Der Klinikkonzern Vivantes will den Fall der gekündigten Altenpflegerin Brigitte Heinisch „in Frieden“ abschließen. Neben einer Wiedereinstellung seien Heinisch per 10. Oktober 70.000 Euro netto angeboten worden, um alle Ansprüche aus den vergangenen sechseinhalb Jahren abzugleichen. „Wir haben dem Anwalt einen Brief geschrieben und ein Gespräch erbeten“, sagte Geschäftsführer Joachim Bovelet. Unverständnis äußerte er über die Höhe der Summe, die Heinisch fordert, damit der Fall nicht erneut vor Gerichten ausgehandelt werde. Vivantes wurde zu einer Zahlung von 200.000 Euro netto aufgefordert, was laut Bovelet brutto 350.000 Euro bedeutet.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte am 21. Juli 2011 entschieden, dass Heinisch 2005 nicht hätte entlassen werden dürfen – die Altenpflegerin hatte unter anderem Pflegemängel bei Vivantes angezeigt. Beklagter war in diesem Fall jedoch nicht Vivantes, sondern die Bundesrepublik Deutschland. Die Straßburger Richter urteilten in Sachen „Meinungsfreiheit“, andere Entlassungsgründe wurden nicht berücksichtigt. Vivantes hatte insgesamt drei Kündigungen ausgesprochen, auch wegen hoher, krankheitsbedingter Fehlzeiten.
Das EU-Urteil hilft sogenannten Whistleblowern (Tippgebern, Flüsterern), also Menschen, die Missstände im Unternehmen anprangern. Bei gerichtlichen Auseinandersetzungen können sie in Deutschland künftig stärker als zuvor auf richterlichen Schutz hoffen.
Auch Heinisch hatte Missstände bei ihrem Arbeitgeber öffentlich gemacht. Sie appellierte an Vorgesetzte, die prekären Zustände für Mitarbeiter und Heimbewohner zu verbessern, schaltete MDK-Kontrolleure ein, die ebenso eklatante Mängel feststellten. Die Altenpflegerin fand, dass zu wenig passierte, sie stellte Strafanzeige wegen Pflegebetrugs, woraufhin Vivantes die fristlose, verhaltensbedingte Kündigung aussprach.
Im Rechtsstreit urteilte das Landesarbeitsgericht zugunsten Vivantes. Nach dem EU-Urteil werteten Juristen die Entscheidung als „Ohrfeige“ für Berliner Richter. Heinisch fordert Wiedergutmachung. „Das Urteil muss revidiert werden“, sagte Heinisch. In der kommenden Woche laufe die Einspruchsfrist für die Bundesregierung aus, danach will die Altenpflegerin das Wiederaufnahmeverfahren anstreben. Sie sei über Mobbing, Stress und Arbeitsüberlastung erwerbsunfähig geworden. „Mir ist klar, dass die geforderte Summe sehr hoch ist“, sagte Heinisch. Die 350.000 Euro brutto hätten aber auch symbolischen Charakter. „Unternehmen reagieren erst, wenn es ihnen finanziell richtig wehtut“, sagt sie. An einer Wiedereinstellung sei sie nicht mehr interessiert.
Brigitte Heinisch wird erneut von Benedikt Hopmann vertreten. Der Berliner Jurist gilt als „Anwalt der Schwachen“, er vertrat auch die Kassiererin „Emmely“ vor Gericht, die wegen Pfandbons gekündigt wurde. Seine Kanzlei wollte sich am Dienstag allerdings nicht äußern, da Hopmann im Urlaub weile und nicht erreichbar sei.