Von den „ersten Malen“, die man so hat im Leben, wird mir dieses das unvergesslichste bleiben. Vielleicht, weil es das existenziellste war, ihm eine Entscheidung innewohnte, die man nicht treffen muss, wenn man zum ersten Mal den Gran Canyon besteigt, einen Fallschirm-Tandemsprung wagt oder halb Gambia mit dem Buschtaxi durchquert. Alles erlebt, alles mitgemacht, alles unter „tolle Erfahrung“ subsumiert. Mein erstes Mal „Düsseldorf mit der Bahn“ hingegen war mit Herzklopfen verbunden, das ich so nie wieder hatte.
Düsseldorf? Ja, Düsseldorf. Stadt am Rhein, Messe-Hochburg, Schnauzbartträger-Biotop. Würde ich geschockt sein, überwältigt, hingerissen? Ich ahnte nur: Düsseldorf würde mein Leben grundlegend ändern. Es auf den Kopf stellen, eine andere aus mir machen.
Hingerissen von Düsseldorf? Klingt zunächst bizarr. Ist aber nachvollziehbar, wenn ich das Jahr nenne, in dem ich die Koffer packte und darauf achtete, nichts Verdächtiges einzustecken. Papiere, die meinen Plan verraten würden, Zeugnisse zum Beispiel. 1988 war das – und ich ein Zonenkind.
Ich lebte damals noch im grauen Leipzig, war Anfang 20 und wollte wissen, wie es weitergeht mit mir und meinem Leben. Im Stillen sehnte ich mich nach Paris, wohl wissend, dass ich es nie sehen würde. Meine frankophile Phase hatte damals ihren Höhepunkt, ich wollte eine dieser Frauen sein, die zwischen Kirschlippen eine Kippe balancieren und im Pünktchenkleid die Champs-Élysées herunterflanieren. Ich wollte Romy Schneider sein, auf meine Weise. Im Endeffekt hieß das: Ich musste weg. Weg aus dem Käfig mit dem Namen DDR.
Düsseldorf würde es für mich möglich machen: Paris, die Kirschlippen, das Pünktchenkleid. Zumindest könnte ich dort entscheiden, ob ich das alles wirklich wollte. Oder ob ein eingemauertes Zuhause besser für mich war.
In Düsseldorf wohnte mein wunderbarer Onkel Ulf, der Schlüssel meiner Hoffnung. Er selbst besuchte seine Ostverwandtschaft beinahe jedes Jahr. Nahm regelmäßig die Grenzschikanen auf sich, um uns an sein Herz zu drücken. Zuverlässig eine halbe Stunde nach seiner Ankunft in unserer Plattenbau-Straße fehlte seinem Benz der Stern, er lachte, wir regten uns darüber auf. Über die Unverschämtheit unserer Nachbarn und ihre Gier nach Westprodukten. Dabei waren wir nicht anders.
Mein Onkel war es auch, der meine Hoffnung nährte, dass der Westen so schlimm gar nicht sein konnte, wie es uns die Schule lehrte. Ich glaubte, ich vertraute ihm. Und 1988 stand sein 50. Geburtstag an. Ein guter Grund, den Schritt zu wagen, einen Besuchsantrag zu formulieren. Ende der Achtziger war die Stimmung in der DDR sehr schlecht, die Behörden lockerten die Zügel, peu à peu durften auch junge Leute besuchsweise in den Westen fahren, ein erstes Nachgeben an der Reisefront, die eigentlich nur Rentner überwinden konnten. Meinem Antrag wurde, nach längerer Prüfung, stattgegeben. Im März vor 21 Jahren bestieg ich im Leipziger Hauptbahnhof den Zug nach Düsseldorf.
