Eigentlich hatte Marie-Rose Zacher schon allerlei Pläne für ihre Pensionärszeit geschmiedet. Doch obwohl die 65-Jährige offiziell seit Sommer 2009 im Ruhestand ist, hat sie heute mehr zu tun denn je. In letzter Minute sei sie im vergangenen August als Schulleiterin bei der neu gegründeten, evangelischen Grundschule Berlin-Friedrichshagen eingesprungen, erzählt die Pädagogin gut gelaunt. „Natürlich habe ich damals mein Herz in die Hand nehmen müssen, weil die Freiheit winkte“, erinnert sich Zacher. „Aber bislang habe ich diese Entscheidung noch in keiner Minute bedauert.“
Ihre neue Beschäftigung hat die engagierte Frau, die bis zu ihrer Pensionierung bereits 20 Jahre als Schulleiterin einer evangelischen Schule in Berlin-Steglitz gearbeitet hat, der Tatkraft einer Handvoll Eltern zu verdanken. Die hatten schon länger – wie viele andere Eltern hierzulande – den Wunsch, ihren Kindern eine Schulbildung zu ermöglichen, die über das Angebot der staatlichen Bildungseinrichtungen hinausgeht.
In einem Gottesdienst im Februar 2008 schließlich fassten die engagierten Christen den Entschluss, eine evangelische Grundschule in Friedrichshagen zu gründen – in der laut Vereinssatzung allem voran das „christliche Bildungsverständnis in allen Bereichen des Schullebens und der Schulkultur präsent“ sein sollte.
Etliche bürokratische Klippen waren zu überwinden, bis im September 2009 die ersten 31 i-Dötze ihre Schulbänke in Beschlag nehmen konnten. Die Initiatoren mussten Geld auftreiben, Lehrer finden und eine alte Gießerei zu Schulzwecken umbauen – ein Prozess, der viel Zeit und Energie schluckte. Doch all das habe sich gelohnt, ist Schulleiterin Zacher überzeugt: Die Lernatmosphäre an der Schule sei stimmig, die Kinder inspiriert, die Elternschaft höchst engagiert. „Das ist schon sehr erfüllend.“
Private Schulgründungen wie die in dem fast schon ländlich anmutenden Stadtteil am Rande Berlins sind heutzutage kein Ausnahme mehr. Zunehmend viele Eltern nehmen die Ausbildung ihrer Kinder lieber in die eigenen Hände, als sie dem Staat zu überlassen.
Das spiegelt sich auch in einer neuen Studie des Versicherungskonzerns Allianz wider, die auf einer repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa basiert und die der „Welt am Sonntag“ vorliegt. Demzufolge gehen 80 Prozent der Deutschen davon aus, dass die Verantwortung für die Ausbildung ihrer Kinder allem voran in ihren eigenen Händen liegt.
Und obwohl zwei Drittel (65 Prozent) der Befragten im Grunde vom Staat erwarten, dass er Vorkehrungen für die Ausbildung ihrer Kinder trifft, hält nicht einmal jeder fünfte Befragte den Staat in der Schulausbildung noch für mustergültig.
Was auf den ersten Blick wie ein Armutszeugnis für das Land der Dichter und Denker aussieht, das sich über Jahrzehnte für sein erstklassiges Bildungssystem rühmte, ist Soziologen zufolge eine natürliche Reaktion von Menschen, die gravierende Ängste vor Statusverlust hegen. Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sei vor allem bei der deutschen Mittelschicht seit Jahren eine „Statusnervosität“ zu beobachten, sagt Berthold Vogel vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Mit Blick darauf sei die gestiegene Investitionsbereitschaft in außerstaatliche Bildungsangebote ein natürlicher Reflex: „Nach dem Motto: Abstiegsängste bekämpft man am besten, indem man in die Ausbildung der Kinder investiert.“
Ein Übriges dürften die schlechten Ergebnisse, die Deutschland bei der Pisa-Studie der OECD einfuhr, tun. Sie haben die Zweifel der Bürger am hiesigen Bildungssystem nachhaltig verstärkt. Nicht umsonst ist die Zahl der Privatschüler zwischen 1987 und 2007 im Westen um 21 Prozent gestiegen und hat sich im Osten gar verdreifacht.
