Am 7. Februar 2005 wurde die 23-jährige Hatun Sürücü in Berlin auf der Straße erschossen – von ihrem Bruder. Die rbb-Journalisten Jo Goll und Matthias Deiß haben sich jahrelang mit dem Fall beschäftigt und den Mörder im Gefängnis besucht. Daraus entstanden ein ARD-Film und ein Buch. Ein Auszug.

Der Mann, der seine Schwester mit drei Schüssen in den Kopf getötet hat, bereitet türkischen Tee zu. Der Mörder hat lange, schlanke Finger und eine zierliche Figur. Seine Bewegungen sind langsam, überlegt. Sein nächster Satz nicht. „Mir war klar, dass ich sie töten werde, und ich habe niemanden gesehen, der mich davon abhalten könnte. Ich war damals regelrecht besessen.“ Ayhan Sürücü steht in einer kleinen Küche der Justizvollzugsanstalt Berlin-Charlottenburg, Haus 4. Zwei Jahre hat es gedauert, bis die Erlaubnis der Berliner Justiz für einen Besuch bei Ayhan Sürücü kam. Und auch er hat lange überlegt, aber jetzt will er reden. Über die Tat, die Deutschland bewegt hat. Über den „Ehrenmord“ an Hatun Sürücü, seiner Schwester.

Inzwischen hat er den Tee in kleine Gläser gegossen. Der blasse, junge Mann in dem blaugrau gestreiften Pullover trägt sie in seine Zelle. Ein Dreitagebart betont sein hageres Gesicht. Die kurzen schwarzen Haare trägt er gescheitelt. Höflich bietet er in dem kleinen, sechs Quadratmeter großen Raum auf zwei Stühlen Platz an. An der Wand hängt ein gewebter Teppich, auf dem das Heiligste aller Muslime zu sehen ist: Mekka, der Geburtsort des Propheten Mohammed. Über dem Bett liegt eine sorgsam ausgebreitete Tagesdecke. Unter dem Fenster steht ein kleiner Schreibtisch. Darauf liegen ordentlich gestapelte Papiere. Auf der Kommode gegenüber steht ein kleiner Flachbildfernseher. „Ordnung und Sauberkeit sind für mich extrem wichtig. Anders würde ich das hier drinnen nicht aushalten“, sagt Ayhan. Für einen Moment huscht ihm dabei ein Grinsen über sein jugendliches Gesicht. Ein Mörder mit guten Manieren. Bei der Begrüßung hat er sich leicht nach vorn gebeugt. Seine Augen sind wach und doch seltsam verschlossen. Er weiß, dass er sich gleich vielen unangenehmen Fragen stellen muss. Fragen, die er sich schon oft selbst gestellt hat. Schon früh hat er in Haft eine Psychotherapie begonnen. Seit fast sechs Jahren liegt er abends, so erzählt er, grübelnd auf seinem Bett. Dabei kommen ihm immer wieder die Bilder vor Augen, Bilder vom Abend des 7. Februar 2005.

An diesem Abend klingelt der achtzehnjährige Ayhan Sürücü gegen 20.15 Uhr an der Wohnungstür seiner Schwester Hatun. Was in der nächsten Dreiviertelstunde passiert, wird den Blick auf viele Muslime in Deutschland auf Jahre hinaus trüben. Große Teile muslimischen Lebens werden nach diesem Abend auf Zwangsheirat und Ehrenmord reduziert.

Ayhan Sürücü besucht seine Schwester oft

Hatun lebt in Berlin-Tempelhof. Ihre Zwei-Zimmer-Wohnung liegt in der Nähe der lauten Oberlandstraße. Eine triste Gegend, Tausende Autos und Lastwagen rollen täglich durch diese Straße, die zur nahen Stadtautobahn führt. Dönerbuden, Kioske und türkische Frisiersalons prägen das Straßenbild. Hatun Sürücü lebt hier in einer schmucklosen Mietskaserne, aber sie kennt die Nachbarn und fühlt sich wohl. Für die junge Frau ist ihre kleine Wohnung im dritten Stock ein Ort der Freiheit, der Selbstbestimmung. Der vier Jahre jüngere Ayhan besucht seine Schwester regelmäßig. Wie so oft ist er wütend auf sie. Die beiden streiten sich, wie fast immer geht es um Hatuns Lebensstil, den Ayhan als zu freizügig, zu westlich kritisiert. Nach etwa dreißig Minuten springt er auf. Er sagt, er wolle noch einen seiner Brüder treffen. Hatun entschließt sich, ihn zur Bushaltestelle zu begleiten.

