Zum 125. Jubiläum sprach Hertha-Präsident Werner Gegenbauer über Chance und Risiko von Tradition. Und über die Perspektiven des Klubs.

Als der Hanne-Sobek-Platz im Wedding 2006 eingeweiht wurde, sprach Werner Gegenbauer vor einigen wenigen Leuten. Bei der Neueinweihung des Platzes am Freitag, gab es viele Besucher aus der Politik, dem Bezirk und von Hertha BSC. Das Verhältnis zur Tradition hat sich geändert. Zum 125. Jubiläum, das am 25. Juli gefeiert wird, ein Gespräch mit Hertha-Präsident Werner Gegenbauer über Tradition und Zukunft.

Berliner Illustrirte Zeitung: In der Bundesliga trifft jeder Klub auf 17 Konkurrenten. DFL-Chef Christian Seifert sagt: Für manche Vereine ist Tradition der 18. Gegner. Wie ist das bei Hertha?

Werner Gegenbauer: Wenn man mit der Vergangenheit ein Fundament hat, von dem aus man richtige Entscheidungen treffen kann, dann ist Tradition keine Belastung, sondern eine Hilfe. Eine Stärke von Tradition ist, dass wir nicht nur in der Region verbunden sind, sondern darüber hinaus Sympathisanten haben. Hertha kann sich sehr wohl damit fühlen, 125 Jahre zu sein. Themen, bei denen Tradition der 18. Gegner ist, muss man vernünftig miteinander besprechen.

Sie waren mit einer Hertha-Delegation Anfang Juli im Norden von Frankreich. Sie standen in Noyers-Pont Maugis am Grab von Max Swensen, einem Hertha-Spieler, der dort im Juni 1917 gefallen ist. Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen?

Das war eine viertägige Reise über französische Soldatenfriedhöfe, wo derjenigen Herthaner gedacht wurde, die im Ersten Weltkrieg gefallen sind. An dem besagten Friedhof war unter anderem Wolfgang Wieland dabei, der ehemalige Justizsenator, und heutige Vizepräsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Wenn man da inmitten von 14.000 Gräbern des Ersten und 12.000 Gräbern des Zweiten Weltkrieges steht, macht einen das betroffen. Ich habe daran gedacht, dass wir seit 1945 bei uns keinen Krieg mehr hatten, wie wichtig der Wert von Europa ist. Von heute gesehen, scheint der Erste Weltkrieg weit weg. Aber wenn man dort steht und sieht, wie zweimal junge Generationen, die wahrscheinlich lieber Fußball gegeneinander gespielt hätten, ihr Grab gefunden haben, dann kann man sich das wieder vorstellen. Das war ­beeindruckend und bewegend.

Diese Gruppe von Mitgliedern, die sich um gefallene Hertha-Spieler aus dem Ersten Weltkrieg bemüht hat, das Buch „Hertha unterm Hakenkreuz“, die Studie des Historikers Daniel Koerfer zu Herthas Rolle im Dritten Reich oder die Arbeitsgruppe, die das Leben von Herthas Mannschaftsarzt Dr. Hermann Horwitz, der in Auschwitz um Leben gekommen ist, erforscht hat: Wie erklären Sie sich, dass es derzeit ein großes ­Interesse an Tradition gibt?

Es ist erfreulich, dass die schreibende Zunft wie die Morgenpost, diese Sachen jetzt zur Kenntnis nimmt. Aber diese Aktivitäten sind bei Hertha seit Jahren im Gange. Der Motor bei den genannten Stichworten ist Bernd Schiphorst, der Vorsitzende des Aufsichtsrates. Er verfolgt diese Themen seit Langem. Ihm ist wichtig, dass die mit Sinn und Verstand angegangen werden, historisch abgesichert. Darüber hinaus versuchen wir die Popularität von Hertha für soziale ­Projekte zu nutzen. Ich nenne stellvertretend für viele Aktivitäten „Fußball ohne Grenzen“.

Manche Mitglieder empfinden Tradition als Gegengewicht zu den Kräften, die den Profi­fußball derzeit verändern: Hertha hat einen ­Finanzinvestor aus den USA, demnächst kommt vielleicht einer aus Asien dazu.

