An einer Viertelmillion vertraulicher Dokumente aus US-amerikanischen Botschaften und Ministerien ist am Sonntagabend auch „Anne Will“ nicht vorbeigekommen. Die Beurteilungen amerikanischer Diplomaten über ausländische Entscheidungsträger sind oft wenig schmeichelhaft: Über Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist zu lesen, sie sei risikoscheu, und Außenminister Guido Westerwelle (FDP) wird als aggressiv bezeichnet.
Ein Desaster für die US-Diplomatie und auf Anhieb Gesprächsthema Nummer Eins weltweit. Kurzerhand wurde am Wochenende Anne Wills Sendeplanung über den Haufen geworfen, die Talkgäste ausgeladen und eilig neue Diskutanten ins TV-Studio gebeten. Statt „Stress, Druck, Mobbing - wenn der Chef zum Feind wird“ standen die diplomatischen Notizen auf der Tagesordnung: „Wirbel um Wikileaks-Enthüllung – peinliches Zeugnis für Schwarz-Gelb?“
Niebels Achselzucken
Über die Brisanz der Veröffentlichung debattierten nun der frühere US-Botschafter in Deutschland, John Kornblum, PR-Berater Klaus Kocks, der Blogger Sascha Lobo, „Tagesspiegel“-Chefredakteur Stephan-Andreas Casdorff und Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP).
Letzterer ist persönlich von den Enthüllungen betroffen – über den Minister heißt es in den US-Dokumenten, er sei eine „schräge Wahl“, was Niebel allerdings achselzuckend abtat: Er selbst teile nicht diese Einschätzung, glaube zudem nicht, dass US-Botschafter Philip Murphy tatsächlich so über ihn denke, und er halte diese Meldung ohnehin für unbedeutend. Viel wichtiger und gefährlicher sei das Thema Datensicherheit.
„Was kann denn in Situationen, wo es um Menschenleben geht, ein derartiges Verbrechen bewirken für die Menschen, die da womöglich benannt sind, als Informanten in einem persönlichen, vertraulichen Gespräch, und was bewirkt das dann wieder für die Möglichkeit der Zusammenarbeit für die Zukunft“, gab Niebel zu Bedenken.
Auch wenn die Demokratie natürlich auf Informationsfreiheit angewiesen sei, öffne die Tatsache, dass heute jeder alles anonym ins Netz stellen könne, jedweder Art von Verleumdung Tür und Tor.
Kocks wies in diesem Zusammenhang auf die steigende Bedeutung eines qualifizierten Journalismus hin, der entscheiden müsse, ob Quellen verlässlich und verwertbar seien: „Wir brauchen eine kritische Beurteilung durch vernünftigen Journalismus, und wir brauchen ein abgewogenes politisches Urteil, sonst ist das Sprengstoff.“
Inmitten einer Zeitenwende
Einig war sich die teils hitzig debattierende Talkrunde darin, dass sich die Welt inmitten einer Zeitenwende befinde, was die Verfügbarkeit von Informationen angehe. Die Tragweise dessen sei nicht zu unterschätzen, sagte Lobo: „Wir erleben hier den ersten Ausläufer einer neuen digitalen Gesellschaftsordnung, die es extrem schwierig bis fast unmöglich macht, Daten geheim zu halten, und zwar selbst die delikatesten Daten. Und diese Mechanik, die ganz originär mit dem Internet zu tun hat, die das Internet über die Welt gebracht hat, das ist ein ganz, ganz kleiner Teil von dem, was wir in den nächsten Jahren erleben werden.“
Einer der wichtigsten Punkte hierbei sei, wie einfach es mittlerweile wäre, sensible Daten zu besorgen: „Früher musste man Sachen fotografieren und kopieren, und das war ein hoher Aufwand, und heute reicht ein USB-Stick und ein paar Klicks.“
Dass diese Entwicklung mit mehr Verantwortungsbewusstsein einhergehen müsse, forderte Kornblum. Die neuen Möglichkeiten bedeuteten nicht, dass dadurch auch alle Gesetze und moralischen Kriterien fallen würden. Gerade die Leute, die sich als Vorreiter einer neuen Freiheit wähnten, sollten wissen, dass zum Schutz der Freiheit und der freien Gesellschaft auch Verantwortung und gegebenenfalls Zurückhaltung vonnöten seien.
„Es gibt Teile der Welt, auch in der Geschäftswelt, bei denen man eine gewisse Geheimhaltung braucht. Nicht, weil das irgendetwas Niederträchtiges ist oder Spionage. Man kann offene Gespräche nicht haben, wenn man erwartet, dass es am nächsten Tag alles in der Zeitung steht“, betonte Kornblum.
Meinung junger Referenten
Das jetzt aufgetretene Datenleck sei höchst brisant, was dabei allerdings im Einzelnen enthüllt worden sei, wäre in vielen Bereichen gar nicht so bemerkenswert, wie es zunächst den Anschein mache, und zudem handele es sich nicht um Urteile der amerikanischen Regierung, sondern um Meinungen von teilweise sehr jungen Referenten, die anschließend in Washington kritisch bewertet würden.
Auch Lobo befand, dass man die meisten amerikanischen Äußerungen über deutsche Politiker „in jeder Fußgängerzone hätte erfahren können“, und Casdorff stellte hierzu fest: „Das hat in fast jeder deutschen Zeitung gestanden. Also, das ist jetzt nicht sehr originell, zu sagen, dass Guido Westerwelle aggressiv sei, dass er möglicherweise eitel ist, überschäumendes Temperament hat, das ist gang und gäbe.“
Laut Casdorff bestehe die aktuelle informationelle Revolution vielmehr darin, „dass wir jetzt nachprüfen können, und das ist der Wert, ob uns die Regierungen belügen.“ Dies könnte zu einer neuen, wahrhaftigeren Form von Diplomatie führen, „die eher bei dem ist, was die Wahrheit erfordert. Denn das, was da jetzt geschehen ist, das bedeutet: Ungeheuer oft wird nicht mehr die Wahrheit gesagt. Und das ist spannend.“