Berliner im Exil

Torwart Benjamin Lundt und sein Umweg durch die Prärie

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Jörn Meyn

Foto: University of Akron / BM

Benjamin Lundt fiel bei Hertha BSC durchs Raster. Dann ging er in die USA und fand dort eine zweite Chance – so wie viele Deutsche.

Berlin/Akron.  Der Profifußball war gar nicht mehr weit weg. Vielleicht noch drei, vier Meter. Benjamin Lundt saß auf der Ersatzbank von Hertha BSC. Im August 2012 war das. Heimspiel gegen Regensburg. Hertha war zu dieser Zeit schlimm geschrumpft. Zweite Liga. So was kann die Chance für Nachwuchskräfte sein. Lundt, damals 17 Jahre alt, 1,98 Meter groß, Torwart, gerade deutscher B-Jugend-Meister, wurde kurzfristig Ersatzkeeper bei der ersten Mannschaft unter Trainer Jos Luhukay. Die beiden Stammkräfte, Thomas Kraft und Sascha Burchert, fielen aus. Lundt rückte als vierter Mann nach und sah ein 2:1 im Olympiastadion von der Bank. Näher sollte er dem Profifußball in Deutschland nie wieder kommen.

Benjamin Lundts Geschichte ist eine, die von großen Hoffnungen erzählt – und großen Enttäuschungen auch. Eigentlich eine typische Story des Scheiterns, wie sie viele Nachwuchsspieler irgendwann erleben. Doch die von Lundt handelt auch von Umwegen und zweiten Chancen. Und sie entwirft ein Bild von einem gelobten Fußball-Land, von dem in Deutschland nur wenige wissen: den USA.

Normalerweise wäre seine Karriere irgendwo versandet. In Chemnitz, Offenbach oder Osnabrück. Dritte Liga. Höchstens. Bei Hertha sollte er es nicht schaffen. Nur von Drittligaklubs gab es Angebote. Doch Lundt hatte keine Lust darauf. Zu unsicher war ihm das. Was, wenn es am Ende doch nicht reicht? Wenn er alle anderen seriösen Wege ins Erwachsenenleben links liegen ließe und sich dann mit dem Fußball verrennt? Studium? Nebenbei schwer als Drittliga-Spieler. Also Endstation aller Träume, oder umdenken. Lundt entschied sich für den Weg über den Atlantischen Ozean. 2015, drei Jahre nach dem Spiel gegen Regensburg, zog er in die USA – und ist dem Profifußball heute fast so nah wie damals in Berlin.

Heimspiele vor bis zu 5000 Zuschauern am College

„Amerika war mein Plan B, um erstens auf die Uni zu gehen und zweitens doch noch mal mit einem Auge auf die Profiliga zu schielen“, sagt der 22-Jährige am Telefon. Er ist gerade aufgestanden. Gleich ist Training. Danach kann es schon passieren, dass Lundt ein paar Autogramme für seine Kommilitonen schreiben muss. Er spielt nun im zweiten Jahr für die University of Akron, die eines der besten Soccer-Teams des Landes unterhält und Anfang Dezember im Halbfinale der amerikanischen Meisterschaft stand.

Als Stammtorwart ist er bekannt auf dem Campus. In der 200.000 Einwohner-Stadt im Bundesstaat Ohio kommen bis zu 5000 Zuschauer zu den Heimpartien. Von seiner Uni, so heißt es, werden die meisten Spieler in die Major League Soccer (MLS), die amerikanische Profiliga, befördert. Und genau dort will er hin. Immer im Januar verpflichten die Klubs Nachwuchsspieler im sogenannten Draft – eine Art Spielerlotterie vor dem Saisonstart der MLS im März. Lundt hofft, dass er diesmal schon dabei ist. „Wenn nicht, versuche ich es im nächsten Jahr wieder.“

Benjamin Lundt ist einer von vielen jungen, deutschen Fußballern, die ihre zweite Chance in den Weiten des US-amerikanischen Sportsystems suchen. 193 Deutsche spielen Fußball in den USA – nirgendwo im Ausland sind es mehr. Der Bekannteste unter ihnen ist Bastian Schweinsteiger vom MLS-Klub Chicago Fire, bei dem noch nicht entschieden ist, ob er auch in der neuen Saison in den USA bleibt. Aber Schweinsteiger ist eine Ausnahme. Der 33 Jahre alte Weltmeister von 2014 lässt seine Karriere dort ausklingen.

Vollstipendium im Wert von 40.000 Dollar pro Jahr

Doch die überwiegende Mehrheit der Kicker made in Germany findet sich wie Lundt im College-Soccer. Manche hoffen, von dort eine Profikarriere zu starten. Andere sind vornehmlich auf die begehrten Vollstipendien aus, die viele Tausende Dollar wert sind. In Amerika ist ein Zweitmarkt der Karrierechancen im und mit dem Fußball für deutsche Spieler entstanden – und er boomt.

