Berlin-Potsdam

Unterwegs an der Brücke zwischen den Welten

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Hanne Bahra

20 Jahre deutsche Einheit: Die Glienicker Brücke ist heute ein Symbol der Freiheit. Ein Spaziergang zwischen Potsdam und Berlin.

Zwei Stunden nach Mitternacht raste ein Lkw in Richtung Glienicker Brücke. Blinkte kurz nach links, um dann doch geradewegs auf die Sperranlagen zuzufahren. Er durchbrach das Passagentor, riss den Sperrschwenkbaum aus dem Betonsockel, zerschmetterte den Schlagbaum und ein Gittertor. Betonstücke und Kohlesäureflaschen flogen umher. Doch es fiel kein Schuss. Die jungen Männer in dem robusten „W50“ mit den gelben Aufklebern für Gefahrengut hatten richtig kalkuliert. Ihnen glückte am 11. März 1988 die Flucht in den Westen über die „sicherste Brücke der Welt“. 25 Fluchtversuche waren hier schon gescheitert.

Im Schatten des Wahrzeichens für die Wiedervereinigung Deutschlands lauscht gerade eine kleine Gruppe Ausflügler den Fluchtgeschichten von damals, als die „Brücke der Einheit“ an der Havel noch Symbol für die Teilung war. Der Potsdamer Stadtführer kramt aus seiner Umhängetasche historische Fotos von Brückensperren und vegetationsfreien Grenzstreifen mit Streckmetallzaun und Betonmauer.

37 Spione wechselten über die Havel die Grenze

Am verblassten Grenzstreifen auf dem Brückenasphalt erzählt er Agentengeschichten. Insgesamt 37 Spione – vorwiegend von CIA und KGB – wechselten über die Havel die Grenze. Der englische Spitzname der Brücke ist „Bridge of Spies“, die Brücke der Spione. Als erster überschritt im Morgengrauen des 10. Februar 1962 der US-Amerikaner Francis Gary Power, dessen Spähflüge über sowjetischem Territorium eine internationale Krise auslösten, den weißen Strich auf der Brücke, der wie auf einem Spielfeld die gegnerischen Mannschaften voneinander trennte. Gegenpfand war der russische Spitzenspion Rudolf Iwanowitsch Abel, der seit 1948 maßgeblich am Aufbau eines Spionagenetzes des KGB in den USA beteiligt war. Nirgendwo standen sich Amerikaner und Russen so dicht gegenüber wie an der Glienicker Brücke.

Die Brücke als Bühne des perfekt inszenierten Dramas des Kalten Krieges erlebten die meisten nur im Fernsehen oder als Zeitungsbericht. Seit 1953 war die Brücke für Zivilpersonen komplett gesperrt. Lediglich die Autos der Alliierten mit verhängten Fensterscheiben rasten an solchen Austausch-Tagen merklich schneller durch die Berliner Straße zur Agentenbrücke, die für die Potsdamer zur Sackgasse geworden war.

Vor 25 Jahren fand hier der größte Austausch zwischen Ost und West seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges statt. „High Noon“ im Jahr 1985 auf der Glienicker Brücke; 23 politische Häftlinge aus DDR-Gefängnissen wurden gegen vier von der CIA verhaftete Spione aus dem Osten ausgetauscht.

Weiter geht es über den ehemaligen Todesstreifen von der Glienicker Brücke durch den Neuen Garten. Dieser „Mauergang“ ist Teil eines touristischen Angebots im 21. Jahr nach dem Mauerfall. Allerdings gibt es auf dieser Strecke keine Mauerreste mehr.

Hier weitet sich die Havel zu einer schier grenzenlosen arkadischen Seenlandschaft. Dem Fluss mit seinem buchtenreichen Verlauf ist von Natur aus gegeben, wovon Landschaftsgärtner sonst nur träumen. Schon Alexander von Humboldt soll von der Glienicker Brücke als dem schönsten Aussichtspunkt der Welt geschwärmt haben. Doch als 1961 die älteste Verbindung zwischen Potsdam und Berlin – einst Reichsstraße, heute Bundesstraße 1 – ihre verbindende Funktion, nicht aber den Namen „Brücke der Einheit“ verlor, den ihr die brandenburgische Landesregierung 1949 als „Beitrag zur Förderung der Einheit Deutschlands“ verliehen hatte, sollte auch das kunstvolle Beziehungsgeflecht zwischen dem westlichen und östlichen Ufer verschwinden. Dafür wurden 13 Hektar des Neuen Gartens planiert.

