Erst zündete er die Bombe, dann schoss der Täter in einem Ferienlager um sich. Einige Überlebende sagen, er habe dabei Hilfe von einem zweiten Schützen gehabt.

Am Tag nach dem Anschlag ist in Oslo zu besichtigen, wie sich ein Land verändert. Bewaffnete Soldaten patrouillieren rund um das Schloss, das Außenministerium und das Parlament, das Stortinget. Sie tragen Maschinenpistolen und bewachen Regierungsgebäude. Alle Geschäfte und Einkaufszentren sind geschlossen, das gesamte Areal rund um das angegriffene Regierungsviertel ist mit gelb-schwarzem Flatterband abgesperrt. Polizeihubschrauber kreisen wie angriffslustige Libellen über die verträumte Fjordstadt Oslo.

Viele Passanten fotografieren die neuralgischen Punkte, die vor zwei Tagen noch das menschenleere, sommermüde Viertel prägten, das nun eine Art 11. September für Norwegen wird – ausgerechnet in einem Land, in dem die wichtigste Zeitung „Aftenposten“ noch am Montag „Wir baden im Wohlstand“ titelte. Das Land verkauft sein Öl für viel Geld nach China, und wegen der Griechenland-Krise profitiert man auch noch von den niedrigen Zinsen.

Innerhalb von zwei Stunden wurde das vermeintliche Paradies am Freitagnachmittag so kräftig erschüttert, dass die Zeitung „VG“ schon den Vergleich zum 9. April 1940 zog – damals überfiel die Wehrmacht Norwegen und besetzte das Land fünf Jahre lang. Bei der heftigen Explosion im Regierungsviertel zerplatzten Tausende Scheiben im Umkreis von mehreren Hundert Metern; eine Stunde später wütete der Attentäter auf der Insel Utoya, eine Stunde von Oslo entfernt, und tötete mehr als 80 Kinder und Jugendliche.

Im Mai kaufte er sechs Tonnen Dünger

Der Vergleich mit dem Kriegsbeginn wirkt überzogen, doch am Freitagabend war noch nicht klar, wer wirklich hinter den Angriffen auf das Regierungsviertel und das Zeltlager stand. Es war offensichtlich ein einziger Mann, der das Massaker angerichtet hat. Hinter ihm steht wohl keine Organisation, keine Armee, keine Helfer. Anders B. , 32, beschloss ganz alleine, eine Autobombe im Regierungsviertel hochgehen zu lassen und zielgerichtet Jugendliche in einem Zeltlager zu erschießen.

Seit seiner Festnahme am Freitagabend wird er verhört. Bis jetzt sagt er kein einziges Wort. Norwegische Reporter haben zusammengetragen, was in den zwei schrecklichsten Stunden des Landes geschah – und was Anders B. über sich im Internet preisgegeben hat.

Im Frühling 2009 gründete der Einzelgänger eine Ein-Mann-Firma in Hedmark, angeblich, um verschiedene Gemüsesorten und Früchte anzubauen. Damit hatte er Zugriff auf Düngemittel – einen Rohstoff für selbst gebastelte Bomben. Er wohnte trotz der Hedmarker Meldeadresse weiter in Rana, östlich von Lillehammer.

Seine Nachbarn beschreiben ihn als unauffällig und freundlich. Er habe einen Zaun um sein Grundstück gezogen, erinnern sich Anne und Ragnar Pedersen, aber ums Rasenmähen oder um Gartenarbeit habe er sich nie gekümmert.

Am 4. Mai 2011 kaufte Anders B. bei einer Handelsgesellschaft sechs Tonnen Dünger. Die Pedersens registrierten, wie ihr Nachbar den Dünger gleich in seine Garage verfrachtete. „Sinnvoll wäre, wenn man es draußen lagern würde, um es gleich zu benutzen“, dachte Anne Pedersen noch.

