125 Jahre Hertha

Jung, alt, weiblich, queer: Das sind wir Herthaner

| Lesedauer: 8 Minuten
Uwer Bremer, Jörn Lange
Bei Hertha herrscht Vielfalt im Fanblock

Bei Hertha herrscht Vielfalt im Fanblock

Warum sich junge Frauen, digitale Experten, Schwule und Romantiker für den Hauptstadt-Klub begeistern.

Die Frau mit Power

Ob Familie oder Freundeskreis – Yasemin wurde bestaunt: „Du gehst zum Fußball?“ Sprüche von wegen „Du kennst ja nur Ronaldo“ oder „Willste gut aussehende Jungs gucken?“, überhört sie. Die 23-Jährige will sich ein Leben ohne Hertha nicht mehr vorstellen. „Ich war 17 und gegen St. Pauli zum ersten Mal im Olympiastadion.“ Die Gesänge der Ostkurve, die Dynamik, die Emotionen – Yasemin war fasziniert. „Da wollte ich auch hin.“ Zack, bei Hertha eingetreten, Dauerkarte für die Ostkurve gekauft. Dort wurde sie erst mal mit großen Augen angeschaut. „Der Frauenanteil ist da nicht so hoch, aber wir werden mehr.“ Mit einer Freundin steht sie bei jedem Heimspiel in der Kurve.

Vom Nachtzug zum Arbeitsplatz

Sooft es geht und die Finanzen es zulassen, fährt sie auswärts mit. Auch wenn Hertha in der Fremde öfters mal verliert. „Ja, das ist manchmal schwer“, sagt Yasemin, „aber es geht mehr um die Fahrt in der Gruppe, um die Gemeinschaft, zusammen etwas zu erleben.“

Nicht nur der Zeitaufwand ist groß, Yasemin ist hart im Nehmen. Wenn Hertha am Sonntag das Spätspiel in Leverkusen hat, ist sie vor Ort. Und reist mit dem Zug nachts zurück. Vom Bahnhof geht es direkt zum Arbeitsplatz, einer Zahnarztpraxis in Prenzlauer Berg. Was sagen die Kollegen? „Mein Chef feiert das ab. Er ist großer Fan und hat jetzt jemandem, mit dem er über Hertha reden kann.“

Sie ist nicht an jedem Wochenende unterwegs, aber die Zusammenfassung in der „Sportschau“ oder im „Sportstudio“ reichen nicht. Sie hat Abos beim Bezahlsender Sky und beim Livestream-Dienst DAZN. „Ich muss immer 90 Minuten sehen.“ Manchmal staunt sie über sich. „Hertha gucken ist eine echte emotionale Achterbahn. Ich weiß eigentlich nicht, wie ich da reingekommen bin. Aber jetzt will ich nicht mehr raus.“

Der Podcaster

Der Ort für den Fototermin ist sein Vorschlag – Henry Cieslar­czyk nannte sofort den Arkonaplatz in Mitte. Dort wurde der Legende nach 1892 Hertha BSC gegründet. Dass Cieslarczyk, aufgewachsen in Lichtenberg, sich für die Blau-Weißen interessiert, ist einem Abend im Herbst 1996 geschuldet. Er wollte mit Kumpels Fußball gucken. Das Beste, was es damals in der Stadt gab, war ein Hertha-Spiel im Olympiastadion. Er war angetan, weil Hertha in jener Zweitliga-Saison relativ oft gewann.

„Du suchst dir nicht deinen Verein aus, dein Verein sucht dich aus“ – in diesem Satz des englischen Schriftstellers Nick Hornby findet er sich wieder. Mittlerweile ist Cieslarczyk 44 Jahre, Familienvater und Angestellter in einem Berliner IT-Unternehmen. Irgendwann war er es leid, sich in überregionalen Medien über herablassende Berichte über den Hauptstadt-Klub zu ärgern.

„Zeigen, wie cool Hertha ist“

Der Hertha-Fan wurde zum Hertha-Podcaster. Mit den Kumpels Steffen Germer und Michael Dannigkeit betreibt er seit November 2015 den Podcast „Damenwahl“. Wöchentlich gibt es ein Gespräch, rund zwei Stunden lang, über Hertha. „Als Blogger oder Podcaster hat man den Größenwahn, die Welt von der eigenen Meinung zu überzeugen. Ich will zeigen, wie cool Hertha ist.“

Dafür betreibt „Damenwahl“ einigen Aufwand. Aufgenommen wird in der Küche beim Bier. Häufig werden Gäste eingeladen: Donato Melillo, Fanbeauftragter von Hertha war da, ebenso die Hertha-Reporter der Morgenpost, Berliner Zeitung oder FAZ.

Wie das so ist, wenn man etwas regelmäßig betreibt: Die Unbefangenheit geht verloren. „Ich sehe Hertha-Spiele anders“, sagt Cierslarczyk, „ich achte mehr auf die Taktik. Wie reagiert Pal Dardai? Was macht Michael Preetz?“ Die Zugriffszahlen für den Podcast sind erfreulich, liegen mittlerweile im vierstelligen Bereich. Sein Wunsch für die Zukunft: „Ich möchte gern einen der großen drei von Hertha bei uns in der Küche haben: den Präsidenten oder den Manager oder den Trainer.“ Hallo Hertha, hört jemand zu?

