Auf der Fensterbank standen die Namensschilder der Erstklässler. Mona Stelzner hatte sich am ersten Tag nach den Sommerferien einen gewagten Test erlaubt. Wer würde wohl erkennen, aus welchen ominösen Strichen und Schwüngen sich sein Name zusammensetzt? „Schon in dieser Situation überraschten mich die Kinder“, sagt die junge Lehrerin. Von elf hatten zwei Probleme, ihr Namensschild zu finden. Da sprangen einige Zweitklässler auf, um zu helfen. Ohne sie wären wohl Tränen geflossen.
Es ist dies nur eine Episode aus dem Alltag der Grund- und Gemeinschaftsschule Fockbek in Schleswig-Holstein. Vor dreieinhalb Jahren begann Mona Stelzner dort als erste Lehrerin mit jahrgangsübergreifendem Unterricht. Die erste und zweite sowie in die dritte und vierte Klasse werden gemeinsam unterrichtet. Eine enorme Herausforderung für die heute 30-Jährige: „An der Uni lernt man das nicht, auch nicht im Referendariat. Es gibt kaum Lehrmaterial. Alles ist Learning by Doing.“ Vor die Klasse stellen, an die Tafel schreiben, Zeigefinger heben, Stelzner hat es probiert – und wurde belehrt.
Das, was gemeinhin Unterricht genannt wird, funktioniert in den Doppelklassen nicht. Die Arbeit für die Lehrer vervielfacht sich. Stelzner muss verschiedene Mappen vorbereiten, mit denen die Schüler arbeiten – jeder nach seinem Leistungsstand, jeder nach seinem Tempo. Sie muss Spiele entwickeln, die alle einbeziehen, Workshops gestalten, Gruppenarbeit einführen. „Ich bin Lernberater, der Unterricht ist natürlich wuseliger, es ist ein geselliges Treiben, bei dem die Schüler in sozialer und fachlicher Hinsicht voneinander lernen.“
In Fockbek entschied sich die Schulleitung freiwillig, hoch motiviert für diesen Unterricht. Die Freiheit der Wahl werden in Zukunft immer weniger Schulen haben. Jahrgangsübergreifendes Lernen wird zunehmen, erzwungen durch den demografischen Wandel.
Lange war der Rückgang der Schülerzahlen nur Prognose oder ein Phänomen, das der Westen Deutschlands im Osten beobachtete und doch nicht so ernst nahm. „Doch nun schlägt die Demografie mit aller Brutalität auf die Schulen durch“, sagte der Chef der Kultusministerkonferenz, Bayerns Ressortchef Ludwig Spaenle (CSU), am Donnerstag bei der Vorstellung des Berichts „Bildung in Deutschland“ in Berlin.
Die Wissenschaftler haben im Abschnitt zur Demografie nur 15 Jahre in die Zukunft geblickt – und können dennoch zeigen, in welchem Ausmaß sich die Schulen neu organisieren müssen, etwa durch die Einführung von übergreifenden Klassen: An allgemeinbildenden Schulen wird die Zahl der Jungen und Mädchen von neun Millionen im Jahr 2008 auf 7,3 Millionen (2025) zurückgehen. Die Schülerzahl sinkt also um fast ein Fünftel deutschlandweit. Im Westen Deutschlands ist die Entwicklung drastischer, als im Osten. Dort schlägt der Kindermangel bereits seit den 90er-Jahren auf das Bildungssystem durch.
Allerdings: Seit Jahren steigt die Zahl der Kinder, die weiterführende Schulen besuchen. Die Politik will darin einen Erfolg sehen. Mancherorts wechseln aber nur noch 20 Prozent eines Jahrgangs auf die Hauptschule. Doch, was wird bei insgesamt sinkenden Schülerzahlen aus denen, die zurückbleiben?
„Wir halten den Betrieb so lange aufrecht, wie es geht, aber irgendwann gibt es unsere Hauptschule nicht mehr“, sagt Brigitte Hilker, Schulleiterin der Langhansschule in Beilstein bei Heilbronn. Die Kinder müssten dann weite Wege auf sich nehmen oder einen anderen Schultyp besuchen. 43 Schülerinnern und Schüler haben sich in diesem Sommer an der Grundschule angemeldet. „Wir hatten noch nie so wenige“, sagt Hilker. „Aber es sieht nicht so aus, als würden es noch einmal mehr werden“. Bisher lag der Schnitt bei 60 Schülern, vor 20 Jahren waren es weit über 70.