Es ist ein klarer, kalter Abend. Hatun zieht sich nicht einmal eine Jacke an, sie wird ja in wenigen Minuten zurück sein. Zurück bei ihrem fünfjährigen Sohn, der im Bett liegt und schläft. Sie gehen die Treppe hinunter auf die Straße. Dort zündet sich Hatun eine Zigarette an. Seit sie allein lebt, hat sie das Rauchen angefangen. Auch das ist ein Ausdruck ihrer Freiheit. In der anderen Hand hält sie eine rote Kaffeetasse, die ihre kalten Finger wärmt. Bruder und Schwester gehen die etwa dreihundert Meter zur Bushaltestelle an der Oberlandstraße nebeneinander her. Sie streiten weiter, erst verhalten, dann immer heftiger. Plötzlich zieht Ayhan eine Pistole aus seiner Jackentasche. Er sieht in die Augen seiner erschrockenen Schwester. Sie fragt ihn: „Was soll das?“ – „Ich will nur in die Luft schießen“, beruhigt er sie. Dann aber fragt er: „Bereust du deine Sünden?“ Weil sie in diesem Moment begreift, was er vorhat, bejaht sie die Frage und fleht ihn an: „Bitte, tu es nicht!“

Von den vorbeifahrenden Autos hält keines an. Ayhan Sürücü richtet die Waffe auf seine Schwester – und schießt. Die Kugel trifft Hatun aus kürzester Distanz an der rechten Stirnseite. Ein sogenannter Steckschuss, der laut Obduktionsbericht Verletzungen des rechten Scheitellappens und Brüche des Schädeldaches verursacht. Ayhan feuert noch zwei weitere Schüsse auf Hatuns Kopf ab; dabei steht er weniger als eine Armlänge von seinem Opfer entfernt. Treffer zwei und drei verletzen das Großhirn, den Unterkiefer und die Zunge. Hatun lässt die Kaffeetasse fallen. Taumelt einige Meter weiter. Sie bricht zusammen, bleibt auf dem Rücken liegen – stirbt auf dem Asphalt an der Bushaltestelle Oberlandstraße. Es ist 20.55 Uhr. Neben ihrer Leiche liegt die zerbrochene Kaffeetasse, in ihrer Hand die erloschene Zigarette.

Zeugen sagen später aus, ein junger, dunkel gekleideter Mann habe sich unmittelbar nach den Schüssen über die Frau gebeugt, als wolle er nachsehen, ob sie tot ist. Für die Richter am Berliner Landgericht war das ein „kaltblütig umgesetzter Mord“. So steht es in der Urteilsbegründung.

Einen kaltblütigen Mörder aber stellt man sich anders vor. Nicht mit diesem freundlichen Lächeln im Gesicht, wenn er Tee nachschenkt. Seine ganze Erscheinung, seine Art zu sprechen und seinem Gegenüber dabei in die Augen zu blicken – alles wirkt ruhig, aber bestimmt, manchmal durchdringend und vor allem: bereit, über sich und seine Geschichte zu reden.

Bis heute weiß niemand, was in den Monaten vor diesem 7.Februar 2005, vor dem Mord an Hatun Sürücü, wirklich passiert ist. War es ein Familienkomplott, wie die Berliner Staatsanwaltschaft bis heute vermutet? Haben die Sürücüs gemeinsam beschlossen, dass die älteste Tochter Hatun, von allen Aynur genannt, sterben muss? Aynur heißt so viel wie: Jemand leuchtet so hell wie der Mond. Ein Rufname, den Hatun mochte. Der gut zu ihr passte.