„Die Nachfrage nach deutschen Spielern gab es immer“, sagt Martin Zaluk, „nur jetzt ist auch die Nachfrage der Deutschen nach einem Platz in den USA größer geworden.“ Ohne den 33-Jährigen wäre Lundt nicht in Akron gelandet. Zaluk hat 2008 eine Spieleragentur gegründet. Für eine geringe vierstellige Summe vermittelt er deutsche Fußballer an Unis, bei denen sie Stipendien bekommen. Er kennt die Geschichte des amerikanischen Fußball-Traums aus eigener Anschauung. 2003 ging er selbst als ehemaliger A-Jugend-Kapitän von Eintracht Frankfurt rüber und spielte an einem College. Heute berät er etwa 60 Aktive im Land – darunter Lundt. Der hat ein Vollstipendium. 40.000 Dollar pro Jahr kostet ein Jahr in Akron. Für Lundt, der Wirtschaft studiert, ist es umsonst. Agenturen, die das möglich machen, wie die von Martin Zaluk, gibt es nun einige.

Die gestiegene Nachfrage deutscher Spieler nach einem Wechsel in die USA hat zwei Gründe: Die gute Vereinbarkeit von akademischer Ausbildung und Sportlerkarriere sowie die Professionalisierung des amerikanischen Fußballs – die das Land attraktiver für deutsche Talente macht. „Der US-Soccer hat sich in den letzten zehn Jahren enorm entwickelt“, sagt Zaluk, auch wenn die Nationalelf erstmals seit 1986 die WM verpasst hat.

Nachwuchsleistungszentren wie in Deutschland

22 Teams spielten 2017 in der MLS. Zwei mehr als letztes Jahr. 2018 werden es 23 sein. Der Zuschauerschnitt liegt mit 21.500 so hoch wie in Italiens Serie A in der vergangenen Saison. Zudem hat sich das amerikanische Ausbildungssystem revolutioniert. Es ist deutscher geworden. Führte der Weg in den professionellen Sport früher von der Highschool über die Uni bis in die MLS, haben sich seit 2007 rund 140 Klubs gegründet – sogenannten Development Academies. „Das sind Nachwuchsleistungszentren wie in Deutschland“, sagt Zaluk, der nebenberuflich als Scout für die US-Jugendnationalteams arbeitet. „Die Amis produzieren so richtig gute Spieler.“ Diese gehen ans College, oder werden direkt Profis.

Wie gut die Ausbildung ist, zeigt die Geschichte von Weston McKeenie. Schalke 04 fand ihn 2016 in der Akademie des FC Dallas und verpflichtete den Mittelfeldspieler für den Nachwuchs. Heute gehört der 19-Jährige oft zur Startelf im Bundesliga-Team. Berühmter noch ist Christian Pulisic – US-Fußballer des Jahres 2017. Er wechselte als 15-Jähriger von den Pennsylvania Classics – ebenso eine Academy – in den Nachwuchs von Borussia Dortmund. Heute wird sein Marktwert auf 45 Millionen Euro geschätzt.

Das alles hat dazu beigetragen, das Niveau im amerikanischen Nachwuchsfußball stark anzuheben. Und deshalb ist der Weg über den großen Teich für gut ausgebildete deutsche Spieler wie Benjamin Lundt auch kein Abstieg mehr in ein Fußball-Entwicklungsland. „Jungs wie Ben, die in Deutschland Regionalliga gespielt haben, sind in den USA immer noch gut, aber nicht mehr per se die Besten, wie es vor ein paar Jahren noch der Fall gewesen wäre“, sagt Zaluk. Und weil die MLS sich zu einer wachsenden Liga entwickelt hat, hoffen immer mehr deutsche Spieler, auf dem zweiten Bildungsweg dort Profi zu werden.

Sieben Deutsche spielten in der MLS – so viele wie nie

Zaluk erzählt, dass von seinem alten Klub Eintracht Frankfurt pro Jahr etwa zwei Talente in die USA wechseln. Von Hertha haben es neben Lundt zuletzt auch zwei weitere Spieler gewagt, die es in Berlin nicht weiter als bis in die U23-Auswahl geschafft hatten: Dennis Ntsin und Jakob Bohm, die Zaluk in den Bundesstaat New York vermittelt hat.

Für sie, Lundt und all die anderen Traumsucher aus Germany kann Julian Gressel ein Vorbild sein. In Deutschland kam der 24-Jährige aus der Jugend des Zweitligisten Greuther Fürth über die Regionalliga nicht hinaus. Er ging den Umweg über das College in Providence/Rhode Island und wurde zuletzt als Stammspieler im neu gegründeten MLS-Team Atlanta United zum „Liga-Neuling des Jahres“ gewählt. Gressel war einer von sieben Deutschen, die in der vergangenen Saison in der amerikanischen ersten Liga spielten. So viele waren es noch nie zuvor.

Benjamin Lundt könnte der nächste sein. Sein Berater Martin Zaluk sagt: „Er wird es schaffen, wenn nicht jetzt im Januar beim Draft, dann ein Jahr später.“ Und Lundt selbst? Wie groß ist heute der Profi­traum – sein amerikanischer Traum? Er sagt: „Bei Hertha ist meine Hoffnung damals gestorben. Nun in den USA wurde sie wiederbelebt.“