Geheimdokumente

Wikileaks enthüllt Bekanntes und Peinliches

| Lesedauer: 10 Minuten
Ansgar Graw

Manches war hinter vorgehaltener Hand schon länger erzählt worden, liegt nun aber offen auf dem Tisch. Manches dürfte die USA in Erklärungsnot bringen. In jedem Fall aber geben die auf Wikileaks veröffentlichten Dokumente Aufschluss darüber, wie die USA Außenpolitik betreiben.

Eine Viertelmillion zumeist vertraulicher Dokumente aus US-amerikanischen Ministerien und Botschaften hat die Online-Plattform Wikileaks am Sonntag gegen 19.30 Uhr (MEZ) veröffentlicht. Der Server der Enthüllungsplattform war daraufhin zunächst nicht zu erreichen. Ob er unter den massenhaften Zugriff neugieriger User oder durch gezielte Hackerattacken zusammenbrach, ließ sich nicht feststellen. Die US-Regierung hatte in den vergangenen Tagen die Wikileaks-Betreiber zu einem Verzicht auf die Veröffentlichung der Dokumente aufgerufen und gewarnt, durch die Publizierung würden viele Menschenleben gefährdet.

Nach einer ersten Übersicht der „New York Times“, die ebenso wie der „Guardian“ in London , „Le Monde“ in Paris und der „Spiegel“ in Hamburg vorab mit dem teilweise klassifizierten Material ausgestattet worden war, datieren die meisten Dokumente aus den vergangenen drei Jahren. Die aktuellsten Depeschen stammen offenkundig aus diesem Februar. Einige Hundert datieren aber auch aus der Zeit von 1966 bis in die 90er Jahre. Unter den 251.287 Depeschen sind 11.000 als „geheim“ eingestuft und 9000 als „noforn“, eine Abkürzung für den Hinweis, sie dürften nicht ausländischen Regierungen zugänglich gemacht werden. 4000 Dokumente sind sowohl „geheim“ als auch „noforn“. Der Rest des Materials ist nicht klassifiziert.

Enthüllt werden unter anderem 2007 gestartete geheime und bislang erfolglose Versuche der USA, hoch angereichertes Uran aus einem pakistanischen Forschungsreaktor unter Kontrolle zu bringen. US-Experten befürchten, dass Material könne für unerlaubte Nuklearwaffen genutzt werden.

Beim – inzwischen vertagten – Versuch Washingtons, das Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba zu schließen, hat die US-Regierung offenkundig bemerkenswerte Gegengeschäfte angeboten. Die Regierung Sloweniens etwa wurde aufgefordert, einen Häftling aus dem Lager aufzunehmen, um zu einem Treffen mit Präsident Barack Obama zu gelangen. Belgien bekam das Signal, es könne „auf preiswerte Weise Prominenz in Europa erlangen“, wenn es weitere Gefangene akzeptiere. Die pazifische Inselnation Kiribati erhielt für die Übernahme von Guantánamo-Insassen Gegenleistungen im Wert von mehreren Millionen Dollar.

Beim Besuch des afghanischen Vizepräsidenten vergangenes Jahr in den Vereinigten Arabischen Emiraten entdeckten lokale Behörden 52 Millionen Dollar in bar in seinem Gepäck. Die US-Botschaft in Kabul gab schließlich grünes Licht, damit Ahmed Zia Massoud das Geld (das er mutmaßlich auf Bankkonten deponierte) behalten durfte, ohne über dessen Ursprung Auskunft geben zu müssen. Die „New York Times“ merkt dazu an, dass der afghanische Politiker bestreitet, Geld außer Landes gebracht zu haben.

US-Außenministerin Hillary Clinton und ihre Botschafter, darunter Robert Murphy in Berlin, hatten ausländische Regierungen und Diplomaten weltweit in den vergangenen Tagen auf die Veröffentlichung des Materials vorbereitet, das teilweise negative Einschätzungen über Politiker in verbündeten Regierungen enthält und geheime US-Operationen enthüllt.