Ayhan Sürücü ist der jüngste Bruder

Ayhan Sürücü wächst bei seinen Eltern mit vier Brüdern und vier Schwestern in Kreuzberg auf. Vater Kerem Sürücü, ein Gärtnergehilfe aus einem Dorf in der ostanatolischen Provinz Erzurum, kommt 1971 nach West-Berlin. Seine Frau Hanim folgt ihm sieben Jahre später mit den beiden ältesten Söhnen, die in der Heimat geboren sind. Sie hat nie eine Schule besucht. Kerem Sürücü ist inzwischen Hilfsarbeiter in einer Großbäckerei. Die Familie Sürücü bewohnt an der vierspurigen Kottbusser Straße eine etwa hundert Quadratmeter große Vier-Zimmer-Wohnung. Wenn Bekannte die Familie besuchen, halten sich Männer und Frauen in getrennten Räumen auf. Die Frauen tragen Kopftücher. Besonders die unverheirateten Töchter sind der Tradition gehorchend vor den Blicken anderer Männer zu schützen. „Die Männer wollen das so. Und die Frauen auch. Wenn wir Männer zu den Frauen sagen würden, ihr könnt euch zu uns setzen, dann würden sie sagen: Nee, wir bleiben lieber unter uns“, erzählt Ayhan Sürücü. Und Hatun? Wie hat sie darüber gedacht? Er überlegt kurz. „Keine Ahnung. Ich hatte nie so eine Situation mit ihr.“

Vater Sürücü nimmt seine älteste Tochter Hatun aus der Schule, als sie sechzehn Jahre alt ist. Hatun hat gerade die achte Klasse des Gymnasiums beendet. In den Sommerferien des Jahres 1997 reist sie mit ihrem Vater in die Türkei. Kerem Sürücü stellt ihr dort ihren neun Jahre älteren Cousin Ismail vor. Er ist der Sohn einer Schwester ihres Vaters. Ihr wird gesagt, dass sie diesen Mann heiraten soll. So haben es ihr Vater und die Istanbuler Verwandtschaft bestimmt. Eine Ehe, gegen die sich weder Hatun noch ihr Bräutigam wehren können. Nach nicht einmal einem Jahr ist die Ehe gescheitert. Kerem Sürücü nimmt seine inzwischen schwangere Tochter wieder in der Familie auf, obwohl Hatun nun eine echte Belastung für die streng nach kurdischer Tradition und Sitte lebende Familie darstellt. Schließlich ist sie aus der Ehe mit einem Verwandten ausgebrochen und hat die Familie damit in Verruf gebracht.

Das scheint Ayhan Sürücü aber nicht besonders gestört zu haben. „Es war ja kein uneheliches Kind. Sie war ja verheiratet gewesen, und dass sie sich scheiden ließ, habe ich damals als Jugendlicher gar nicht so richtig realisiert.“ In der türkischen Nachbarschaft in Kreuzberg wird trotzdem viel getratscht. Die Ehre der Sürücüs, die im Kiez bekannt sind und als streng religiös und orthodox gelten, gerät in Gefahr.

Am 8. Mai 1999 bringt Hatun ihren Sohn zur Welt, in der Wohnung der Sürücüs wird es noch enger. Ständig kommt es zu Streitereien mit der ältesten Tochter, die nicht so leben will, wie es die Tradition verlangt. Sie will nicht zurückgezogen ihre Tage verbringen und sich zum Einkaufen verhüllen. Sie träumt davon, ihren Schulabschluss nachzuholen und einen Beruf zu erlernen.

