„Wen suchen Sie?“, fragt die etwa 40 Jahre alte Angestellte der Friedhofsverwaltung. Sie rückt ihren Drehstuhl zurecht und ruft das Suchformular auf ihrem Computer auf. Das Büro mit den großen Panoramafenstern verwaltet die drei Friedhöfe, die gegenüber dem Krankenhaus Friedrichshain liegen.
Ihre Finger fliegen über die Tastatur und auf dem Monitor erscheint im Feld Vorname Buchstabe für Buchstabe „Reinhardt“. Sie löscht das überflüssige t am Ende. In das Feld Nachname schreibt sie „Lauk“. Kein Treffer. Sie fügt ein c beim Nachnamen ein.
Ein Treffer. Im Datensatz steht: „Reinhard Lauck. Geboren am 16. September 1946. Gestorben am 22. Oktober 1997. Beigesetzt am 4. Dezember 1997. St. Petri Friedhof.“ Das ist alles, was nach dem Ende bleibt. Ein paar Daten. Aber keine Geschichte der 51 Lebensjahre. Die Friedhofsangestellte stutzt, als sie alles laut vorliest: „Ist das etwa Mäcki?“
Berliner WM-Helden - Die Großbildgalerie
Sie erinnert sich, dass er Fußballer war. Ihr Vater hat von ihm erzählt. Doch von Mäckis Erfolgen weiß sie nichts. Nichts vom überraschenden Pokalsieg mit dem 1. FC Union und nichts von den Meisterschaften mit dem BFC Dynamo. Weder von der Goldmedaille bei Olympia 1976 in Montreal ist ihr etwas bekannt noch von der Weltmeisterschaft 1974. Reinhard Lauck war auf dem Platz, als sich beide Deutschlands das einzige Mal gegenüberstanden. Auch der Absturz nach der Fußballkarriere ist ihr unbekannt. Sie weiß nichts davon, wie er dem Alkohol verfiel und unter bis heute ungeklärten Umständen ums Leben kam.
Im Herbst 1997 war Reinhard Lauck mit schweren Kopfverletzungen auf der Straße gefunden worden. Eine „hilflose Person“, wie die Polizei protokollierte. Kein besonderer Fall in einer Stadt wie Berlin. Das Wort „WM-Held“ fällt nicht. Niemand erkannte Reinhard Lauck, den Fußballer. Er war nur noch Reinhard Lauck, die hilflose Person. Im Krankenhaus kam er dann nicht wieder zu Bewusstsein. Und starb, unbeachtet von der Öffentlichkeit.
Nur knapp 15 Personen fanden sich zu seiner Beerdigung ein. Sie standen an einem Urnenfeld. Auf dem Grabstein steht: „Mecky, Du fehlst uns.“ Mecky mit e und y. Nicht Mäcki, wie der Igel, nach dem er als junger Spieler aufgrund seiner kurzen Haare gerufen wurde. Oben links ist die Stele aufgebrochen. Ein Ball wurde hineingemeißelt in die spiegelglatte Oberfläche des Steins. Fast wie ein Symbol auf sein Leben. Solange Lauck das runde Leder um sich hatte, war alles in Ordnung. Da hatte er alles im Griff. Doch ohne den Ball verlor er sich, fand keinen Halt und rutschte ab. Fußball aber konnte Mäcki richtig gut.
Die deutsch-deutsche WM-Partie ist Legende
Für die Nationalmannschaft stand er 40 Mal auf dem Platz. Es ist vor allem ein Spiel, das bis heute im gesamtdeutschen Gedächtnis geblieben ist. Am 22. Juni 1974 trafen bei der einzigen Weltmeisterschafts-Teilnahme der DDR die deutschen Mannschaften im Hamburger Volksparkstadion aufeinander.