Nie wieder in meinem Leben war eine Zugfahrt derart intensiv, gefühlsbeladen, herzzerreißend. Mein Vater reiste mit mir, er ahnte nichts. Dann noch die DDR-Grenzer, das lebende Klischee vom gnadenlosen, schikanösen Staatsbeamten, und nachts die Schäferhunde, die an unserem Waggon schnüffelten. Jeder Meter, der den Westen näher brachte, wühlte mich mehr auf. Was würde ich tun? Wirklich im Westen bleiben? Trifft man mit Anfang 20 schon richtige Entscheidungen? Mit Reue oder Rückkehr wäre nichts gewesen, irreversibel würde mein Votum (Republikflucht!) sein. Und alte Freunde würde ich auf Jahre nicht mehr sehen.
Alles also hing seinerzeit an Düsseldorf. Wie es sich geben würde. Ob es mir den Arm ausstreckte oder mich links liegen ließ. Die Uhr tickte, ich hatte eine Woche bis zum Ablauf meines „Visums zur einmaligen Ausreise nach der BRD“. Düsseldorf würde die geworfene Münze meines Lebens sein, Kopf oder Zahl würden es richten: Heimkehr oder Neuanfang.
Was soll ich sagen? Düsseldorf machte alles richtig damals, ohne sich anzustrengen. Packte mich jungsches Etwas mit seiner Freundlichkeit und seinen Farben (sic!). Mit einer ungeahnten Aura, die mir so fremd war wie Kiwis oder Seifenspender. Zu gern würde ich mein Gesicht von damals noch einmal sehen wollen, schlafwandlerisch passierte ich zunächst einen Obstmarkt mitten im Hauptbahnhof, dessen Anblick meine Augen glasig werden ließ. Was für Buntheit existierte, was für Früchte gab es! Ich kam aus einem Land des einheitlichen Graus. Und einem Land des Kohls: Weiß- oder Rotkohl, das war die Wahl, die die Ostler hatten, in ihren heimischen Gemüseläden.
Der Zug – eindeutig – musste sich verfahren haben, ich wähnte mich im Paradies, nicht in einer mir unbekannten Stadt im Westen. Aufsteigende Engelein rund um diese Explosion der Sinne hätten mich damals nicht erstaunt, im Gegenteil, ich wäre ihnen nachgeschwebt.
Benommen taperte ich durch das Reich der Seligkeit, der Fülle und begrenzten Haltbarkeit. Nahm einen tiefen Zug, wagte eine zärtliche Berührung – und genehmigte mir nichts. Nicht mal ein Träubchen. Was würde jetzt noch kommen, wenn schnödes Obst hier schon der Knüller war? Würde ich völlig kollabieren, wenn erst Restaurants, Jeans- oder Schokoladenläden ins Bild gerieten? Und ich die ersten Westler in freier Wildbahn sprechen würde?
In der Tat, die Obstabteilung im Düsseldorfer Hauptbahnhof, sie sollte nur der Anfang meiner Kapitulation auf ganzer Strecke sein. Die sieben Tage, die nun folgten, lullten mich vollends ein. Erstmals in meinem Leben traf ich Verkäuferinnen, die nicht schnippisch wurden, wenn ich nichts bei ihnen kaufte – auch wenn sie mich zuvor schier eine Ewigkeit beraten hatten.
Ich war ein Land gewohnt, in dem der Kunde niemals König war, der Dienstleistende hingegen schon. Denn der verwaltete den Mangel, und nur dann, wenn wir ihm selber nützlich waren, rückte er Bückware heraus und war freundlich. Falls nicht, prallte uns republikweit nur ein rotziges „Hamm wa nich“ entgegen, woraufhin wir uns gefügig trollten.
Wie "Zonen-Gabi im Glück"
Verstört lief ich durch Düsseldorfs Straßen, bewunderte die heilen Häuser, die lockeren Menschen, sog die Gerüche ein. Alles, aber auch alles konnte Eindruck auf mich machen, ein Hundefutter-Logo genauso wie die Haartracht einer Sonnenstudio-Angestellten. „Zonen-Gabi im Glück“, da war was dran, auch wenn ich keine Gabi war. Und dann die Menschen, made in Western Germany, so hilfsbereit, freundlich und so staunend um mich rum: „So seht ihr von drüben also aus, gar nicht so furchtbar, durchaus ansehbar. Und sächseln tut ihr auch nicht alle, oder?“ Heute – ganz ehrlich – klingt das fürchterlich in meinen Ohren, was es auch ist, doch damals sog ich alles mir Zugewandte auf wie ein Verdurstender laue Regentropfen.
