Hertha-Mitglied zu sein, ist gar nicht so einfach. Jedenfalls schwerer als bei anderen Bundesliga-Clubs. Eine Betrachtung
„Heul doch.“ Der große, stämmige Mann in Hertha-Kutte, Bierflasche in der Hand, dreht sich wieder um und mir wieder seinen Rücken zu. Ich bin, das bin ich selten, sprachlos. „Sag bloß nix“, flüstert der Freund, mit dem ich seit vielen Jahren zu Hertha-Spielen gehe. „Beruhig dich.“ Dabei bin ich gar nicht aufgeregt, ich habe nur etwas lauter beklagt, dass der Mann und sein ebenso kräftiger Kumpel, ebenfalls in Hertha-Klamotten gekleidet, sich vorgedrängelt haben. An diesem Tag vor dem Olympiastadion, an dem die Sicherheitsvorkehrungen mal wieder verschärft worden und die Schlangen vor den Eingangstoren sehr lang sind. Selbst vor denen für Dauerkartenbesitzer, wo wir – und eben auch die beiden Ostkurven-Männer – anstehen. „Heul doch.“
Es ist gar nicht so einfach, ein Hertha-Fan zu sein. Und die anderen Hertha-Fans zu mögen. Hertha hat kein gutes Image, Hertha ist die „alte Tante“, aber nicht cool, Hertha ist nicht hip – ganz anders als Berlin, wo es doch alle sein wollen –, es ist nicht Kult, dort Mitglied zu sein. Ich bin es dennoch.
Nicht von Geburt an, natürlich nicht, denn ich bin nicht in Berlin, sondern in Offenbach geboren. Meine fußballbegeisterten Eltern steckten uns Kinder mit ihrer Begeisterung an, wir schauten schon früh „Sportschau“ und kannten uns in der Bundesliga aus, ich erinnere mich sogar noch an die Fußball-Weltmeisterschaft 1970 – mit Franz Beckenbauer, Gerd Müller, Berti Vogts, Jürgen Grabowski, Uwe Seeler. Da war ich sechs Jahre alt. Später habe ich von Günter Netzer geschwärmt – und vor jedem Nationalmannschaftsspiel traf sich die Familie vorm Fernseher. Irgendwann gingen wir mit Freunden auf den Bieberer Berg, zu den Spielen der Offenbacher Kickers. Nicht jedes zweite Wochenende, aber immer mal wieder. Stehplätze. Gute Spiele, schlechte Spiele, immer schlechtere Spiele. War ich ein Fan? Ein bisschen, weil’s die Heimat war – und für Eintracht Frankfurt kann man als Offenbacher nun wirklich nicht sein. Und, so denke ich manchmal, vielleicht ist es einfacher, ein Hertha-Fan zu sein, wenn man als Jugendlicher eben nicht für die erfolgreichen Clubs wie Bayern München, HSV, Köln oder Dortmund geschwärmt hat. Sondern für die Kickers aus Offenbach.
Das Olympiastadion war weit weg von meinem Leben in Kreuzberg
Die Zuneigung zu Hertha wuchs in Berlin langsam. 1985, als ich in die Stadt, genauer das damalige West-Berlin kam, spielte Hertha in der Zweiten Liga, stieg dann 1986 sogar in die Amateur-Oberliga ab. Wie heißt es so treffend bei Wikipedia: „Hertha BSC war nur noch eine drittklassige Amateur-Mannschaft, die ihre Heimspiele fortan, bis auf wenige Ausnahmen, im altehrwürdigen, aber stark sanierungsbedürftigen Poststadion austrug. Im Schnitt besuchten 2000 Zuschauer die Spiele. Das Spitzenspiel gegen Türkiyemspor Berlin 1987/1988 lockte immerhin 12.000 Zuschauer ins Stadion.“ Ich habe keine Erinnerung an diese Zeit und Hertha. Fußball? Hat in der Stadt, in West-Berlin, jemand über Hertha gesprochen? In meinem Freundeskreis keiner, obwohl wir viele Fußball-Fans waren. Die einen jubelten mit Bayern München, die anderen mit dem HSV, ich hatte mich nicht festgelegt, schaute Fußball-Bundesliga und fühlte mich wohl. Das Olympiastadion war weit weg von meinem Leben in Kreuzberg und an der Freien Universität in Dahlem.