Es wird vermutet, dass auch das aktuelle Material von dem im Irak mit der Analyse von Geheimdienstberichten befassten Hauptgefreiten Bradley Manning Wikileaks zugespielt worden war. Manning, der sich in den USA in Haft befindet, soll im Frühjahr bereits große Mengen an zumeist militärischen Lageeinschätzungen aus dem Irak und Afghanistan an Wikileaks weitergeleitet haben, die dort bereits veröffentlicht wurden. Offenkundig hatte Mannings das als weitgehend sicher eingestufte Behördennetz SIPRnet geknackt, zu dem 2,5 Millionen US-Offizielle in Ministerien und Botschaften Zugang haben und das sie zur Weitergabe vertraulicher Unterlagen benutzen.

Medien, die von Wikileaks vorab mit dem brisanten Material ausgestattet wurden, zensierten sich bei der Veröffentlichung der Dokumente zumindest in einigen Fällen offenkundig selbst. So schreibt die „New York Times“, sie hätten die Namen einiger Personen unkenntlich gemacht, die privat mit Diplomaten sprachen und deren öffentliche Nennung mit Risiken verbunden sein könnte. Offenkundig handelt es sich dabei um geheimdienstliche Zuträger im Ausland. Auch hat das Blatt nach eigenen Angaben „einige Passagen oder komplette Depeschen zurück gehalten, deren Veröffentlichung Operationen von US-Geheimdiensten kompromittieren könnte“.

Peinlich für den Präsident des Jemen dürfte die Gesprächsnotiz eines Treffens mit General David H. Petraeus, damals der US-Oberkommandierende in Nahost, werden. Bei dem Treffen ging es unter anderem um einen US-Raketenangriff auf einen Al-Qaida-Stützpunkt im Jemen. Dafür hatte fälschlich die jemenitische Regierung die Verantwortung übernommen, um sich gegenüber der eigenen Öffentlichkeit nicht dem Vorwurf mangelnder Souveränität auszusetzen. Präsident Ali Abdullah Saleh „witzelte“ im Gespräch mit dem General, er habe diesbezüglich „gerade sein Parlament belogen“. Zudem klagte der Staatschef des muslimischen Landes über Schmuggel aus dem angrenzenden, französischen Dschibuti und scherzte, ihn bekümmerten Drogen und Waffen dabei mehr als Whiskey, „vorausgesetzt, es handelt sich um guten Whiskey“.

Über den libyschen Staatschef Muammar al-Gaddafi heißt es, er sei verstimmt gewesen, als er bei einem Besuch der UN-Generalversammlung weder sein berühmtes Beduinenzelt in Manhattan aufschlagen noch Ground Zero, den Ort der Terrorangriffs auf das World Trade Center vom 11. September 2001 besuchen durfte. Wegen dieser Verweigerung erwog der Libyer, die von ihm zuvor zugesagte Rückgabe angereicherten Urans an Russland aufzukündigen. Notiert wurde auch, dass Gaddafi selten ohne seine „ukrainische Chef-Krankenschwester“ gesichtet wurde, die als „wollüstige Blondine“ charakterisiert wird.

Der saudische König Abdullah äußerte sich gegenüber einem irakischen Diplomaten ausgesprochen offen über die verantwortlichen Politiker anderer muslimischer Staaten. Der König sagte dem Iraker, der offenkundig mit seinen US-Kollegen in engem Kontakt steht, über den irakischen Ministerpräsidenten Nuri Kamal al-Maliki: „Du und der Irak sind in meinem Herzen, aber dieser Mann nicht.“

Den pakistanischen Präsidenten Asif Ali Zadari nannte Abdullah das „größte Hindernis“ für Fortschritte in dem Land. „Wenn der Kopf faulig ist“, sagte er, „beeinflusst das den ganzen Körper“.