Ayhan bestreitet jegliche Beteiligung seines Vaters

Hatun sucht und erhält Unterstützung: Am 1. Oktober 1999 zieht sie aus und findet in einem Wohnheim für minderjährige Mütter im bürgerlichen Bezirk Lichterfelde Zuflucht. All ihre Wünsche geht sie nun an. In der Einrichtung besteht die ehemalige Gymnasiastin im Juni 2000 die Fremdenprüfung zum Erwerb des erweiterten Hauptschulabschlusses. Wenige Wochen zuvor hat sie mit Unterstützung des Jugendamtes die Wohnung in Tempelhof bezogen. Im September 2001 beginnt sie eine Ausbildung zur Elektroinstallateurin. Ein Männerberuf. Auch dies bringt ihren Vater und einige ihrer Brüder gegen sie auf. Heute sieht Ayhan die Berufswahl seiner Schwester eher gelassen. „Damit hatte ich keine Probleme. Andere Dinge haben mich viel mehr gestört.“

Das Kopftuch trägt sie zu dieser Zeit nicht mehr, sie schminkt sich, trägt modische Kleidung. Die Richter des Berliner Landgerichts, die später den Fall verhandeln, kommen in ihrem Urteil zu dem Schluss, dass Hatun „vor dem Hintergrund ihres damaligen Alters, ihrer Erziehung und allgemeinen Sozialisation einen ungewöhnlichen und bemerkenswerten Schritt vollzogen“ habe. Das Verhältnis zu ihrer Familie verschlechtert sich in dem Maße, in dem sie es schafft, sich eine eigene Existenz aufzubauen. Hat all dies die Ehre dieser kurdischen Großfamilie so sehr verletzt, dass der jüngste Sohn den Auftrag zum Mord erhielt?

Bis heute bestreitet Ayhan jegliche Beteiligung seines Vaters oder seiner Brüder an der Tat. Er wird am 13.April 2006 zu neun Jahren und drei Monaten Jugendstrafe verurteilt. Die beiden mitangeklagten Brüder M. und A. werden aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Doch noch immer kennt niemand die Wahrheit – außer dem blassen jungen Mann in dieser Zelle und seiner Familie, die zur Wahrheitsfindung nichts beigetragen hat.

Die Boulevardpresse ist sich schon wenige Tage nach der Tat sicher: Die Sürücüs sind zurückgebliebene Hinterwäldler aus Ostanatolien, die seit fast vierzig Jahren in Deutschland leben und dennoch nie hier angekommen sind. Bis heute hat sich an dieser Einschätzung so gut wie nichts geändert. Aber war es ein „Ehrenmord“, wie er im Buche steht?

Wer sich intensiver mit dieser Familie beschäftigt, stellt schnell fest: Alles ist viel komplizierter, vielschichtiger und mit simplen Phrasen nicht zu erklären.

Ayhan hat damals schnell begriffen, dass er sich mit dem Gefängnisalltag arrangieren, dass er die nächsten Jahre in dieser Welt hinter Gittern klarkommen muss. Wieder huscht dieses Grinsen über sein Gesicht. Ein Schmunzeln, das dem jungen Mörder etwas seltsam Abgeklärtes gibt. Etwas, das andere Jugendliche mitreißen kann, etwas, das im harten Knastalltag sicher nicht schadet.

Er lässt sich zum Insassensprecher wählen und vertritt die Anliegen seiner Mithäftlinge gegenüber der Anstaltsleitung. Ayhan versteht es, zu argumentieren. Im Jugendgefängnis, so erzählen es einige, die dort mit ihm zu tun hatten, soll er von vielen Insassen muslimischen Glaubens als Held verehrt worden sein. „Kann sein, dass einige dachten, ich hätte da was Tolles gemacht, die Ehre der Familie wiederhergestellt. Ich habe mich darum nicht gekümmert.“ Er sagt das seltsam beiläufig, irritierend emotionslos.

Schon als Kind streng dogmatisch

Spricht er über sich und sein Heranwachsen in Kreuzberg, senkt sich sein Blick ab und zu. „Ich hatte eigentlich in meinem Leben noch nie einen deutschen Freund. Den ersten hab ich hier im Knast kennengelernt.“ Wie ist das möglich – keinen einzigen deutschen Freund zu haben, mitten in Berlin? „Man hat sich gemieden, und das hat auf Gegenseitigkeit beruht. Man hat einfach nichts miteinander zu tun haben wollen, weder von der einen noch von der anderen Seite.“