Bis dann Hertha kurz in die erste Bundesliga aufstieg, gleich wieder abrutschte und sich Mitte der 90er-Jahre die Zeiten endlich änderten. Mit der Rückkehr in die Bundesliga war auch ich dabei. Nicht von heute auf morgen, sondern nach und nach. Freunde von mir, gebürtige Berliner und Hertha-Fans seit frühester Jugend, nahmen mich mit ins Olympiastadion. Sie können bis heute von den Spielen vor 2000 Zuschauern erzählen. Ich war begeistert vom Fußball im Olympiastadion. Was für ein Ort, was für ein Juwel, was für eine Geschichte. Und was für eine Atmosphäre. Am schönsten natürlich bei vollem Haus, beim DFB-Pokal-Endspiel, wenn auf einmal alle nach Berlin fahren wollen, aber auch bei den anderen Spielen beeindruckte mich jedes Mal das große Rund, der Blick zum Marathontor, hinter dem dann auch noch die Sonne untergeht. Bis heute übrigens.
Und je mehr ich mich in Berlin zu Hause fühlte, umso mehr interessierte ich mich für Hertha, um so häufiger ging ich zu einem Spiel ins Olympiastadion. In meinem Freundeskreis, auch in der Familie wollten anfangs nicht alle glauben, dass ich das ernst meine, dass ich mitleide, wenn Hertha mal wieder grottenschlecht gespielt hat, dass ich jubele, wenn die Herthaner toll spielen und gewinnen. Ich wurde belächelt, weil es halt die „alte Tante Hertha“ ist, weil man bei diesem Verein wahrlich nicht vom Erfolg verwöhnt wird, weil der Spielerkader bei Weitem nicht so schillernd ist wie der der anderen großen deutschen Fußballmannschaften, weil es dauernd irgendwelchen Zoff mit Trainern gibt, weil das Olympiastadion auch nach der teuren Sanierung keine Fußball-Arena geworden ist, weil die Hertha-Fans in der Ostkurve durch die lautstarke Unterstützung auffallen, aber von einem guten Ruf weit entfernt sind, weil wir Fans eine Frank-Zander-Hymne singen, weil das Stadion bei Heimspielen nur zwei Mal im Jahr ausverkauft ist – gegen Bayern und gegen Dortmund –, weil es noch immer nicht zum guten Ton in der Stadt gehört, Hertha-Fan zu sein und eine Dauerkarte zu besitzen. In München und Dortmund werden die Dauerkarten vererbt.
Hertha, die Hertha-Hymne, sie sind so wie die Berliner. Einfach, ein bisschen prollig auch, aber feiern, das können wir selbstverständlich. Das ist Berlin, wenn zu Beginn eines Spiels aus dem Stadionlautsprecher die Stimme von Frank Zander ertönt und in der Ostkurve und im ganzen Stadion Tausende Fans das Lied anstimmen: „Nur nach Hause, nur nach Hause, nur nach Hause geh’n wir nicht.“ Schlichter geht es kaum: „Alle warten voller Spannung / Auf das absolute Spiel / Denn die Jungs von der Hertha haben alle nur ein Ziel: / Heute wollen sie gewinnen / Für das blau-weiße Trikot / Sowieso oh-oh oh-oh/ Und sowieso oh-oh oh-oh.“ Nur nach Hause geh’n wir nicht.
Ich habe viele schöne Spiele von Hertha gesehen. Da hatte ich noch keine Dauerkarte, war aber mehrmals in der Saison im Stadion. Unvergessen das Spiel Hertha gegen den 1. FC Köln, im Jahr 2000, als Alex Alves, der Brasilianer, die Diva, vom Anstoßpunkt weg das Tor traf. Aus 53 Metern. Alex Alves, Fußballgott! Was für ein Treffer, was für ein Spiel, was für ein Tag. Hertha hatte zu dem Zeitpunkt 0 : 2 zurückgelegen, nach diesem Tor drehte sich das Spiel, und die Berliner gewannen noch 4 : 2. So wird man zum Hertha-Fan.