Viele Kubikmeter Erde mussten nach dem Mauerfall bewegt werden, um das historische Bodenprofil und die alten Wege neu zu beleben. Heute zeigt sich die Parklandschaft wieder gärtnerisch modelliert. Alles fügt sich dem lennéschen Schönheitsprinzip, es ist ein Spiel mit der Landschaft als Garten, gestaltet nach englischem Vorbild mit geschwungenen Wegen und malerisch arrangierten Blickverläufen zwischen Schlössern, Pavillons, dunklen Baumgruppen und sonnigen Wiesenstücken. Auch die Bronzeskulptur „Nike '89“ auf einem Rasenstück auf der Potsdamer Seite der Glienicker Brücke passt glänzend in die Landschaft. Sie stellt die griechische Siegesgöttin Nike dar, welche an den Fall der Mauer erinnern und die Freude über die Einheit Deutschlands verkörpern soll. Das Landschaftsensemble um die Brücke wurde 1990 von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt.

Gegenüber erstrahlt das deutsch-deutsche Museum in der Villa Schöningen am Südende der Glienicker Brücke. Einst von Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. in Auftrag gegeben und nach Plänen des Architekten Ludwig Persius 1843 bis 1845 erbaut, ist das Haus eine klassizistische Schönheit. Nach dem Krieg von den Russen beschlagnahmt, wurde die Turmvilla ab 1952 als Kinderheim genutzt. Eine sozialistische Früherziehungsanstalt im Sperrgebiet, mit Blick auf Stacheldraht und dahinter liegender Freiheit. Nach dem Fall der Mauer verfiel die Villa Schöningen, weil sich lange Zeit kein sanierungswilliger Eigentümer fand. 2007 erwarben Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender der Axel Springer AG, und ein Freund, der Bankier Leonhard H. Fischer, die Villa, ließen sie privat sanieren und verwandelten sie in ein deutsch-deutsches Museum, das als ein Ort der fröhlichen Freiheit verstanden werden soll. Videos, Fotografien, Dokumente und Objekte wie Passierscheine und Grenzeruniformen geben Zeugnis von der Geschichte des Hauses und der Glienicker Brücke.

Preußisch-Arkadien und der Kalte Krieg, idyllische Kulturlandschaft und brisante Weltpolitik bis zur deutsch-deutschen Wiedervereinigung, Diktatur und Freiheit – ein spannungsreiches Feld, das direkt hier an der Havel zwischen Potsdam und Berlin liegt.

Der Herbst ist die Zeit des Mauerfalls. Wo einst die Grenzer durch den Neuen Garten stiefelten, spazieren nun Potsdamer und Berliner in den letzten wärmenden Sonnenstrahlen. Japaner fotografieren sich vor dem roten fünfzackigen Geranienstern im Innenhof des Hohenzollernschlosses Cecilienhof.

Früher besuchten rund 400.000 DDR-Bürger, zumeist kollektiv, den Ort, an dem mit der Potsdamer Konferenz die Weichen für das spätere Schicksal Deutschlands gestellt wurden. Bald stand die deutsch-deutsche Mauer dicht vor dem Haus und stahl den Agitationen der Genossen Gedenkstättenführer die Schau.

Als 1975 Uno-Generalsekretär Kurt Waldheim Cecilienhof besuchte, wurde der Sichtschutz auf sechs Meter erhöht und begrünt. Nicht um Waldheim, sondern um die trüben Aussichten vor den Fenstern des Konferenzsaals zu verstecken. Doch im von Herbiziden verseuchten Boden trieben die Kletterpflanzen, die den Anblick der Grenzanlage verdecken sollten, nur spärlich.

Wenige Schritte hinter dem Schloss verebbt der Besucherstrom. Am Rande des Parks, vor dem Albrechtstor, liegt das vornehme Villenviertel, das wenige Tage nach dem Potsdamer Abkommen als Quartier der sowjetischen politischen Geheimpolizei, später des KGB, hermetisch abgeriegelt wurde. Hier fiel 1994 Potsdams letzte „Mauer“. Man sieht die tristen Fassaden des ehemaligen KGB-Gefängnisses mit den zu winzigen Lichtschächten vermauerten und vergitterten Fenstern, schaut in Zellen im Keller, darunter eine nur ein mal ein Meter große Arrestzelle. Viele Häftlinge wurden nach wenigen Verhandlungsminuten nebenan in der Kapelle des prachtvollen Kaiserin-Augusta-Stifts, das nach 1945 Kommando- und Repressionszentrale wurde, wegen „konterrevolutionärer Verbrechen“ oder „antisowjetischer Propaganda“ zum Tode verurteilt.

