Verkehr

Die Tschechen sind Europas Autobahn-Rambos

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Hans-Jörg Schmidt

Foto: Ralf Hennemann / Okapia

In Tschechien sterben doppelt so viele Menschen bei Verkehrsunfällen wie in anderen EU-Staaten. Kein Wunder: Rasen und Drängeln ist auf tschechischen Straßen absolut salonfähig. Verkehrskontrollen sind selten und die Strafen sind lax. Ändern wird sich das kaum: Denn auch die Politiker drücken gern aufs Gas.

Ein beliebiger Sonntagabend in Tschechien: Das halbe Land fährt vom Wochenendgrundstück wieder heimwärts Richtung Prag. Das Wort "fahren" trifft aber nur auf geschätzt 30 Prozent der Pkw-Lenker zu. Der große Rest rast. Wer auf der Autobahn das Tempolimit 130 einhält, ist ein einziges Verkehrshindernis.

Der Nachfolgende fährt ungerührt auf, so dicht es irgend geht, betätigt gern Hupe und Lichthupe gleichzeitig. Überholt er dann, schickt er dem lahmen Deppen, hinter dem er hatte herschleichen müssen, wütende Blicke rüber. Wenn er nicht gerade mit dem Handy dienstliche Verabredungen für den nächsten Tag trifft. In der Hauptstadt selbst wird keineswegs abgebremst: allein im Mai dieses Jahres wurde an den Messstellen mehr als 1,2 Millionen Mal die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten.


Tschechiens Autobahnen und Landstraßen sind ein gefährliches Pflaster. Die Zahl der Verkehrstoten liegt doppelt so hoch wie in vergleichbaren Ländern wie der Schweiz, den Niederlanden oder Schweden. Nur Portugiesen und Griechen, sagt eine EU-Statistik, fahren noch schlechter.


Während fast überall in Europa trotz erhöhten Verkehrsaufkommens die Zahl der tödlichen Unfälle sinkt, kann davon in Tschechien keine Rede sein. Die Regierung will das ändern, die Zahl der Verkehrstoten bis 2010 halbieren. Doch Verkehrspsychologen winken nur mitleidig lächelnd ab, wenn die Sprache auf die "Nationale Strategie für die Sicherheit im Straßenverkehr" kommt. Diese Strategie werde wie viele andere vor ihr an der Mentalität der tschechischen Autofahrer scheitern.

Wer deutsche Autos abhängt, ist der Held

Das Grundübel: Die meisten Verkehrsrowdys geben zu, dass sie sich nicht an die Regeln halten – aber es kümmert sie nicht. Rambomanieren auf der Straße sind absolut gesellschaftsfähig. Wer am Montag bei der Arbeit erzählen kann, wie er wieder unter dem Radar hindurch geflogen ist, kann sich allgemeiner Anerkennung sicher sein. Wenn er zudem zu berichten weiß, dass er selbst schwere deutsche Limousinen wie nichts abgehängt hat, ist er der Held an sich.

Jan Weinberger und Karel Schmeidler vom Zentrum für Verkehrsforschung in Brünn haben darüber bereits Anfang der 1990er Jahre in eine Studie geschrieben. Mit dem Abstand von 15 Jahren sagen sie: "Der Trend geht zu immer schlimmerem Rasen und zu völliger Rücksichtslosigkeit."


Nur kurzzeitig, nach der Einführung einer Strafsünderkartei nach Flensburger Muster vor zwei Jahren, besserte sich das Verhalten der Autofahrer. Die Polizei begleitete die Aktion mit massiven Kontrollen. Doch dabei übertrieb sie gleich wieder. Schon für gemessene 53 km/h auf einer 50er-Strecke wurde man finanziell kräftig abgestraft und mit Punkten belegt. Sofort stieg die Autofahrerlobby aufs Gas und beschwerte sich lautstark bei der Politik. Der Strafenkatalog sei "aufgezwungen", "fehlerhaft", "absurd" und "ungerecht". Er könne "schlichtweg nicht ernst genommen" werden.

Die größten Raser sitzen im Parlament

Die Politiker ließen sich nicht lange bitten. Im tschechischen Parlament wie in der Regierung sitzen selbst die größten Rowdys. Keine Woche vergeht, da nicht Politiker von Zeitungsredaktionen bei Verkehrsübertretungen ertappt werden. Premier Mirek Topolanek fuhr jüngst auf der Autobahn Prag-Brünn statt erlaubter 130 km/h mit Tempo 200. Er redete sich mit einem "wichtigen Termin" heraus. Topolanek war auf dem Weg zu einem Fußball-EM-Gruppenspiel seiner Tschechen in der Schweiz.

Das Parlament hat mittlerweile dem Druck der Autolobby nachgegeben und die Punkteregelung verwässert. Immer wieder gibt es dort auch Anläufe – völlig gegen den europäischen Trend – die zulässige Höchstgeschwindigkeit zu erhöhen, von 130 auf 160 km/h. Doch weder der schlechte Zustand der meisten Autobahnen noch die Fahrkünste vieler Tschechen rechtfertigen das.

"40 Prozent der Autofahrer müssen als unerfahren eingestuft werden. Sie fahren im Jahr weniger als 5 000 Kilometer", sagen die Verkehrsexperten Weinberger und Schmeidler. Vor allem junge Autofahrer würden sich immer wieder überschätzen. "Obwohl die Unfallhäufigkeit die in der EU deutlich überschreitet, verdrängen tschechische Autofahrer die Möglichkeit, dass sie auch selbst betroffen werden könnten. Ich doch nicht, lautet die allgemeine Überzeugung." Auch von saftigen Strafen lassen sich die wenigsten abschrecken. Die schlimmsten Autofahrer gehören der Statistik nach zu den Besserverdienenden. Die zahlen die Geldbußen grinsend und rasen weiter.

In Deutschland fahren selbst Tschechen langsam

Die allgemeine Raserei hat auch eine neue Spezies von Autofahrern hervorgebracht – diejenigen, die meinen, Hilfspolizei spielen zu müssen. Autofahrer etwa, die gezielt aus einer Kolonne ausscheren, um heranfliegende Raser auf der linken Spur auszubremsen. Gern verhindern die Hilfssheriffs auch das Funktionieren des Reißverschlussprinzips vor Einengungen.

Wer freilich meint, das Rowdytum stecke den tschechischen Autofahrern unausrottbar in den Genen, der irrt sich. Die können nämlich auch ganz anders. Auf deutschen Straßen fahren Tschechen vorbildlich, achten strikt auf die Tachonadel, halten sich an das Rechtsfahrgebot und betätigen beim Spurwechsel sogar den Blinker, was ihnen auf einheimischen Straßen nie auch nur im Traum einfallen würde. Der Grund liegt auf der Hand: Euros sind knapp und einfach zu wertvoll, um sie bei einer deutschen Verkehrskontrolle zu löhnen.