Berlin. Auf einmal gab es die Klingel. Jahrelang war Jürgen Zeßin Anfang der 90er in der alten Geschäftsstelle in der Hämmerlingstraße ein- und ausgegangen. Kaffee trinken, quatschen, einfach beim 1. FC Union sein. Nun stand die Tür nicht mehr offen.
Wer rein wollte, musste klingeln. Wenn dieser Fall irgendwann eintritt, hatte er sich vorher gesagt, „dann ist das nicht mehr mein Verein.“ 20 Jahre später steht Zeßin am Stadion An der Alten Försterei, vor ihm die 2013 eingeweihte Haupttribüne. Union ist natürlich sein Verein geblieben.
„Als Klub muss man mit der Zeit gehen“, sagt er, „und trotzdem seine Vorstellungen behalten.“ Das gelinge ganz gut, findet Zeßin. Nur die Sache mit dem Merchandising – obwohl in Köpenick deutlich weniger ausgeprägt als anderswo – störe. Er besitzt Trikots aus DDR-Zeiten und kurz danach. Ansonsten kauft er nur noch, was direkt aus der Fanszene kommt.
Manche nennen den Hünen auch „Kurzer“ oder „Schlachtross“
1975 hat Zeßin sein erstes Union-Spiel gesehen, damals war er zwölf. Der ältere Bruder eines Kumpels hatte ihn mitgenommen. „Auswärts bei Chemie Leipzig, 2:0 verloren, strömender Regen. So wie es sein muss.“ Er lacht.
Es war der Beginn einer bis heute über 40-jährigen Beziehung. Zwischendrin hat er zwanzig Jahre lang alle Spiele gesehen, inklusive Hallenturniere und Testkicks. Mittlerweile lässt er ab und zu ein Freundschaftsspiel aus. „Ich bin nicht Union-Fan“, sagt Zeßin, „ich bin Unioner. Das ist für mich die Lebensgrundlage.“
Was das bedeutet, zeigt ein Treffen im Stadion. Pförtner, Pressesprecher, ehemaliger Spieler der zweiten Mannschaft, alle begrüßen ihn per Handschlag. Eine Mitarbeiterin aus der Nachwuchsabteilung sieht ihn, sagt: „Ich muss den Großen kurz drücken“ und umarmt Zeßin, der 1,95 Meter misst und auch sonst eine stattliche Erscheinung ist.
Zu seinem 50. Geburtstag 2013 gab es in einem Fanforum auf drei Seiten Glückwünsche. Für den „Kurzen“ oder das „Schlachtross“. Oder meistens schlicht für Kompotti.
Anlehnung an Manfred Krug
„Jürgen nennt mich im Union-Gebiet keiner“, sagt Zeßin. Viele wissen nicht einmal, dass er so heißt. Sein Spitzname rührt von der Brille, die er früher trug. Gläser „dick wie Kompottschalen“, hat mal jemand gesagt. Fortan war er Kompotti. Gemocht hat er es anfangs nicht, „aber irgendwann stört es dich nicht mehr“.
Bei Instagram, wo er Fotos seiner besuchten Spiele veröffentlicht, ist er „Liebling Kompotti“, in Anlehnung an die ARD-Serie „Liebling Kreuzberg“ mit Manfred Krug. Zeßin ist seit seiner Geburt auf einem Auge blind, auf dem anderen lässt die Sehkraft immer mehr nach. „Überanstrengung“, sagt der 52-Jährige kurz.
Seit fünf Jahren ist er bei Heimspielen als Blindenbeauftragter tätig, kümmert sich um Zuschauer, die das Spiel per Live-Kommentar über Kopfhörer verfolgen. Zudem war er Fanbetreuer der inzwischen zurückgezogenen zweiten Mannschaft, ist es jetzt bei der Jugend. Gegen Dresden oder Hansa Rostock – Klubs, die auch im Nachwuchs Fans mitbringen – ist gut zu tun.
„Ich brauche mein tägliches Spiel“
Zeßin unterscheidet zwischen Union und Fußball. Union heißt, Freunde treffen, zu Hause sein. Den bei Fans nach schlechten Spielen verbreiteten Spruch „Die sehen mich hier nie wieder“ hat er sich lange abgewöhnt. Glaubt ihm ja ohnehin keiner.
Fußball ist alles andere. „Ich brauche mein tägliches Spiel“, sagt er. Das klappt nicht vollständig, weil nicht jeden Tag eins angesetzt ist. Weit über 150 Partien pro Jahr kommen jedoch zusammen. In Berlin hat er jeden Fußballplatz mindestens einmal gesehen, ansonsten ist er viel in Brandenburg, Tschechien und Polen unterwegs.
Vier Jahrzehnte Union, das war das Pendeln zwischen Oberliga und Liga (zweithöchste Spielklasse) in der DDR. Höhenflüge bis ins DFB-Pokalfinale und den Europapokal im Jahr 2001, mit Fahrten nach Finnland und Bulgarien statt wie früher zur BSG Stahl Riesa und dem FSV Velten. Aber es war auch Bangen um die Existenz.
Nachtwache in der Alten Försterei
Zeßin erinnert sich an riesige Poststapel im Sekretariat, „weil kein Geld für Briefmarken da war“. Er hat Unterschriften gesammelt für den Erhalt des Vereins und war bei einer Mahnwache an der DFB-Zentrale rund um den Lizenzentzug nach dem Zweitliga-Aufstieg 1993.
Hat er immer daran geglaubt, dass der Verein eine Zukunft hat? „Diese Frage darf man einem Unioner nicht stellen“, sagt Zeßin bestimmt. Wenn es richtig übel aussah, „mussten wir alle mehr machen, enger zusammenrücken“. Auch beim Stadionumbau, die düsteren Zeiten waren längst überwunden, war er dabei.
Er hielt über Monate Nachtwache in der Alten Försterei. Heiligabend feierte er mit einigen anderen Fans, es gab Glühwein im Mittelkreis: „Eines meiner schönsten Erlebnisse bei Union.“
Am Ende des Gesprächs verabschiedet sich Zeßin mit den Worten, dass er noch ein wenig auf dem Vereinsgelände bleibt. Noch ein paar Leuten Hallo sagen, „wenn ich schon mal hier bin“.