Gábor Király, der begnadete Torwart in der grauen Schlapper-Trainingshose
Und es gab sie, die Spieler, denen man gern zuschaute, die einen Fan aber auch dazu brachten, böse Sprüche ins Rund zu rufen. Gábor Király, der begnadete Torwart in der grauen Schlapper-Trainingshose, hielt sich gern nahe dem Mittelkreis, fast an der Mittellinie auf. Warum? Um das Spiel spannender zu machen? Ich habe mich jedes Mal aufgeregt und trotzdem jedes Mal gefreut, wenn er im Tor stand. Mich hatte Király in den sechs Jahren, die er bei Hertha in Diensten stand, fest an seiner Seite. Oder Marcelinho, der Brasilianer, auch eine Diva und ein großartiger Fußballer. Er erzielte auch so ein Tor, immerhin aus gut 48 Metern. Und mit jedem Jahr, in dem ich mich für Hertha interessierte, kamen neue Namen hinzu. Niko Kovac, Sebastian Deisler, die Boateng-Brüder, Ashkan Dejagah, Malik Fathi, Alexander Madlung, Patrick Ebert, Marko Pantelić, Nando Rafael, Adrián Ramos, Ronny, Artur Wichniarek, Änis Ben-Hatira, Sandro Wagner – sie haben Hertha geprägt, sie haben nicht nur tolle Sachen gemacht, der eine oder andere hat für Schlagzeilen neben dem Fußball gesorgt, aber sie haben dem Verein ein Gesicht gegeben. Wenn sie erfolgreich waren, verließen sie Berlin wieder oder wurden vom Verein verkauft, dann wurde in der Hauptstadt wieder ein Neuanfang gewagt, aber wir Fans, wir lernten neue Namen und hielten zu den Ex-Herthanern – zu den meisten sogar, wenn sie wieder für einen anderen Verein im Berliner Olympiastadion aufliefen. Weil sie ja mal Berliner waren.
Es ist, weil der Erfolg beständiger ist, einfacher, ein Bayern-Fan zu sein. Da spielen die wirklich großen, die international angesehenen Topleute, da reiht sich Erfolg an Erfolg, da identifiziert sich die Stadtgesellschaft mit dem Verein, da ist man stolz, ein Bayern-Fan zu sein. Auch in Berlin gibt es Tausende Fans der Bayern. Wenn Hertha gegen Bayern München spielt, ist das Stadion nicht blau-weiß, sondern rot-weiß und blau-weiß. Wer mit Hertha mitfiebert, muss leidensfähig sein, denn dass ein Spiel gegen die Topmannschaften gewonnen wird, das ist doch eher selten. Aber wenn das dann geschieht, dann weiß man, warum man zu Hertha hält. Wie in der gerade abgelaufenen Saison, als wir alle überrascht wurden, weil die Berliner auf einmal 1 : 0 führten – bis zur 96. Minute. Dann, in der schon überzogenen Nachspielzeit, schossen die Bayern den Ausgleich – und das Unentschieden fühlte sich an wie eine Niederlage. Gegen Dortmund, den anderen Publikumsliebling, lieferte Hertha im März diesen Jahres ebenfalls eine Glanzvorstellung ab. Und siegte 2 : 1. Völlig überraschend, völlig verdient. Das war große Unterhaltung, deshalb geht man ins Stadion.
Doch anders als in München, Dortmund, Hamburg oder auch in Bremen und inzwischen sogar in Darmstadt ist es in Berlin nach wie vor kein gesellschaftlicher Konsens, für Hertha zu sein. Das liegt zum einen, natürlich, an der wechselvollen Geschichte des Vereins. Ich allein bin zwei Mal mit dem Verein in die Zweite Liga ab- und wieder aufgestiegen. 2010, nach 13 Jahren Bundesliga, ging es eine Klasse tiefer. Was war das für eine Enttäuschung, und so mancher fürchtete gar, dass Hertha nun wieder jahrelang in der Zweitklassigkeit verharren würde. Doch glücklicherweise kam es anders. „Nie mehr Zweite Liga“, skandierten wir 2011, als der sofortige Wiederaufstieg gelang. Und wurden wieder enttäuscht: Die Saison inklusive Trainer-Chaos verlief alles andere als erfolgreich, Hertha musste in Relegation, verlor das ebenfalls chaotische Spiel in Düsseldorf und stieg im Mai 2012 wieder ab. Nie mehr Zweite Liga? „Wir gehen trotzdem weiter ins Olympiastadion“, sagten wir und gingen tapfer zu den Zweitliga-Spielen. Paderborn hat mich noch nie interessiert, Rostock schon mehr, aber die waren schon in die dritte Liga abgestürzt. Doch wieder lief es für Hertha unerwartet gut. Der Verein machte wahr, was kaum ein Fan für möglich gehalten hätte: Die Berliner stiegen sofort wieder auf. „Nie mehr Zweite Liga“, riefen wir einmal mehr – und machten uns selbst Mut. Das erste Spiel nach der Rückkehr in die erste Bundesliga war ein Heimspiel gegen Eintracht Frankfurt. 6 : 1 prangte nach 90 Minuten auf der Anzeigentafel. Freunde von mir, die extra aus Frankfurt gekommen waren, wollten nicht mehr mit zum Feiern kommen. Wir blieben noch lange nach Spielschluss im Stadion: „Nur nach Hause ... geh’n wir nicht.“
Doch auf solche herrlichen Spiele folgen bei Hertha auch immer schlechte. Die Hinrunde läuft dann gut, nach der Winterpause reiht sich schon mal Niederlage an Niederlage. In der letzten Saison wurden unendlich viele Heimspiele gewonnen, was für ein unerwartetes Glück für den leidgeprüften Hertha-Fan. Dann gab es die Niederlage gegen Hoffenheim, gegen Leipzig („Champions League gegen Kreisklasse“, schimpfte ich und freute mich wirklich mal für die Leipziger) oder im letzten Heimspiel der Saison ging Hertha mit 2 : 6 gegen Leverkusen unter. Gegen Leverkusen!