Der Gastronom

Dass Andre Polai (59) den Stammtisch von Immerhertha, dem Blog der Berliner Morgenpost, in seinem „Leuchtturm“ im Crelle-Kiez betreibt, da muss er selbst manchmal schmunzeln. Lange Zeit waren in seinem Leben wenige Dinge so weit weg wie Fußball. In seinen Studententagen, in den 80er-Jahren, war Sport verpönt. Als Sozialarbeiter hatte Polai dann ohnehin andere Themen.

Erst als Dieter Hoeneß bei Hertha die Geschäfte übernahm, erinnerte sich Polai an seine Jugendliebe. Fußball war für den Jungen aus schwierigen Familienverhältnissen die Fahrkarte in ein anderes Leben gewesen. Ende der 60er „hat mir Fußball Gemeinschaft bedeutet“, erinnert sich Polai. Gleich sein erstes Spiel war eines für die Geschichtsbücher. Aber das wusste er als Zehnjähriger an jenem September 1969 nicht, dass er mit 88.075 Zuschauern Zeuge der bis heute größten Kulisse eines Bundesliga-Spiels wurde. „Das volle Olympia­stadion, das war ein tolles Erlebnis.“ Er schwärmte für Arno Steffenhagen, den schnellen, trickreichen Linksaußen. Später staunte er über Mittelfeld-Star Zoltan Varga.

Die Hertha-Frösche fielen durch

In der Kurve bei den Hertha-Fröschen war er nur ein-, zweimal. „Da wurde nur gequatscht, ich konnte mich überhaupt nicht aufs Spiel konzen-trieren.“ Doch mit seiner Einstellung stand er allein: Einzelne gelungene Aktionen, Kabinettstücke, „das war mir immer wichtiger als ein Sieg meiner Mannschaft.“

Nach der Phase ohne Fußball begann Polai, der mittlerweile Jahrzehnte als Gastronom arbeitet, wieder zu schwärmen. Polai fand, dass Hertha unter Hoeneß den Weg aus der Berliner Piefigkeit gefunden hat. Künstler wie Sebastian Deisler, Marcelinho oder Lucien Favre machten ihm Spaß. Darüber schreibt er viel im Internet. 2004 warf er alte Grundsätze über Bord. „Ich war noch nie in einer Partei, noch nie in einem Verein. Also dachte ich mir: Wenn ich wo eintrete, dann bei Hertha BSC.“

Der Aktivist

An Hertha allein liegt es nicht, dass Uwe Zühlsdorf seinen Stammplatz im Olympiastadion nicht mehr hergibt. Sicher, ohne Interesse an Fußball wäre er nicht zum Dauergast in Westend geworden, aber so richtig Fahrt nahm seine Hertha-Passion außerhalb der Arena auf. Beim schwul-lesbischen Straßenfest entdeckte Zühlsdorf 2002 den Stand der Hertha-Junxx, die 2001 den ersten schwul-lesbischen Fanklub des Landes gegründet hatten. Ein Aha-Erlebnis. Sich in der Macho-Zone Fußball-Stadion zu seiner Homosexualität zu bekennen, das gefiel Zühlsdorf.

Der Beamte, damals wohnhaft in Frankfurt (Oder), wurde Mitglied. Seither sind die Besuche im Olympiastadion auch ein Statement. Bei jedem Heimspiel senden die Hertha-Junxx eine klare politische Botschaft. „Fußball ist alles – auch schwul“, steht auf dem Banner, das Zühlsdorf & Co. vor Block 31 aufhängen. Für jeden zu sehen, vom Spielfeld aus betrachtet oben links neben der Ostkurve. Auch ihre ­Regenbogenfahne mit Hertha-Logo präsentieren die Hertha-Junxx mit Stolz.

Die Hertha-Junxx waren Vorreiter

„Am Anfang gab es im Stadion mal einen blöden Spruch“, erinnert sich Zühlsdorf (48), aber das hat sich gelegt. Von „schwulen Pässen“ spricht niemand mehr auf den benachbarten Plätzen, weil die Hertha-Junxx keine Scheu haben, andere darauf hinzuweisen, wenn sie einen diskriminierenden Ton anschlagen. „Homophobe Menschen gibt es überall“, sagt Zühlsdorf, der selbst schon lange Spieler und Trainer beim USC Viadrina Frankfurt ist. Die Hertha-Junxx haben Schule gemacht – heute finden sich bei fast jedem Bundesligisten Queer-Fanklubs.

Die Hertha-Junxx erlebten Anfang Mai einen tragischen Verlust. Der langjährige Vorsitzende Gerd Eiserbeck verunglückte tödlich. Seitdem ist die Netzwerk-Arbeit des Fanklubs vorübergehend zum Erliegen gekommen – Eiserbeck war die treibende Kraft. Zühlsdorf ist aktuell dabei, die Kontakte wiederzubeleben, damit in den Kurven auch in Zukunft Farbe gezeigt wird. Zum Klub-Jubiläum wünscht er sich eines: „Hertha im Pokalfinale.“

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