Seitdem es uns als Fußballverein etwas besser geht, geht der Blick über Fußball und das, was wir im Nachwuchs und unseren Abteilungen machen, hinaus. Es gibt ein Interesse an gesellschaftlichem Engagement. Da hilft manchmal die Öffentlichkeitswirksamkeit von Fußball. Ich als Präsident finde es erfreulich, dass bei diesen Themen so viele Leute im Verein mitziehen.

... wie bei der Unterstützung von Hertha für die Flüchtlinge, die im benachbarten Horst-Korber-Zentrum untergebracht waren.

Das war großartig, wie sich Hertha-Mitarbeiter, ob Haupt- oder ehrenamtlich, aber auch Spieler und deren Frauen dort engagiert haben.

Seit Jahren steigen im Fußball die Summen, aktuell wurde für die TV-Rechte der Bundesliga die Milliarden-Grenze durchbrochen. Wie lange kann dieser Trend anhalten?

Das wäre eine völlig neue Erfahrung im Wirtschaften, wenn es immer nach oben ginge. Wenn man sich an die alte Redewendung erinnert „Ebbe und Flut sind des Kaufmanns Gut“ – dann ist es kaum vorstellbar, dass Wachstum nur eine Richtung kennt. Wobei Hertha davon profitiert, dass die steigenden Verträge uns in die Lage versetzten, das auszugleichen, was in der Vergangenheit nicht immer so glücklich gelaufen ist. Ohne die Expansion der Preise wäre die Entwicklung nicht möglich gewesen, auch die Wert-Entwicklung von Hertha nicht. Im Moment sieht es so aus, als ob der Trend nach oben noch eine Weile anhält. Aber ob der Trend immer nur eine Richtung kennt, da bin ich mir nicht sicher.

Stimmt die Gleichung: mehr Geld = besserer Fußball?

Der Fußball ändert sich nicht jetzt erst. Wenn man sieht, wie sich in den letzten 25 Jahren die Stadien verändert haben, die Zuschauerstruktur, die Art wie gespielt wird. Schauen Sie sich die deutsche Elf an, die den Confed-Cup in Russland gewonnen hat – lauter junge Spieler, bereits mit Bundesliga-Erfahrung, weil die Liga ihre Ausbildung verändert hat. Das Produkt ist ein immer besserer Fußball, der die Fans fasziniert.

Die Digitalisierung verändert die Art, wie Vereine, also auch Hertha, in Beziehung zu den Fans treten. Damit verändert sich die Art wie Hertha Geschäfte macht mit seinen Fans.

Bei dem Thema haben wir die Grundlagen gelegt, inhaltlich und personell. Aber der Bereich steht noch am Anfang. Es gibt einen permanenten Anpassungsbedarf. Die Digitalisierung betrifft nicht nur den Bereich Mitglieder, Fans und Medien. Es betrifft auch die Trainingssteuerung, die sich sehr verändert. Das ist intensiv für die Spieler und personalintensiv für den Trainer-Stab. Da sind zusätzliche fachliche Qualitäten gefordert, das ist ein sehr spannendes Thema.

Viele Fans haben ein Unbehagen über die vielen Veränderungen. Wie schafft man es als Vereinsverantwortlicher, die Anhänger mitzunehmen?

Unsere Anhänger sind sehr verschieden in der Beurteilung. Ich weiß nicht, ob die Mehrheit der Mitglieder die Entwicklung richtig oder falsch findet. Ob privat oder beruflich: Veränderungen rufen immer Unbehagen hervor. Aber es ist die Aufgabe der gewählten Führung von Hertha BSC, den Verein zukunftsfähig zu machen. Da wir unbekanntes Terrain betreten, werden wir den einen oder anderen Fehler machen. Und müssen es aushalten, wenn uns Fehler vorgeworfen werden. Wir kommen aber nicht an der Erkenntnis vorbei, dass Hertha BSC nicht der Mittelpunkt der Fußballwelt ist. Wir müssen unseren Weg finden, eingebettet in die Gesamtlage.

Hertha ist nicht der Mittelpunkt der Fußballwelt?