Der Potsdamer Schüler Hermann Schlüter hatte etwas mehr Glück. Mit 15 gehörte er zu einer Gruppe Schüler, die den Russischunterricht geschwänzt hatte. Weil er der Jüngste war, wurde er nach 86 Tagen Todeszelle zu 20 Jahren Zwangsarbeit „begnadigt“. Seine drei älteren Freunde aber wurden erschossen. Wo, weiß niemand genau. Der KGB hält bis heute seine Akten geschlossen. „Eine schwierige Situation“, sagt die Gedenkstättenleiterin Ines Reich. Es ist kein Ort der kommoden Erinnerung, kein Platz für Verklärung.

Vielerorts aber ist längst Gras über die Spuren der Diktatur gewachsen. Auf der anderen Seite der Glienicker Brücke, am Berliner Havelufer, in Klein Glienicke, erinnern nur noch wenige originale Details, einige überdimensionierte Straßenlaternen und Streckmetallzäune als Gartenbegrenzung daran, dass das Potsdamer Dorf fast eine Enklave auf West-Berliner Gebiet war. Efeu kriecht über zerstörte Grabsteine, die einst dem Mauerbau weichen mussten. Der über 200 Jahre alte Friedhof verfiel im Schatten der Mauer ebenso wie die Kapelle des preußischen Baumeisters Persius. Heute ist das Dorf wieder ein schmucker Ausflugsort.

Die Parkbrücke, zu DDR-Zeiten einzige Verbindung ins sozialistische Vaterland, führt über den Havelkanal. Auch der Uferstreifen unterhalb des Babelsberger Schlosses wurde wieder idyllisch zurückgebaut. Dramatisch waren einst die Zerstörungen auf 14 Hektar im Uferbereich. Die Lennésche Bucht wurde zugeschüttet, Parkarchitekturen verkamen. Jetzt blühen wieder die Rosen am Laubengang der Rosentreppe.

Abseits der offiziellen Route aber, am Babelsberger Ufer des Griebnitzsees, steht noch ein echtes Mauerstück. Für den Erhalt der sechs hochkantigen Betonelemente haben Mauergegner von einst gekämpft und in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ein Kreuz aus dunklen Holzbalken davor gestellt. Anwohner erzählen, dass mitunter Menschen vor diesem Kreuz beten. Auf einer Tafel am Griebnitzsee stehen die Namen von 17 Jugendlichen, die bei ihren Fluchtversuchen hier und in der näheren Umgebung ums Leben kamen. Die Statistik der DDR-Grenztruppen für Berlin stellte allein im Berichtsjahr 1962 fest: Von 4.823 Versuchen, die Mauer zu überwinden, endeten 4.274 mit Festnahme oder Tod. Mehr als insgesamt 1.300 Todesopfer des Grenzregimes ermittelte bislang das Berliner Mauermuseum. Hans-Hermann Hertle vom Zentrum für Zeitgenössische Forschung in Potsdam konnte 136 Todesopfer der Berliner Mauer ermitteln. „Es hilft gar nichts, einem Ostalgiker die DDR-Verklärung zu verbieten. Wir müssen sie ihm vermiesen“, begründete 2008 der Initiator sein Engagement zum Erhalt dieses Mauerstückes.

Damals formulierte der Ministerpräsident des Landes Brandenburg, Matthias Platzeck: „Heute sind die Spuren dieser Grenze weitgehend verschwunden. Die wenigen Reste können helfen, die Erinnerung an Geschichte wachzuhalten und zur Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur beizutragen, und müssen stehen bleiben. Die Aufarbeitung der staatlichen Verbrechen in der DDR ist noch längst nicht abgeschlossen.“

Dieser kleine Mauerrest in der Stubenrauchstraße am Griebnitzsee ist ein authentischer Ort der Erinnerung. Heute steht er unter Denkmalschutz.