Irgendwo hier oben, über den holperigen Betonplatten des Fahrradweges, tobte der Abhörkampf durch den Äther, bis vor zwei Jahrzehnten. Zwischen dem Lauschposten der Stasi auf dem Brocken in der früheren DDR und seinem Gegenstück in der Bundesrepublik, einem dicken Betonturm auf einem Berg ein paar Kilometer südwestlich, dem Stöberhai. Gut 1000 Meter über dem Meeresspiegel verläuft hier heute ein Radweg, zwischen der ehemaligen Grenze und dem Gipfel des Brockens 100 Meter weiter oben.
Hier, über dem dunklen Tann des Harzgebirges, war der geografische Höhepunkt des Kalten Krieges in Deutschland. Vom Stöberhai aus horchte man die Manöver des Warschauer Paktes ab, bis in die Sowjetunion hinein. Unter den Kopfhörern im Brocken wiederum, im Haus dort oben mit der großen Antenne, war man Zeuge von Ränkespielen westlicher Politiker am Autotelefon. Der Turm auf dem Stöberhai ist abgerissen und die Räume, in denen die Stasi sogar mal Bundeskanzler Kohl abhörte, gehören inzwischen zum Gipfel-Café.
Heute zischt und pfeift neben dem Schotterweg alle paar Stunden die Brockenbahn den Berg hinauf, kaum schneller als der Radfahrer nebenher. Ein märchenhaftes, ja puppiges Fluidum fährt da mit, wie immer, wenn auf Schmalspurgleisen kleine Waggons von Dampfloks gezogen werden. Oben auf dem Gipfel gibt es für die Wanderer mit Stock und Hut sowie die Radler und Bahnfahrer dann Harzer Eintopf, Harzer Kräuterlikör und als Andenken Wurzelschnitzereien. Mitteldeutsche Folklore.
Doppelt abgesperrt war hier alles bis vor 20 Jahren, wegen der Nähe zur Staatsgrenze und wegen der Militäranlagen. Niemand in Ost oder West wusste, was dort oben alles vor sich ging, Gerüchte gingen um. Heute ist der Mythos der Staatsgeheimnisse wieder dem Mythos der Brockenhexe gewichen.
Die Radtour zum höchsten Berg Norddeutschlands hinauf ist eine kleine Tortur für den, der aus westlicher Richtung kommt. Weniger die Steigung ist das Problem, vielmehr sind es die Betonplatten, die schon holprig waren, als sie für die Grenzer-Trabis frisch verlegt waren. Die Gipfeletappe ist ein kleiner Abstecher, der Scheitelpunkt auf dem rund 1600 Kilometer langen Radfernweg rund um die halbe ehemalige DDR, entlang der Ostseeküste und der früheren innerdeutschen Grenze.
Michael Cramer, grüner Europaabgeordneter und passionierter Radfahrer, hat die Streckenführung mit Naturschützern konzipiert. Nicht nur entlang der innerdeutschen Grenze. Cramers gesamter Radfernweg „Eiserner Vorhang“ führt vom nordnorwegischen Kirkenes bis Carevo am Schwarzen Meer in Bulgarien.
Wer den deutschen Abschnitt 20 Jahre nach der Wiedervereinigung abfährt, muss genau hinsehen und seine Fantasie spielen lassen, um den früheren Grenzverlauf ausmachen zu können. Gras ist gewachsen über die Teilung, wuchert dicht auf der einst 100 Meter breiten, freigeschlagenen und nachts grell beleuchteten Schneise. Sie war das markanteste Symbol der damaligen weltpolitischen Lage.
Heute verläuft auf der ehemaligen Grenzschneise – abgesehen vom Brocken und den wenigen anderen Höhepunkten der Strecke – ein Radweg durch weltferne deutsche Provinz. Für den einen genau deshalb voller Reize, für den anderen von wohltuender Reizlosigkeit. So oder so ist sie eine der kontemplativsten Radtouren, die das Land zu bieten hat. Dort entlang, wo viele Bundesbürger ihre einzige Erfahrung mit dem anderen Deutschland einholten: Der Blick nach drüben. Nicht Dresden, Leipzig oder der Alexanderplatz waren da zu sehen, sondern Äcker und Wiesen. Ab und zu auch farblose Häuser etwa in Waddekath, Wülperode, Wenigentaft oder anderen Weilern hinter den doppelten und dreifachen Zäunen. Menschen waren kaum zu sehen und bisweilen blickte man, ohne es zu merken, in Geisterdörfer, die seit Jahren geräumt waren, weil sie an der Grenze lagen. Es war die Aussicht, die für viele das Bild der DDR bestimmte.