1993 wird Ayhan Sürücü in der Fichtelgebirge-Grundschule in Kreuzberg eingeschult. Ayhan ist ein guter Schüler. Nach Abschluss der sechsten Grundschulklasse erhält er eine Realschulempfehlung und wechselt auf die Borsig-Oberschule, wo seine Leistungen rapide nachlassen. Er gerät unter den Einfluss von Mitschülern, die die Schule nicht allzu ernst nehmen – er strengt sich nicht mehr an, verliert den Anschluss. Schließlich muss er die siebte Klasse wiederholen. Um in dieser Klasse nicht noch einmal sitzenzubleiben, wechselt er ein Jahr später auf die Eberhard-Klein-Oberschule an der Skalitzer Straße, die einige Jahre später für Schlagzeilen sorgt: als erste Berliner Schule, die von keinem deutschen Kind mehr besucht wird. Der Schulleiter wird in der Presse mit dem Satz zitiert: „Ich empfehle deutschen Eltern, ihre Kinder nicht an meiner Schule anzumelden. Ich kann das nicht verantworten.“

Schulleiter Bernd Böttig ist ein gemütlich wirkender Mann. Wenn er über Ayhan Sürücü spricht, sind ihm der Schreck und die Enttäuschung über die Tat anzumerken. „Ayhan ist eine sehr ausgeprägte Persönlichkeit“, sagt er, „alles andere als ein Dummer.“ Ein höflicher, respektvoller Schüler mit guten Umgangsformen. Ein Schüler, dessen Leistungen sich von Jahr zu Jahr steigerten – seinen Realschulabschluss schaffte er 2003 ohne größere Schwierigkeiten mit der Note befriedigend. Ein Schüler, der sich Mühe gab, der im Gegensatz zu vielen anderen seiner Mitschüler erkannte, dass Bildung ein wichtiger Baustein für sein späteres Leben ist. In religiösen Fragen allerdings sei er streng dogmatisch gewesen. Und dann erzählt Böttig die Geschichte vom 11.September 2001. Ayhan habe auf Plakaten in der Schule „die Juden und die Ungläubigen“ für die Terroranschläge verantwortlich gemacht. „Das war ein Schock für uns“, erinnert sich Böttig.

Ayhan Sürücü war damals fünfzehn Jahre alt und in seinem Glauben offenbar bereits sehr gefestigt. In Diskussionsrunden mit Lehrern und Mitschülern zeigt er sich oft unnachgiebig. Wenn von der Rolle der Frau im Islam die Rede ist, argumentiert Ayhan mit Suren aus dem Koran. „Und wenn er mal nicht weiterwusste, kam er am nächsten Tag mit einer weiteren Sure an, die seine Ansicht bestätigen sollte.“

Auch Ayhans jüngere Schwestern besuchen damals die Eberhard-Klein-Oberschule. Es gibt Schwierigkeiten, ihre Leistungen reichen nicht aus. Auf Elternabenden vertritt Ayhan seine Eltern, kümmert sich um die Belange der beiden Schwestern. „Er hat mir kurz nach seiner Inhaftierung aus dem Gefängnis einen Brief geschrieben, in dem er mich bittet, auf seine Schwestern achtzugeben“, erzählt Schulleiter Böttig. „Das hörte sich aber nicht nur nach Fürsorge an. Ich hatte den Eindruck, dass diese Zeilen auch seinem Wunsch nach Kontrolle über die beiden entsprachen. Deshalb habe ich den Brief auch nie beantwortet.“ Ayhan bewertet die Dinge heute anders. „Ich habe diesen Brief geschrieben, weil ich mir in der U-Haft große Sorgen um meine jüngeren Schwestern gemacht habe. Sie wurden von manchen Lehrern schikaniert. Sie wurden gefragt: Willst du nicht mal das Kopftuch ablegen? Dein Bruder sitzt doch jetzt im Gefängnis. Der kann dich nicht mehr umbringen. Und dann kamen sie weinend zu meiner Mutter nach Hause.“