Auch die Nachfrage nach Nachhilfe boomt wie nie zuvor: Einer Studie der Bertelsmann-Stiftung zufolge geben deutsche Eltern 1,5 Milliarden Euro pro Jahr für die außerschulische Förderung ihrer Kinder aus. Sozialwissenschaftler Vogel wertet diese Tatsache nicht zuletzt als deutliches Zeichen dafür, dass „in der Mittelschicht noch immer ein erheblicher Wohlstand vorhanden ist“. Und dieses Geld investierten die Eltern – dem allgemeinen Trend zur Individualisierung entsprechend – eben am liebsten „ins eigene Hemd“.
Dass die Deutschen sich in puncto Verantwortungsübernahme oftmals selbst die Nächsten sind, legt auch die Forsa-Umfrage nahe: Ihr zufolge sehen fast drei Viertel der Bevölkerung (74 Prozent) vor allem sich selbst in der Pflicht, wenn es darum geht, die Pflege von Familienangehörigen in die Hand zu nehmen. Und auch beim Erhalt der eigenen Gesundheit sehen 71 Prozent der Menschen den Einzelnen als treibende Kraft. Für den Klimaschutz – deutlich weiter vom persönlichen Betroffenheitsradius entfernt – sieht sich dagegen nur jeder zweite Deutsche zuständig.
„Je konkreter die Herausforderungen die alltäglichen Lebensumstände betreffen, desto eher sind die Deutschen bereit, Verantwortung zu übernehmen“, folgern die Allianz-Experten. Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass die Bürger die Verantwortung umso stärker an den Staat delegieren, je abstrakter der Wirkungszusammenhang ist. „Die Menschen wissen ganz genau, was sie leisten können und was nicht“, sagt Gerd G. Wagner, Ökonomieprofessor an der Technischen Universität Berlin und verantwortlich für das Sozioökonomische Panel (SOEP). Für die großen Fragen der Gesellschaft könne sich der Einzelne nun mal nicht in die Verantwortung nehmen lassen.
Obwohl es besonders leicht ist, bei Themen mit persönlichem Bezug selbst Verantwortung zu übernehmen, sehen ausgerechnet im Bereich der Altersvorsorge 67 Prozent der Bürger den Staat als denjenigen, der den größten Beitrag zur Lösung des Problems leisten kann. Und das trotz Expertenprognosen, denen zufolge Rentner im Jahr 2040 nur noch maximal 40 Prozent ihres letzten Bruttogehalts als Grundversorgung erwarten können.
Gerd Langguth, Politikprofessor an der Universität Bonn, wertet das als Indiz dafür, dass die Deutschen noch immer nicht verstanden hätten, was der Generationenvertrag wirklich bedeutet. „Weil sie jahrelang in die Kasse eingezahlt haben, meinen viele fälschlicherweise, sie bekämen das Angesparte anschließend wieder ausgezahlt“, sagt Langguth. Umso wichtiger sei es, dass die Politik den Bürgern mit Blick auf die Rentenlücke endlich reinen Wein einschenke – „auch wenn keine Regierung das Unschöne verkünden will“.
Axel Börsch-Supan, Direktor des Mannheimer Forschungsinstituts Ökonomie und demografischer Wandel, hält ebenfalls mehr Aufklärung in dieser Angelegenheit für notwendig. Er verweist allerdings auch auf einen Bewusstseinswandel der Deutschen. Heute wisse praktisch jedermann, dass die Renten knapper würden, sagt Börsch-Supan. Die Abdeckung durch die zusätzliche Riester-Rente etwa liege bereits bei mehr als 70 Prozent. Hinzu kämen die Betriebsrenten, die vielen Menschen zusätzliche Absicherung böten.
Obwohl man erwarten würde, dass Ostdeutsche aufgrund ihrer Sozialisation eher dazu neigen könnten, den Staat in die Pflicht zu nehmen als die Menschen in Westdeutschland, ist in dieser Angelegenheit die einstige innerdeutsche Grenze verschwunden: In puncto Verantwortung empfinden die Menschen in beiden Teilen des Landes heute praktisch gleich. Tatsächlich ist die Bereitschaft, Eigenverantwortung zu übernehmen, im Westen nicht größer ausgeprägt als im Osten Deutschlands.
Größer ist dagegen der Graben zwischen Alt und Jung. So sehen sich besonders junge Leute, die von den Zukunftsthemen wie dem Klimawandel am meisten betroffen sein werden, am wenigsten in der Verantwortung, sich für deren Lösung einzusetzen. Nur 32 Prozent der jungen Leute zwischen 14 und 29 Jahren halten sich zugute, aktiv etwas für den Klimaschutz zu tun. Bei den über 50-Jährigen sind es immerhin 61 Prozent.