Ein US-Diplomat beschreibt eine Hochzeit im russischen Dagestan im Kaukasus, bei der unvermittelt der von Wladimir Putin eingesetzte Präsident Tschetscheniens, Ramzan Kadyrow, auftauchte. Bei dem Fest am Kaspischen Meer hätten betrunkene Gäste den kindlichen Tänzern 100-Dollar-Scheine zugeworfen, so dass die Tänzer am Ender „wahrscheinlich 5000 Dollar von den Pflastersteinen aufsammelten“. Kadyrow soll dem glücklichen Paar „einen Fünf-Kilo-Goldklumpen“ als Hochzeitsgeschenk mitgebracht haben. Als Kadyrow in der Nacht wieder in Richtung Tschetschenien aufbrach, fragte der US-Diplomat dessen Begleiter, warum der Präsident der vom Terrorismus erschütterten Provinz nicht die Nacht in Makhachkala verbringe, und bekam zur Antwort: „Ramzan verbringt nie eine Nacht irgendwo.“

Ein chinesischer Kontaktmann verriet der US-Botschaft in Peking im Januar, dass ein aufsehenerregender Virenangriff auf die Google-Server in China vom chinesischen Politbüro initiiert worden sei. Die Machthaber in Peking hätten auch Virenattacken auf US-Regierungscomputer sowie auf die Rechner verschiedener westlicher Staaten durch eigene Agenten, private Sicherheitsexperten und chinesische Hacker ausführen lassen. Seit 2002 hätten die Chinesen wiederholt Rechner in westlichen Ländern, in amerikanischen Konzernzentralen und in der Exilresidenz des Dalai Lama angegriffen. Auf diese Erkenntnis weisen US-Diplomaten in der Tat seit Anfang des Jahres hinter vorgehaltener Hand in- wie ausländische Journalisten und verbündete Regierungen immer wieder hin.

Aufsehen in Rom dürften Depeschen erregen, in denen ein ausgesprochen enges Verhältnis zwischen Silvio Berlusconi und Wladimir Putin, den Ministerpräsidenten von Italien und Russland, ausgeleuchtet wird. Dabei wurden „sündhaft teure Geschenke“ ausgetauscht und lukrative Energiegeschäfte abgeschlossen. Berlusconi, der als Unternehmer ein Milliarden-schweres Geschäftsimperium aufgebaut hat, erscheine „zunehmend als Sprachrohr Putins in Europa“, beobachtete der US-Diplomat im vorigen Jahr. In den Kontakten soll ein mysteriöser russisch-sprachiger italienischer Vermittler eine wichtige Rolle spielen.

Zu einem scharfen Konflikt mit deutschen Offiziellen kam es im Februar 2007, also noch in der Regierungszeit von George W. Bush. Dabei ging es um den deutschen Staatsbürger Khalid el-Masri, den CIA-Agenten wegen einer Namensgleichheit mit einem militanten Islamisten verwechselt, bei einer Reise nach Mazedonien verhaftet und für mehrere Monate nach Afghanistan entführt hatten. Weil die Bundesregierung auf internationale Haftbefehle gegen die stümperhaft operierenden US-Geheimdienstler drängte, warnte der US-Diplomat massiv vor einem solchen Schritt. Er wies seinen deutschen Gesprächspartner im Bundeskanzleramt, Rolf Nikel, darauf hin, dass derartige Haftbefehle „negative Auswirkungen auf unsere bilateralen Beziehungen“ hätten.

Der Amerikaner erinnerte Nikel, den stellvertretenden Abteilungsleiter für Außen- und Sicherheitspolitik, an ähnliche Erschütterungen des amerikanisch-italienischen Verhältnisses im Jahr zuvor in einem ähnlichen Fall, heißt es in der Depesche. Schließlich versicherte er dem deutschen Ministerialdirigenten noch, es gehe ihm nicht darum, der Bundesregierung „zu drohen“, sondern ihr nur dringlich zu empfehlen, „jeden Schritt auf dem Weg hinsichtlich der Auswirkungen auf das Verhältnis zu den USA vorsichtig abzuwägen“.

Nikel wies seinen zudringlichen Gesprächspartner auf die Unabhängigkeit der deutschen Justiz hin. Die Kanzlerin sei sich aber der „politischen Implikationen des Falles“ bewusst. Sie versuche deshalb „so konstruktiv wie möglich“ zu agieren. Wegen des Drucks des Parlaments und der Presse werde dies aber nicht einfach, und er, Nikel, könne daher nicht versprechen, „dass sich alles zum Guten wenden“ werde.