Ayhan meint, seine streng religiöse Familie sei trotz allem in die deutsche Gesellschaft integriert gewesen. „Was heißt das – integriert sein?“, fragt er achselzuckend. „Für mich bedeutet das nicht unbedingt, dass man genauso leben muss wie die Mehrheit. Sondern dass man die Gesetze und die Traditionen dieses Landes toleriert – das bedeutet für mich, integriert zu sein.“

Er versucht zu erklären, was passiert ist

Einige Wochen vor dem Prozess schildert er einem Gerichtspsychologen seine Rolle innerhalb der Familie. „Da meine Brüder alle verheiratet waren und inzwischen in einer eigenen Wohnung ihr eigenes Leben führten, hatten die zu Hause nichts zu sagen. Vor allem nicht bei mir. Meine großen Brüder haben sich nicht an den Koran gehalten. Haben ein eigenes Leben außerhalb der Familie gelebt.“ Der kleine Bruder als Sittenwächter über die Schwestern, der den Vater als Familienoberhaupt vertritt. Eine Rolle, die einen Achtzehnjährigen im eigenen Selbstbild beflügeln mag, ihn aber andererseits mit Sicherheit überfordert. Für die beiden jüngsten Töchter fühlt sich Ayhan besonders verantwortlich. „Ich habe mich eingesetzt dafür, dass es Schulschwänzereien nicht gibt“, erzählt er dem Gerichtspsychologen. „Ich habe Dinge übernommen, die eigentlich ein Vater macht. Daneben habe ich für die Familie eingekauft und die Wohnung renoviert.“ Schwer zu begreifen, wie ein Achtzehnjähriger eine Großfamilie mit neun Kindern derart dominieren kann. War es so? Oder neigt Ayhan Sürücü, wie es im psychologischen Gutachten heißt, zur Selbstüberschätzung? „Ich war damals sicherlich ein Stück weit überfordert“, sagt Ayhan. „Das ist mir in der Haft klar geworden.“ Wie entwickelte sich seine Einstellung gegenüber Hatun? Woher dieser Hass, der ihn schließlich zur Waffe greifen ließ? Ayhan zieht an seiner Zigarette, beginnt langsam und überlegt zu sprechen. „Das war kein bestimmtes Ereignis. Es hat sich mit der Zeit einfach in meinem Kopf festgesetzt. Damals war für mich das Wichtigste, dass sie kein schlechtes Vorbild für meine anderen Schwestern ist.“

Hatuns Lebensstil wird von ihren Freunden, von Sozialarbeitern und Ausbildern als überwiegend diszipliniert beschrieben. Als alleinerziehende Mutter und Auszubildende musste sie viel leisten. Was also hat dem kleinen Bruder an diesem Lebensstil so missfallen? Ayhan überlegt lange. „Für meine Vorstellungen war das alles zu freizügig, zu offen. Vor allem, was den Umgang mit Männern betraf. Mehrere Beziehungen …“ Immer wieder endet sein Redefluss abrupt, wenn die Sprache auf Hatun kommt. Auffällig ist, dass er ihren Namen nie ausspricht – als wollte er nicht wahrhaben, dass es sie wirklich gegeben hat. Und dass dies alles wirklich geschehen ist. „Es ist schwierig, gegenüber einem Menschen Gefühle zu hegen oder was auch immer, wenn man weiß, dass man diese Person umgebracht hat. Es steht mir einfach nicht so richtig zu, über sie zu reden“, sagt Ayhan. In diesen Momenten distanziert er sich von dem jungen Mann, der er damals war. „Wenn ich zurückblicke und mein Ich von damals, sozusagen, betrachte, dann denke ich, dass ich damals noch ein Kind war. Ich war damals achtzehn, sehr unreif und unerfahren. In der Haft bin ich reifer geworden, habe viel dazugelernt. Auch durch die Verlegung in den Erwachsenenvollzug hat sich einiges geändert. Ich bin hier drinnen erwachsen geworden.“