Keine Geschichtsklitterung also: Düsseldorf kochte mich weich. Ich entschied mich, nicht zurückzufahren in mein altes Leben, es bedurfte keines Kopfzerbrechens. Ich zauderte nicht einen Tag. An alles Zurückbleibende heftete ich die Hoffnung wegbrechender Strenge, was die Behörden und das Reisen anging. Naiv zu diesem Zeitpunkt noch, nicht mehr im Jahr darauf, 1989. Die Mauer hat einen Knacks, es ging aufs Ende zu.
Und ich bretterte – schon ein paar Wochen eingewöhnt ins neue Leben im Westen – nach Paris, zu Kirschlippen und Pünktchenkleidern. Früh um vier, mit zwei Kumpels, die den Wagen stellten. Onkel und Tante, die mich seinerzeit beherbergten im neuen Leben, fanden morgens einen Zettel von mir vor: „Bin nach Paris zum Frühstück, bald zurück!“
Beim Herumirren in Saint Germain, beim Knutschen an der Seine, beim Fotografieren im Jardin des Tuileries packte mich Euphorie, endlich lief der Film, in dem ich immer mitspielen wollte. Die Pariserin verführte mich mit ihrem Schick, ihr männliches Pendant mit seinen frechen Flirtversuchen. Hier prickelte es den ganzen Tag, und alle schienen nur an eines zu denken. Einfach wunderbar.
Inzwischen ist das alles 20 Jahre her, seit 19 Jahren lebe ich in Berlin-Mitte, doch mit dem Fernweh hab ich’s nach wie vor. Würde ich auf eine Weltkarte Fähnchen pinnen für alle Länder, die ich mittlerweile gesehen habe, es wogte dort ein Flaggenmeer.
Jüngst saß ich abermals im Zug nach Düsseldorf. Der Zug war voll, ich mürrisch, und Herzklopfen hatte ich dieses Mal nur wegen Hape, Hape Kerkeling. Ein Interview musste ich führen, ich dicht an meinem Star, ein bisschen war es, als erwarte mich Paris. Doch sonst: Nichts würde mich auf dieser Zugfahrt noch berühren, zu vertraut war ich längst mit den Deutsche-Bahn-Gepflogenheiten. Mich aufregen würden höchstens verspätete Züge und das Englisch seiner sächsischen Bediensteten: „Wi wisch ju ä pläsent dschörney!“ Und so war’s dann auch.
Hape machte alles wieder gut. Fröhlich schied ich von ihm und fuhr im Taxi zum Düsseldorfer Hauptbahnhof. Und hatte noch Zeit, ihn nach all den Jahren näher anzuschauen. Der Glanz alter Zeiten war perdu – und zwar so was von. „Piefig“, dachte ich bei mir. Die Häuser: mehr Sechziger als Fortschritt. Und die Läden: mehr öde Ketten als fesche Läden. Mir fiel mein erstes Mal ein und der Früchtehimmel, der sich hier damals auftat – und ich suchte ihn.
Schon stand ich mittendrin, ohne es nur gemerkt zu haben. Nicht, dass der Laden schlecht sortiert war, überhaupt nicht, ich denke, in Wahrheit richtete sich mein Pah!-Gefühl gegen mich selbst. Hier also stand ich einst wie eine Wunderblume, hier habe ich geschmachtet und gelechzt. In Anbetracht von was? Von Apfelsinen, Ananas und Auberginen? Ich sah mich um und kam mir wie ein armes Würstchen vor. Naiv, ernüchtert, angekommen in der Wirklichkeit der freien Marktwirtschaft. So können 20 Jahre die eigenen Augen schärfen oder ermüden – je nachdem. Egal: Das erste Mal Düsseldorf war schön.