Wir sind, was die Präsenz in der Deutschen Fußball-Liga oder beim Fußball-Verband angeht, personell gut aufgestellt. Aber Hertha ist jetzt zum ersten Mal seit vielen Jahren in der Europa League dabei. Wir sind nicht diejenigen, die das große Wort führen können. Das große Rad drehen der FC Bayern oder Borussia Dortmund.

Sie begleiten das Profigeschäft seit Jahrzehnten. Was denken Sie, wenn Sie erfahren, dass etwa der Bayern München drei 14-jährige Talente von Hertha wegkauft?

Ob 13- oder 14-Jährige aus dem Elternhaus genommen werden, da sind für mich in erste Linie die Eltern verantwortlich und nicht der Verein. Wenn die Eltern das richtig finden, können wir als Verein das nicht bremsen. Dann ist es unsere Aufgabe, eine wirtschaftlich vernünftige Lösung zu finden. Ich hoffe, dass unsere Verantwortlichen für die Jugendarbeit nicht auf die gleiche Idee kommen, also keine Talente aus ihren Familien rausreißen, damit sie für Hertha spielen.

Wie mutet es Sie an, wenn Paris St. Germain für Neymar 222 Millionen Ablöse zahlen will?

Ich erinnere mich, als Anfang der 1960iger Helmut Haller von Deutschland zum FC Bologna gewechselt ist: Für das 100fache des Gehaltes, das man damals im deutschen Amateurfußball verdient hat – das fand man irreal. Als Anfang der 1970iger die Bayern für Jupp Kapellmann 800.000 Mark an den 1. FC Köln zahlen mussten - das fand man irreal. Insofern hat sich daran nicht viel geändert. Wobei, diese Summen heute eigentlich nicht mehr vorstellbar sind. Ich betone aber: Wir bei Hertha sind von diesen Zahlen relativ weit weg.

Wer an Hertha denkt, denkt an Fußball. Was heißt das für Ihre Abteilungen Boxen, Kegeln und Tischtennis?

Das sind traditionsreiche Abteilungen mit teilweise überragenden Erfolgen. Aktuell gibt es beim Boxen und beim Tischtennis eine tolle Jugendarbeit. Dass diese Abteilungen bei Hertha genau so wichtig sind wie der Fußball, sieht man daran, dass sie bei jeder Präsidiumssitzung von Hertha dabei sind.

Herr Gegenbauer, Ihr erster Hertha-Moment?

Das war im Dezember 1963 ein 2:0 von Hertha, mit Wolfgang Tillich im Tor, gegen Preußen Münster. Und im Olympiastadion waren nur wenige Zuschauer (17.400/Anm.d.Red.)

Ihr schlimmster Hertha-Moment?

Im Mai 2012 das Relegations-Rückspiel bei Fortuna Düsseldorf. Weil mit der Partie und dem daraus resultierenden Abstieg alles aus den ­Fugen geraten ist.

Ihr schönster Hertha-Moment?

Der kommt noch.

Sie waren im Trainingslager in Bad Saarow dabei. Bei den Hertha-Profis trainieren Pal Dardai jr., Maurice Covic jr, Jonathan Klinsmann jr. – alles Söhne berühmter Fußball-Väter.

Die Jungen werden es bei aller Begabung schwerer haben als Spieler, die nicht solch’ einen bekannten Namen haben. Es ist natürlich eine Belastung, wenn man als dritter Torwart zu Hertha kommt, die Schlagzeilen sind voll, aber der Junge hat noch gar keine Leistung bringen können. Ich drücke ihnen die Daumen, dass sie das alles wegstecken und ihr Potenzial so abrufen können, dass sie ihren Weg erfolgreich gehen.

In welchem Zustand möchten Sie Hertha an einen Nachfolger übergeben?

Ich bin hin und wieder bei Jubiläen eingeladen. Und finde es merkwürdig, wenn die Vergangenheit als viel glorreicher, faszinierender, erfolgreicher geschildert wird als das, was in der Zukunft liegt. Davor möchte ich Hertha bewahren.

Wenn Sie gehen, soll die beste Zeit von Hertha erst beginnen?

Hertha soll personell gut gerüstet sein für die Zukunft. Dazu gehört, dass die Alterspyramide im Ehren- und Hauptamt vernünftig aufgestellt ist.