Ayhan Sürücü sieht erschöpft aus. Wieder unternimmt er einen Versuch zu erklären, was sich damals in ihm abspielte. „Da kam immer mehr Hass in mir auf, obwohl ich sie geliebt habe. Sie stand immer im Mittelpunkt, und ich habe sie für alles verantwortlich gemacht, was schlecht lief.“ Ayhan erwartet in Anbetracht seiner Rolle innerhalb der Familie Respekt und Bestätigung. Die ältere Schwester pfeift darauf, er fühlt sich verhöhnt, auch von seinen Eltern. „Mir hat die Beachtung gefehlt, ich wollte Anerkennung. Auch deshalb habe ich es getan.“

Nach der Tat denkt er oft an Hatuns Kind

Ayhan ist anzusehen, dass er versucht, sich an die Vorgänge von damals exakt zu erinnern. „Auf dem Weg wurde die Diskussion immer schlimmer. Ich habe ihr vorgeworfen, dass ihr Lebensstil unmöglich ist.“ Kann er sich an die letzten Äußerungen seiner Schwester erinnern? Wieder zögert er, wieder sucht er nach den richtigen Worten. „Als wir fast bei der Bushaltestelle angekommen waren, wurde unser Streit immer schärfer. Irgendwann hat sie dann den Satz rausgehauen: ‚Ich schlafe, mit wem ich will. Das geht dich nichts an!' Und da habe ich einfach nicht mehr nachgedacht. Ich habe ausgeschaltet und …“ Ayhan bricht mitten im Satz ab. Er kann nicht aussprechen, was er dann getan hat. Der letzte, angsterfüllte Blick seiner Schwester, als er die Waffe zieht. Der Moment, als er abdrückt. Seine Augen sehen müde aus. Er ist sichtlich bewegt, doch er scheint auch erleichtert. Gerade hat er Fremden erzählt, was er jahrelang nur mit sich selbst ausgemacht hatte. Und mit seinem Psychologen. Was war damals sein erster Gedanke nach den Schüssen? „Ich war mit mir selbst zufrieden, weil ich diesen Entschluss, den ich schon so lange mit mir herumgetragen hatte, diesen Gedanken, endlich vollbracht hatte.“ Unmittelbar nach den Schüssen flieht Ayhan vom Tatort. Er hastet durch ein paar Querstraßen. Nach einer Weile steigt er in einen Bus, der direkt am Tatort vorbeifährt. Aus dem Fenster sieht er seine tote Schwester auf dem Gehweg liegen. In diesem Moment wird ihm klar, dass ihr kleiner Sohn jetzt allein in der Wohnung ist und seine Mutter sich nie mehr um ihn kümmern kann. „Da kam mir der Gedanke, auszusteigen und in die Wohnung zu gehen, um ihn zu holen. Aber mir wurde schnell klar, dass ich ohne den Schlüssel gar nicht reinkommen würde. Nach der Tat habe ich dann sehr oft an den Jungen gedacht.“ Der Junge wird noch in derselben Nacht von der Polizei aus der Wohnung geholt und vorübergehend beim Kindernotdienst in Kreuzberg untergebracht. Am nächsten Morgen wird er über den Tod seiner Mutter informiert, ein Psychologe ist anwesend.

„Ich dachte, ich tue dem Kind etwas Gutes“, sagt er später zum Gerichtspsychologen. „Im Gegenteil. Ich weiß, dass der Junge irgendwann zu mir kommt und fragt: Warum hast du meine Mutter umgebracht? Vielleicht wird er sich auch rächen an mir. Er weiß nicht, dass ich gedacht habe, ich tue was Gutes. Ich habe mich für was Besonderes gehalten.“

Einer seiner besten Freunde wird im Prozess aussagen, Ayhan habe ihm am Tag danach erzählt, er habe so gut geschlafen wie seit Jahren nicht mehr. Eine Schilderung, die Prozessbeobachter schockiert. Heute versichert der Häftling, dass es anders war. „Ich weiß nicht, wie er darauf gekommen ist. Ich saß die ganze Nacht in meinem Zimmer. Ich hatte Millionen Gedanken im Kopf. Ich war bis sechs Uhr am Morgen wach.“

In der Befragung durch den Gerichtspsychologen gibt er an, es sei damals ein langer Entwicklungsprozess gewesen. Er habe mit verschiedenen Leuten über das Thema „Töten zur Wiederherstellung der Familienehre“ gesprochen, nicht aber mit seiner Familie. Auch habe er Bücher über Familienehre gelesen. Als er knapp ein Jahr nach der Tat vom Gerichtspsychologen gefragt wird, wie sein Vater auf die Nachricht reagiert habe, dass er der Mörder sei, beginnt Ayhan Sürücü laut Protokoll bitterlich zu weinen. Sein Vater habe ihm vorgehalten, er habe die Familie zerstört.