Noch nicht in der Grundschule, aber in der angegliederten Hauptschule findet bereits jahrgangsübergreifender Unterricht statt. Sechs Kinder haben sich entschieden, im kommenden Schuljahr die fünfte Klasse zu besuchen, sie werden dann mit 13 Sechstklässlern gemeinsam unterrichtet. Wären es nur vier Mädchen und Jungs weniger, wäre selbst das nicht möglich, erklärt die Schulleiterin. „Die Untergrenze für das Modell liegt bei 16 Schülern. Irgendwann werden wir die unterschreiten. Dann ist es vorbei mit der Hauptschule in Beilstein.“
Baden-Württemberg hat bereits reagiert und im vergangenen Jahr entschieden, Hauptschulen in sogenannte Werkrealschulen umzuwandeln. Der Lehrplan ist der gleiche, hauptsächlich das Etikett hat sich geändert; eine Abkehr von der Hauptschule, die alle Bundesländer derzeit auf unterschiedlichste Weise vollziehen.
Die Länder wollen sparen, kleinere Schulen schließen, die ungeliebte Hauptschule trifft es als erste. Auch um den Prozess zu beschleunigen und der skeptischen Bevölkerung als unausweichlich darzustellen, setzen Länder wie Baden-Württemberg die Hauptschule dem Druck neuer Schultypen aus. Den Titel Werkrealschule bekommen nämlich nur Hauptschulen, die mindestens zwei Klassen pro Stufe parallel einrichten. Kleine Schulen wie in Beilstein können das nicht. „Die Eltern schicken ihre Kinder auf die Werkrealschule, weil das besser klingt“, klagt die Schulleiterin. Außerdem misstrauten manche dem jahrgangsübergreifendem Lernen.
Viele Ältere beschleicht der Gedanke an die eigene Schulzeit, als es auf dem Land oder in Kleinstädten üblich war, dass zwei, drei, vier Klassen zusammengefasst wurden und ein Hauptlehrer die Kinderschar mit Stock und einer Menge Aufgaben unter Kontrolle hielt. „Die Schule von heute ist aber mit der Schule von damals in keinster Weise vergleichbar“, sagt Elmar Walter, Schulleiter der Grund- und Hauptschule im fränkischen Iphofen.
Der 58-Jährige hat es selbst noch erlebt, das Lernen in riesigen Verbünden. Tatsächlich hat sich die Lage heute verkehrt: Die jahrgangsübergreifenden Klassen bilden die kleinsten Einheiten im System. In Iphofen besuchen im nächsten Schuljahr 55 Schüler die erste und zweite Jahrgangsstufe.
Im herkömmlichen System würden daraus nach bayerischem Gesetz zwei große Klassen gebildet. Wird jahrgangsübergreifend gelernt, soll die Schülerzahl einer Klasse der Vorschrift nach nicht über 25 liegen. Also wird es drei kleine Klassen geben. „Dadurch hat der Lehrer viel mehr Möglichkeiten, individuell auf die Schüler einzugehen“, sagt Walter. Außerdem gebe es von Seiten des Schulamts noch zusätzliche Lehrerstunden für die Jami-Kinder, Jami für „jahrgangsgemischt“. „Das ist die bessere Lernform“, resümiert Walter.
Viele Eltern sehen das anders. Eine öffentliche Stadtratssitzung im Mai endete sogar in einer Abstimmung, bei der sich der Rat – der in der Sache gar nichts entscheiden kann – einstimmig gegen die Jami-Klassen aussprach. Dabei meint der Schulleiter, alle Argumente der Eltern entkräften zu können: Weder sind aus den Jami-Klassen weniger Kinder aufs Gymnasium übergetreten als zuvor, noch müssen mehr Kinder sie wiederholen; das wird durch wissenschaftliche Studien belegt. „Im Gegenteil hat das System für die Schwächeren den Vorteil, dass sie bei einer Wiederholung der ersten Klasse im gleichen Klassenverband bleiben. Bei einem Leistungsschub können sie in die dritte Klasse wechseln“, erläutert Walter.
Doch manche Argumente verhallen im Iphofener Schulstreit. In Bildungsdingen dominieren hier wie überall Emotionen. Workshops? Das sei nichts für Kinder, die bräuchten Regeln, Ordnung, stabile Klassenverbände. „Alles subjektiv“, sagt Walter. Gerade in Jami-Klassen seien eine gut durchdachte Organisation sowie ein klarer Ordnungsrahmen notwendig. „Die Kinder fühlen sich wohl, die Lehrkräfte arbeiten hervorragend im Team zusammen. Wir bleiben bei dem System“, sagt er trotzig. Bald, so weiß Walter, würden die Schüler in Iphofen ebenso wie anderswo weniger. „Dann sind wir den anderen bereits ein gutes Stück voraus.“