Eine Partie ohne sportliche Brisanz. Beide Länder waren bereits für die Zwischenrunde qualifiziert. Dafür war sie politisch aufgeladen. Ein Land spielte gegen sich selbst. Der filigrane Lenker des bundesdeutschen Spiels, Wolfgang Overath, vom 1. FC Köln traf auf Reinhard Lauck. Der Mittelfeldspieler vom BFC Dynamo galt als lauf- und kampfstark. Ein Spielertyp, auf den DDR-Trainer Georg Buschner stand. Um Nationalspieler bleiben zu können, musste er 1973 nach dem Abstieg von Union zum ungeliebten Rivalen, dem Klub des Ministeriums für Staatssicherheit, wechseln. Kein Transfer im heutigen Sinne. Es hieß „delegiert“. „Lauck war sehr umgänglich. Auf dem Platz dagegen war er ein richtiger Antreiber“, sagte Hartmut Felsch, ehemaliger Mitspieler bei Union, der mit Lauck 1968 den FDGB-Pokal holte und bis zum Schluss Kontakt zu halten versuchte.
Die deutsch-deutsche WM-Partie ist Legende. Vor allem wegen des einzigen Tores. In der 78. Minute schoss Jürgen Sparwasser das 1:0 für die DDR. Legende ist auch Laucks Beteiligung daran. „Er spielte auf Erich Hamann. Der schlug einen weiten Pass auf Sparwasser und Spari machte das goldene Tor. Es erfüllt mich immer wieder mit Stolz, sagen zu können: Mäcki – einer von uns – war dabei“, sagte der ehemalige Cottbuser Stadionsprecher bei der Enthüllung einer Gedenktafel für Lauck in dessen Geburtsort Sielow. Nur den angesprochenen Pass gab es nie. Es war Torhüter Jürgen Croy, der auf den Magdeburger Hamann abwarf. Nicht die einzige Halbwahrheit, die über Mäckis Leben verbreitet wird.
Dabei gibt es von Laucks Einsatz im deutsch-deutschen Duell genug zu erzählen. Overath kam nicht zur Entfaltung. Immer wieder störte ihn der Berliner. Bis der Kölner in der 69. Minute gegen Günter Netzer ausgewechselt wurde. Auch das Gladbacher Genie wurde vom BFC-Spieler abgemeldet. So blieb es die einzige Weltmeisterschafts-Partie in Netzers großer Karriere als Fußballer.
„Es war ein ganz normales Spiel“, sagte Lauck 1994 in der Berliner Volksbühne lapidar. Zuvor wurde die Partie zum 20-jährigen Jubiläum in dem Theater am Rosa-Luxemburg-Platz auf großer Leinwand gezeigt. „Mit Overath hab ick noch heimlich das Trikot getauscht. Der hat mir dankend auf die Schulter jekloppt, weil ick so fair war. War schwer zu spielen, Overath, Linksfüßer. Wie dann der Netzer reinkam, hab ick bloß noch jelacht. Jute Truppe sind wir jewesen. Bloß der Sparwasser stellte sich so hin. Der hat von dem Tor noch fünf Jahre jelebt.“
Persönlich spielte die Weltmeisterschaft für Lauck nicht die Rolle, die sie in der öffentlichen Wahrnehmung hat. Sein größter Erfolg mit der Nationalmannschaft kam zwei Jahre später. In Montreal gewann er 1976 mit der DDR die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen. Das 3:1 im Finale gegen Polen vor über 70.000 Zuschauern im Olympiastadion war sein persönlicher Höhepunkt. Der einzige Titel der DDR-Elf. Und er war dabei. Reinhard Lauck aus Sielow, dem Vorort von Cottbus. Eine Kopie der Medaille wurde 2006 in den grauen Beton des Fußwegs vor dem Rathaus der Lausitzer Stadt eingelassen. „Walk of Fame“ heißt das im groß klingenden Sprachgebrauch des Stadtmarketings. Ein bisschen Hollywood in der Provinz. Doch ausgerechnet die Spiele bei Olympia erkennt der Deutsche Fußball-Bund (DFB) bis heute nicht als offizielle Länderspiele an.