War es so? Ayhan bleibt bei seiner Version. „Ich habe meinen Vater nach zwei Jahren zum ersten Mal wiedergesehen hier im Knast. Das war ein Schock für mich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein Mensch innerhalb von zwei Jahren um zehn, fünfzehn Jahre älter wird. Daran habe ich gemerkt, dass ich mich getäuscht habe. Ich habe es auch daran gemerkt, wie meine Mutter unmittelbar nach der Tat gelitten hat.“ Tatsächlich verschlechtert sich der Gesundheitszustand von Kerem Sürücü in dieser Zeit rapide. Im Jahr 2007 stirbt der Vater in der Türkei an Krebs. Ayhan Sürücü sagt, sein Vater sei mit Hatuns Tod nicht fertig geworden.

Bekam er eine goldene Uhr als Anerkennung?

Prozessbeobachter behaupten bis heute, Ayhan Sürücü habe während der sieben Monate dauernden Gerichtsverhandlung mehrmals seinen linken Arm nach oben gehalten und demonstrativ eine goldene Uhr an seinem Handgelenk gezeigt. Söhne erhalten nach kurdischem Brauch eine goldene Uhr von ihren Vätern, wenn sie etwas Besonderes, etwas Herausragendes geleistet haben. Etwas, das im Sinne der Familie ist. „Das ist eine Lüge!“, widerspricht Ayhan. „Ich habe nie eine Uhr von meinem Vater geschenkt bekommen. Schon gar nicht als Belohnung.“ Später räumt Ayhan allerdings ein, dass er während des Prozesses tatsächlich eine Uhr getragen habe. Diese Uhr habe seinem Vater gehört, und er habe sie am Morgen des Tattages auf dem Küchentisch liegen sehen und sie sich dann ums Handgelenk gelegt. Danach sei er aus dem Haus gegangen. Von außen betrachtet ein merkwürdiger Zufall. „Ja, das ist wirklich ein komischer Zufall gewesen. Aber so war es einfach.“

Einige Zeit vor Hatuns Ermordung besucht Ayhan regelmäßig eine Moschee im Bezirk Wedding. Hat diese Nähe zu islamistischen Kreisen seinen Hass auf Hatun verstärkt? Hat er sich in dieser Zeit radikalisiert? Ayhan weist das heute weit von sich. „Die Behörden haben mich nach dem Mord fast als Terroristen abgestempelt. So radikal war ich aber nie. Es war einfach der Versuch, die Religion als Lebensordnung anzunehmen und zu praktizieren. Heute bin ich ein ganz normaler Moslem, der seine Religion lebt und mit seinen Mitmenschen auskommen will. Meine Religiosität ist nur zwischen mir und Gott.“ Ayhan fasst in den Tagen vor der Tat einen folgenschweren Entschluss: Er will Hatuns Sohn nach ihrem Tod zu sich nehmen und dafür sorgen, dass der Junge im Sinne des Islam, als gläubiger Muslim, aufwächst. Der Plan besiegelt Hatuns Todesurteil. Und macht ihren Sohn zur Halbwaise. „Wenn der Junge mich heute fragen würde: Wie war meine Mutter? Ich glaube nicht, dass ich ihm antworten könnte.“

„Ehrenmord – Ein deutsches Schicksal“ von Matthias Deiß und Jo Goll erscheint am 28. Juli bei Hoffmann und Campe, 240 S., 18,99 €

Die WDR/rbb-Dokumentation „Verlorene Ehre – Der Irrweg der Familie Sürücü“ wird am 27. Juli um 23 Uhr in der ARD ausgestrahlt