Geheimdokumente

Wikileaks und die peinlichen Diplomaten-Dossiers

| Lesedauer: 4 Minuten
Dietrich Alexander

Die Internetplattform Wikileaks will am Abend Hunderttausende Geheimdokumente ins Netz stellen. Darunter sollen peinliche bis entlarvende Depeschen von US-Diplomaten über die Politiker ihrer jeweiligen Gastländer sein.

Das politische Erdbeben kündigt sich mit heftigen Warnstößen an: Die britische Regierung gibt vorsorglich eine "DA-Notice" (Defence Advisory Notice) heraus. Das tut sie selten, denn es ist eigentlich ziemlich undemokratisch und widerspricht dem Grundsatz der gerade bei den Briten so sakrosankten Meinungs- und Pressefreiheit.

Die "DA-Notice" ist nämlich nichts Geringeres als die Bitte einer Informationssperre wegen Gefährdung der nationalen Sicherheit, nicht bindend, aber dringlich. Nicht islamistische Terroristen, kein rebellierender Mob gegen die Sparmaßnahmen der Regierung von David Cameron und auch nicht ein möglicherweise bevorstehender wirtschaftlicher Kollaps ist Grund für Londons medienpolitische Notbremse. Sondern das berühmt-berüchtigte Enthüllungsportal Wikileaks.

Entlarvende Depeschen

Hunderttausende Geheimdokumente will das Internetportal diesmal ins Netz stellen, peinliche bis entlarvende Depeschen US-amerikanischer Diplomaten über die Politikerelite ihrer jeweiligen Gastländer sollen darunter sein, sehr persönliche Einschätzungen, verletzend bis diskriminierend. Das US State Department ist in heller Aufruhr und seit Tagen mit diplomatischer Begrenzung des politischen Flurschadens beschäftigt. US-Außenministerin Hillary Rodham Clinton telefoniert sich sozusagen präventiv die Finder wund. Ihren chinesischen Amtskollegen Yang Jiechi hat sie bereits vorgewarnt, wie Außenamtssprecher P.J. Crowley bestätigte, der sogleich anfügte, die angekündigte Veröffentlichung diplomatischer Depeschen sei "unverantwortlich". "Die typischen Mitteilungen beschreiben Zusammenfassungen von Treffen, Analysen von Ereignissen in anderen Ländern und Protokolle vertraulicher Gespräche mit Mitgliedern anderer Regierungen", sagte Crowley. Damit aber würden "Leben und Interessen" der USA aufs Spiel gesetzt. US-Diplomaten seien damit beschäftigt, Regierungen auf der ganzen Welt auf die Veröffentlichungen vorzubereiten, ganz besonders in Großbritannien, Kanada, Australien, Israel, Dänemark, in der Türkei, im Irak und in Norwegen.

Auch deutsche Politiker werden sich womöglich mit der ungeschminkten Einschätzung ihrer Person durch US-Botschaftsangehörige bis weit in das Jahr 2009 hinein auseinandersetzen müssen: Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg Top, Außenminister Guido Westerwelle Flop. Die israelische Zeitung "Ha'aretz" spekuliert bereits über unangenehme Wahrheiten zum Nahost-Friedensprozess, und auch in der Türkei ist man nervös: Verbindungen von staatlichen Stellen zum islamistischen Terrornetzwerk al-Qaida stehen womöglich vor der Aufdeckung. Dazu peinliche Einschätzungen hoher türkischer Politiker durch US-Diplomaten. US-Generalstabschef Mike Mullen warnte Wikileaks davor, weitere geheime Dokumente zu veröffentlichen. Dies sei "extrem gefährlich", sagte Mullen dem US-Fernsehsender CNN. Er hoffe, dass die Verantwortlichen bei Wikileaks an einen Punkt kämen, an dem sie über ihre Verantwortung für das Leben anderer nachdächten, die sie in Gefahr brächten.

Tatsächlich muss die Frage erlaubt sein: Cui bono, wem nützt das? Anders als bei den im Juli von Wikileaks veröffentlichten 75 000 Geheimpapieren über den Krieg in Afghanistan oder den im Oktober enthüllten rund 400 000 klassifizierten Unterlagen des Pentagons zum Irak-Krieg ist beim neuen Scoop kaum Nutzen, aber erheblicher Schaden zu erkennen. Es scheint, dass Wikileaks-Gründer Julien Assange seinem Privatkrieg mit der Weltmacht frönt und wirkliche Aufklärungsarbeit und Transparenz in den Hintergrund zu geraten droht. Welcher Politiker wird fortan noch offen mit seinen US-Kollegen reden? Wie soll man künftig noch vertrauensvoll miteinander umgehen?

Zerstörerische Kraft

Die neueste Volte von Wikileaks birgt enorme zerstörerische Kraft. Sie grenzt an Geheimnisverrat und ist geeignet, das Vertrauen diverser Staaten zu den USA über Jahre hinweg zu unterminieren. Ein Großteil des Materials legt ganz normales diplomatisches Geschäft offen, zuweilen banale, aber sehr persönliche Einschätzungen von Präsidenten und Ministern, wie jeder Diplomat sie in sein Heimatministerium sendet. Sie öffentlich zu machen sät Misstrauen, Enttäuschung und bringt womöglich Menschen tatsächlich in Gefahr - etwa, wenn es sich um geheimdienstliche Erkenntnisse bei befreundeten Staaten handeln sollte.

Die Dokumente sollen http://wikileaks.org veröffentlicht werden.