Dieses Auf und Ab, die zahlreichen Spieler- oder auch Trainerwechsel lassen so viele Berliner auf Distanz bleiben. Mit wem soll man sich identifizieren, fragen mich Freunde. Mit Spielern, die nach ein paar Jahren wieder weg sind? Mit Michael Preetz, dem Manager? Mit Werner Gegenbauer, dem Präsidenten? Wohl kaum. Da macht es einem Pal Dardai, der Ex-Herthaner und Trainer seit 2015, schon wesentlich leichter. Und ist er nicht auch wie Hertha? Einfach, bodenständig, ehrlich, eine Type eben.
Es gibt es Auch 28 Jahre nach dem Fall der Mauer noch, dieses geteilte Berlin
Mit einigen Freunden haben wir vor etlichen Jahren eine Fußball-Wettgemeinschaft gegründet. Wir tippten die Erstliga-Spiele und, als Hertha in die Zweite Liga abstieg, auch die Zweitliga-Spiele von Hertha und Union. Pflicht und Freude war einmal im Jahr der gemeinsame Besuch eines Hertha-Spiels. Obwohl auch Union-Anhänger mitwetten, sind wir nie auf die Idee gekommen, gemeinsam nach Köpenick zu fahren. Denn das ist auch einer der vielen Gründe, warum das mit Hertha und Berlin immer noch so eine komplizierte Sache ist. Es gibt es noch, auch wenn es 28 Jahre nach dem Fall der Mauer, wahrlich seltsam anmutet, dieses geteilte Berlin. Bei jedem Heimspiel kann ich es erleben: Wenn ich mich mit der U-Bahn auf den Weg von Prenzlauer Berg in den Westen zum Olympiastadion aufmache, da steige ich als eine von ganz wenigen mit blau-weißem Schal in die U-Bahn. An den folgenden Stationen kommen ein paar mehr Fans hinzu, ab Bahnhof Zoo wird der U-Bahnzug dann richtig voll. Auf dem Rückweg, ob mit U- oder S-Bahn, leert sich genau dort, am Bahnhof Zoo der Zug wieder. Im Westen Berlins. Wir Fußball-Fans, die wir im Ostteil wohnen, haben dann meist viel Platz in der U-Bahn. Bei vielen Ost-Berlinern schlägt das Herz für Union, eisern, für den kleineren Verein aus Köpenick, der sein Image als „gallisches Dorf“ so perfekt pflegt und mit immer wieder hübschen Aktionen auf sich aufmerksam macht – vom Weihnachtssingen mit Tausenden Fans im Stadion bis hin zur Sofa-Aktion auf dem grünen Rasen im Jahr der Fußball-Weltmeisterschaft 2014. Aus einem Unioner wird kein Herthaner – und umgekehrt.
Ich ging nicht nur mit der Wettgruppe, sondern mit dem Freund, dem Hertha-Fan, seit Kindertagen, dann immer häufiger ins Olympiastadion, so häufig, dass wir uns schließlich fragten: „Dauerkarte, ja oder nein?“ Die Antwort fiel nach Rücksprache in den jeweiligen Familien eindeutig aus: „Ja.“ Hat einer keine Zeit, nimmt der andere die Karte und einen anderen Fußball-Fan mit. Seit vier Jahren sind wir nun alle zwei Wochen auf unseren Plätzen im Oberring, gut ausgerüstet mit blau-weißem Schal und Sitzkissen, im Winter so gekleidet, dass man auch bei null Grad ein Spiel verfolgen kann. Um uns herum die anderen Dauerkartenbesitzer – zugegeben, mit Jacken, blau-weißen Wintermützen, den jeweiligen Trikots und Fahnen sehr viel professioneller ausstaffiert als wir –, man grüßt sich, man trifft sich schon mal am Eingang für Dauerkartenbesitzer, man schimpft, jubelt, flucht, klatscht, verzweifelt und freut sich. Gemeinsam. Nur nach Hause ... geh’n wir nicht.
Es ist oft nicht leicht, ein Hertha-Fan zu sein. Aber es ist meistens schön.