sekunde spannend und anrührend. Das brechend voll besetzte Delphi-Kino summte vor Aufregung, nicht bloß die Crew war da, auch andere Schauspieler wie Edgar Selge und Uwe Bohm, Filmprofessoren und Produzenten wollten Dominik Grafs lang erwartete Arbeit sehen.

Ab Ende April zeigt Arte das Werk, im Herbst dann die ARD, nach zwei langen Jahren mühevoller Produktion, einer Insolvenz und einer Verschiebung durch die Sendeanstalten. Gedreht wurde ab Anfang 2008 in Berlin und in Polen. Die Entstehungsgeschichte allein zeigt schon, wie viel mit dem Film auf dem Spiel steht.

Genrekino. Polizeiserie. Einwandererdrama. Familiengeschichte. Verbrechensanalyse. Love Story. So viele Fäden verknotet die Serie, dass es kaum möglich ist, inhaltliche Schneisen zu schlagen. Marek Gorsky (Max Riemelt) ist Polizist, gemeinsam mit seinem smarten Kollegen (Ronald Zehrfeld) ermittelt er nach und nach gegen das von Russen organisierte Verbrechen. So kehrt Marek in das Milieu zurück, aus dem er als Sohn jüdischer Einwanderer aus Lettland fliehen wollte. Der Bruder wurde zehn Jahre zuvor erschossen, den Mörder will Marek noch finden. Seine Schwester (Marie Bäumer) ist mit dem Bandenchef (Misel Maticevic) verheiratet, Marek gilt in diesen Kreisen als Aussätziger, der seine Ehre verwirkt hat, seit er Polizist ist. Einmal lassen sie ihn auf der Tanzfläche einer Feier alleine stehen. Außenseiter unter Außenseitern.

Dominik Graf erzählt mit all seiner Kunst. Seine Fernseharbeiten lagen stets weit über dem Durchschnitt. Niemand in Deutschland kann so akribisch und genau Polizeialltag ausbreiten wie Graf, mit seiner Vorliebe für überlappenden Ton und Parallelmontagen führt er im Kern moralische Dilemmata aus: Verrat, Loyalität, Korruption, Gier. Und von da aus breitet der Film sein erstaunliches Panorama aus, der Inhalt der einzelnen Folgen wuchert wie ein Pilz um einen Stamm.

Die Kamera driftet immer wieder weg vom Geschehen und breitet das Leben der kleinen und großen Gangster, Ehefrauen, Zwangsprostituierten mit einer Wahrhaftigkeit aus, die im deutschen Fernsehen so nicht zu sehen ist. Ob bei jüdischen Feiern, in Russendiskos, bei Familienfesten in Restaurants: Graf interessiert sich für Hierarchie wie für die Basis des Verbrechens, die Serie verzahnt, wo andere mangels Zeit und Ideen Zäune errichten.

Der Regisseur und sein bevorzugter Autor Rolf Basedow finden stets Zeit, um die großartig rhythmisierte Action mit wundersamen Geschichten zu konterkarieren, die alle Figuren zu ihrem Recht kommen lassen. Polizisten und Bandenhandlanger dürfen von Liebe sprechen, jüdische Schuster und eklige Unternehmer von Zukunft und Glück träumen, sie alle sehnen sich unbändig nach Leben, ohne dass sie wie Stereotypen wirken. Graf kommt den Klischees nahe, wenn es Rosenblätter aus dem Himmel auf Marie Bäumer regnet, und doch ist die Serie kitschfrei. Auf Genrekonventionen aufgebaut, entsteht so ein deutsches Gesellschaftspanorama, ein Einwandererklagelied und ein fulminantes Stadt-Porträt, das man außer in Berlin so nirgendwo drehen könnte.

Mag sein, dass die an schmale Kost gewöhnten TV-Zuschauer von so viel Reichtum und Komplexität überfordert sein werden, zumal über weite Strecken russisch mit Untertiteln gesprochen wird. Zuletzt wurde eine der besten Serien, der "Kriminaldauerdienst" im ZDF, eingestellt, weil die Quoten nicht gut genug, weil die Zuschauer von derart viel nervösem Realismus überfordert waren. Bei "Der Alte", bei "Ein Fall für Zwei", auch bei vielen "Tatort"-Folgen liegen die Dinge nun mal einfacher.

Seit Jahren seufzen die Freunde der neuen Fernsehästhetik, dass es in Deutschland keine auch nur im Ansatz ähnliche intelligente Serien wie "Die Sopranos" , "The Wire" oder "Mad Men" gibt, Serien, die mit inhaltlicher Wucht und ausschweifenden Erzählmöglichkeiten arbeiten, die aus dem Vollen schöpft und den üblichen belanglosen Krimidreck überflügeln. Hier ist sie nun.

Die "Sopranos" ist ein amerikanisches Epos mit mehr als 80 Stunden Länge. Für eine Staffel "24" werden 24 Folgen genehmigt, finanziert, gedreht, verkauft. "Im Angesicht des Verbrechens" hat nur zehn Folgen, doch sie setzen im doppelten Sinn fürs Erste Maßstäbe. Man folge also der Wassernixe und begebe sich in ein unbekanntes Reich voller Schönheit.

Ab 27. April auf Arte.