Das Original der Goldmedaille hatte Lauck immer zu Hause behalten, in seiner Plattenbauwohnung am Alexanderplatz. Ein Goldschmied gravierte seinen Namen in die Plakette. Als Fußballer lebte er privilegiert, bekam eine für Normalbürger unerreichbare Wohnung. Zweimal wurde er Meister mit dem BFC Dynamo. Das war 1979 und 1980. Danach war die Karriere vorbei. Das Knie machte nicht mehr mit. Und der Fußballer Mäcki Lauck war nur noch Reinhard Lauck. Versorgt wurde er trotzdem. Er arbeitete als KFZ-Schlosser im Fuhrpark der Dynamo-Fahrbereitschaft. Für die Oberligaspiele des BFC bekam er freien Eintritt. Die geordneten Verhältnisse kamen mit der Wende ins Wanken. Das Leben, in dem er sich eingerichtet hatte, war plötzlich nicht mehr da. Von der Geschichte weggefegt. Dynamo gab es nicht mehr. Und die Fahrbereitschaft auch nicht. Nur die Wohnung blieb. Erst war es nur ein Abstieg. Lauck musste als Kohlenträger schuften in der Nähe des S-Bahnhofs Greifswalder Straße. Als ehemaliger Nationalspieler. Als Olympiasieger. Hartmut Felsch besuchte ihn dort ab und zu. Doch helfen konnte er nicht richtig. Als der ehemalige Mitspieler in den Südosten Berlins zog, riss der Kontakt fast vollständig ab. „Nach der Wende hatte jeder genug mit sich selbst zu tun und musste sehen, wie er über die Runden kommt“, sagt Felsch. Mäckis Frau Marlinde kümmerte sich um ihren Mann.
Späte Anerkennung vom DFB
Den Absturz konnte sie nicht verhindern. Alkohol. 1993 wurde Lauck vom ehemaligen DDR-Nationaltorhüter Jürgen Croy nach Steinach in Thüringen eingeladen. Fast 20 Jahre nach dem politisch aufgeladenen Duell spielten sie erneut gegeneinander. Einmal noch DDR gegen Bundesrepublik. Einmal noch prallen zwei deutsche Erinnerungen an aufeinander. Das vom DFB herausgegebene Magazin des Clubs der Nationalspieler schrieb 2013 dazu: „Als 20 Jahre nach Hamburg das ‚Wiederholungsspiel’ mit allen deutschen Fußball-Größen stattfand, war Reinhard Lauck schon nicht mehr dabei. Der Olympiasieger von 1976 war kurz zuvor mit 51 Jahren nach einem Sturz vom Fahrrad verstorben.“ Noch eine Halbwahrheit. Denn vier Jahre vor seinem Tod war Lauck in Steinach dabei. Doch zum Einsatz kam er bei dem 4:4 nicht. Und niemand vermisste ihn. Nicht einmal Wolfgang Overath, den er 1974 auf dem Platz so genervt hatte. Der Alkohol verhinderte die Neuauflage.
Zum Schluss erkannte er mit der Flasche in der Hand auf einer Bank am Alexanderplatz sitzend nicht einmal mehr seine ehemaligen Mitspieler. Der Fußballer Mäcki Lauck war oben. Der Mensch Reinhard Lauck ist am Ende ganz unten. Selbst seine Länderspiele bei der Weltmeisterschaft 1974 erkannte der DFB nicht an. Wie bei allen DDR-Nationalspielern. Als ob die Partien nie stattgefunden hätten. Erst nach seinem Tod gab sich der DFB nach vielen Protesten im neuen Jahrtausend einen Ruck und zählte die DDR-Einsätze als vollwertige Länderspiele. Für Mäcki Lauck kam diese Anerkennung zu spät.