Berlin. Wenn man mit Stefan Kuntz über Mitchell Weiser spricht, geht es meist um eine Reise. Der Abfahrtsort heißt Kaiserslautern, wo sich Kuntz und Weiser 2013 trafen – der eine als Vorstandschef des FCK, der andere als Leihspieler des FC Bayern im Alter von 18 Jahren. Vorläufige Ankunft jener Reise ist in Krakau. Dort gewannen beide im Sommer 2017 zusammen die U21-EM, Kuntz als Trainer der deutschen Auswahl, Weiser als Siegtorschütze im Finale gegen Spanien. Zwischen Kaiserslautern und Krakau liegen vier Jahre. Und es hat sich herausgestellt, dass der Mitchell Weiser, der in Polen ankam, nicht mehr derselbe war, der aus der Pfalz losgezogen ist. „Zwischen dem Spieler damals und dem heute liegen Welten“, sagt Kuntz.
Der U21-Nationaltrainer spricht es nicht aus, aber man ahnt, dass der 18 Jahre alte Weiser kein einfacher Bursche war. Kuntz redet lieber über eine Persönlichkeit, die sich erst ausgeformt habe über die Jahre. Doch der 55-Jährige hat auch erlebt, dass Weiser heute noch manchmal dazu neigt, sich wieder etwas Richtung Kaiserslautern zu bewegen. Bei der U21-EM ärgerte sich Kuntz über eine Abfälligkeit des 23-Jährigen, nachdem er gegen Italien ausgewechselt worden war. Und er entschied sich, Weiser einen Denkzettel zu verpassen: Im Halbfinale setzte ihn Kuntz auf die Bank. Dass Weiser im Endspiel der Siegtorschütze und beste Spieler auf dem Rasen war, kam für Kuntz nicht überraschend: „Er hat im Turnier einen Entwicklungsschritt gemacht.“ Eine kleine Reise.
Man hat als Trainer also etwas mehr Arbeit mit Weiser. Man muss ihn mal reizen, um dann mit seinen unbestritten herausragenden Fähigkeiten auf dem Spielfeld belohnt zu werden. Genie und Weiser in einer Person.
Im Sommer gab es Interesse aus England am 23-Jährigen
Vielleicht befindet sich Pal Dardai gerade in einer solchen Phase. Denn anders ist es kaum zu erklären, dass der Trainer von Hertha BSC für ihn aktuell nur die Zuschauerrolle vorgesehen hat. Gegen Schalke (0:1) blieb der Rechtsverteidiger zum dritten Mal in Folge 90 Minuten lang auf der Bank. „Ich habe nicht gesehen, wo er hätte reinkommen können“, sagt Dardai. Dabei wechselte der Ungar sogar den Rechtsverteidiger Peter Pekarik aus, brachte aber nicht Weiser für ihn, sondern den 20 Jahre jungen Maximilian Mittelstädt.
Noch vor ein paar Monaten wäre das nahezu ausgeschlossen gewesen. Weiser ist, das darf man ungestraft behaupten, der talentierteste Spieler im Berliner Kader. Das haben auch andere Klubs erkannt. Nach dem EM-Sommer gab es Interesse aus England. Gute Rechtsverteidiger mit Offensivdrang und dem Gütesiegel „Made in Germany“ sind selten. Aber Weiser wollte die Erfahrung Europa League mit Hertha machen und blieb. Für Dardai war er stets ein Schlüsselspieler, sein „Spielmacher von rechts hinten“. Seine Ideen und Dribblings brachten dem ansonsten oft ideenlosen Berliner Agieren Finesse. „Ich will das Spiel von meiner Position aus immer antreiben“, sagt Weiser. Gelernt hat er das in seiner Münchner Zeit bei Pep Guardiola. Den katalanischen Trainer verehrt er bis heute. „Bei ihm war vieles dabei, das ich zuvor noch nie von einem Trainer gehört habe“, sagt Weiser. Auch beim FC Bayern war er ein Reisender – „vom Jugendspieler zum Mann“.
Ein Denkzettel von Trainer Dardai
Doch seit vier Partien setzte Dardai nicht mehr auf ihn und beklagte dessen mangelnde Frische. Spricht man Weiser darauf an, schaut er angestrengt und sagt, er müsse das erst mit dem Trainer klären. Nach dem erneuten Verzicht gegen Schalke deutet Dardai an, dass sich die Gegner auf Weiser eingestellt hätten und Hertha so zu ausrechenbar geworden sei: „Mitch macht seine Finten, und der Gegner macht ein taktisches Foul. Damit ist der Angriff vorbei, wir entwickeln nichts mehr nach vorn“, sagt der Ungar und fordert weniger Kopf-durch-die-Wand-Mentalität von Weiser: „Das ist der nächste Schritt.“
Das mag alles stimmen, aber überzeugend ist es nicht. Es scheint, als habe Dardai das Gefühl, Weiser mal wieder reizen zu müssen, um mit guten Leistungen belohnt zu werden. Um wieder das Genie zu Gesicht zu bekommen. „Es kann sein, dass Mitch gegen Freiburg am Sonnabend spielt. Aber er muss sich im Training anbieten – mit Toren und Vorlagen“, sagt Dardai. Wahrscheinlich ist dann, dass Weiser als offensiver Flügelspieler beginnt.
Einen Denkzettel verteilte im Übrigen nicht nur Stefan Kuntz an Weiser. Auch Dardai tat das bereits: Im August 2016 ärgerte sich der 41-Jährige über eine Abfälligkeit Weisers in der Kabine, schickte ihn zum Straftraining und nahm ihn in einem Pokalspiel aus der Startelf. Weiser kam danach so stark zurück wie nie. Es war ein Entwicklungsschritt für ihn, eine kleine Reise.