Heute fällt es schwer, beim Radeln auf der Grenze die Gefühle von damals wieder abzurufen, auch wenn das Weltferne über weite Strecken geblieben ist, etwa zwischen dem Wendland und der Altmark. Hier, wo der Grenzverlauf – wie an anderen Stellen auch – einer natürlichen Scheidelinie folgte, wo der breite Sumpfstreifen bereits Germanen von Slawen trennte und der Radweg schon allein deshalb durch Gegenden führt, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen.
Die Menschen machen sich auch heute rar auf den Straßen. Immerhin, einige Häuser haben frische Farbe bekommen. Und die Straße hinter Lübbow, auf der man einst zum Schlagbaum vorfuhr und ein Foto schoss mit dem Schild „Halt! Hier Grenze!“ im Vordergrund und den Türmen von Salzwedel am Horizont – sie führt heute einfach „rüber“, durch das Moor in die Altmark, als wäre sie nie unterbrochen gewesen. Wie überhaupt der Radweg immer wieder von Ost nach West und zurück wechselt, hier und da noch spürbar an den felgentötenden Betonplattenwegen auf der einen und Asphalt- oder Schotterstrecken auf der anderen Seite. Nur das Fahrrad erlaubt es, auch auf Feldwegen dicht an der früheren Grenze zu bleiben. Der Autofahrer müsste ausholen, die Linie kreuzen.
So unprätentiös die Strecke durch Feldmark und Weideland zumindest bis zum Harz verläuft, ohne größere Steigungen, so ereignisbeladen war der frühere Grenzverlauf. Im Begleitbuch zum Radweg erzählt uns Cramer immer wieder Geschehnisse, die uns anhalten und nachlesen lassen. Die Geschichte von Michael Gartenschläger zum Beispiel. Er führt uns zu der Stelle, wo der aus der DDR freigekaufte Dissident 1976 beim Versuch, eine Selbstschussanlage im Zaun abzubauen, von Kugeln aus dem Osten getötet wurde. Er schildert, wo die Grenze einzelne Gehöfte auseinanderriss, wo Menschen in den Osten entführt wurden, wo spektakuläre Fluchten in die andere Richtung glückten, wo sie tödlich endeten. Er bringt uns in Bildern von damals und heute im selben Blickwinkel ein Grenzregime nah, das unumstößlich schien, heute aber nur noch Kopfschütteln hervorruft.
Was hinter den Kulissen ablief
Anderes drängt sich von ganz allein am Wegesrand auf: Das riesige Areal des Grenzübergangs an der A2 etwa, dessen Äußeres jeder kannte, der öfter auf der Transitautobahn nach West-Berlin fuhr. Jetzt ist er als „Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn“ ein Museum und offenbart sein Inneres, zeigt, was hinter den Kulissen ablief, was sich in der Baracke tat hinter dem mürrisch dreinblickenden Grenzer an der Abfertigung, wie man mithilfe geheimer Geräte in den Kofferraum der Reisenden blickte. Mit dem Fahrrad hier herumzukurven wäre das Letzte gewesen, was man sich in diesem Hochsicherheitsareal hätte träumen lassen.
Der Radweg entlang der alten Grenze trennt heute die Generationen: Für die Jüngeren ist er ein 1400 Kilometer langer Geschichts-Lehrpfad, interessant, erhellend, aber ohne persönlichen Bezug. Für die Älteren, die Erfahrung mit dieser ganz speziellen Grenze haben, ist es Reminiszenz. Für den beispielsweise, der die Absurdität in Mödlareuth im bayerisch-thüringischen Vogtland miterlebte, jenes 50-Einwohner-Dorf, das die hier stationierten Amerikaner „Little Berlin“ nannten, weil es auch durch eine Mauer getrennt war, an deren langem, stehen gebliebenem Teilstück man heute noch entlangradeln kann. Oder für denjenigen, der als Kind in den 60er-Jahren an den Grenzfluss Werra zog mit der Schulklasse, die mit Liedern am Fluss die Wiedervereinigung herbeizusingen versuchte, lautstark über die Ruinen einer Brücke hinweg zu dem trostlosen Dörfchen Lindewerra im Osten. Der dies in den 70er-Jahren dann lächerlich fand, sich dafür geradezu schämte.
Und der heute, an schönen Tagen mit Hunderten anderer Radfahrer, über die wiederhergestellte Brücke in ein herausgeputztes Lindewerra hineinradelt – und dann doch wieder lernt, sich zu wundern, wie das so alles gekommen ist, was über die vergangenen 20 Jahre schon fast vergessen war.