Explosion in Oslo

Mehr als zwei Monate später, am 22. Juli, blickt ein Mann um 15.24 Uhr aus seinem Bürofenster in der Osloer Innenstadt. Ihm fällt ein Polizist auf, der ein Auto vor dem Energieministerium abstellt und dann langsam weggeht. Der Zeuge überlegt noch, dass es ungewöhnlich sei, einen einzelnen Polizisten zu sehen, denn in Norwegen treten die Schutzleute grundsätzlich zu zweit auf.

Um 15.26 Uhr zerreißt eine Explosion die sommerliche Stille der Stadt. Fensterscheiben bersten, infernalischer Schwefelgeruch breitet sich aus, Menschen schreien, rennen, flüchten aus dem plötzlichen Chaos. Aus den teilweise zerstörten Gebäuden drängen immer mehr Angestellte, die durch Trümmer und Scherben aus dem Viertel fliehen. Sie sehen blutverschmierte Verletzte, die von Glasscherben getroffen wurden, Menschen, die sich vor Schmerzen krümmen. Die Ambulanzen bringen 14 Verletzte in die Krankenhäuser, sieben Menschen sterben.

Der Polizeichef Jonas Sponheim fordert die Osloer auf, zu Hause zu bleiben, das Zentrum der Hauptstadt zu verlassen und alle Reisen zu verschieben. Ministerpräsident Jens Stoltenberg und die Königsfamilie werden an geheime Orte gebracht und streng bewacht. Die belebteste Einkaufsstraße, die Karl-Johan-Gate, ist am Freitagabend menschenleer. Das sonst pulsierende Oslo verwandelt sich in eine Geisterstadt.

Der Weg nach Utoya

Während das Land noch rätselt, wer die Bombe hochgehen ließ, macht sich B. auf den Weg nach Utoya. Von Oslo bis zum Anleger sind es 30,6 Kilometer. Er setzt sich in einen silbergrauen Lieferwagen, fährt auf die E18 bis Sandvika, dann wechselt er auf die E16, die er kurz vor dem Nestunnel verlässt, um die letzten Kilometer auf der Straße Utstranda zum Kai zu fahren.

Die Insel Utoya ist etwa 600 Meter vom Festland entfernt. Dort zelten 600 Jugendliche der Jugendorganisation AUF, eines Ablegers der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Am Freitag haben sich besonders viele Besucher angemeldet, um die frühere Regierungschefin Gro Harlem Brundtland zu hören, die dort reden sollte.

Ein Wachmann setzt ihn über, ihm gegenüber gibt sich Anders B. als Polizist aus. Er trägt eine schusssichere Weste und zwei Waffen. Die Jugendlichen sind verunsichert, sie haben die Nachrichten im Internet und über Freunde verfolgt, sie fürchten um ihre Angehörigen.

"Er jubelte, während er die Leute erschoss"

B. ruft die Jugendlichen zusammen, Dutzende stehen im Halbkreis um ihn herum. Es ist etwa 16 Uhr – genau ist der Zeitpunkt noch nicht klar –, als B. seine Waffen zückt und die Jugendlichen exekutiert, einen nach dem anderem.

Sofort bricht Panik aus, die Jungsozialisten stieben auseinander, die Schüsse mischen sich mit Entsetzensschreien Hunderter junger Erwachsener. „Er jubelte, während er die Leute erschoss“, sagt Nicoline Bjerg Schie. Die 21-Jährige versteckt sich mehrere Stunden lang mit einem Dutzend weiterer Campbewohner in einer Felsspalte auf der Insel. Währenddessen hören sie die Schüsse und sehen ihre Freunde sterben, ohne etwas ausrichten zu können. „Wir haben seine Schritte mehrere Male genau über unserem Kopf gespürt“, erzählt Schie.

Khamshajniv Gunaratnam, 23, bloggte seine Erlebnisse kurz nach der Tat im Internet. Die junge Frau glaubte zunächst, dass es sich um einen Scherz handeln würde, und versteckte sich dann auf der Toilette. Zusammen mit anderen rannte sie in einem günstigen Moment aufs Wasser zu und schwamm von der Insel weg. „Sieh nicht zurück, sieh immer aufs Land und sag dir, dass das dein Ziel ist“, ruft hinter ihr jemand, während die Gruppe um ihr Leben schwimmt.

Nach einer halben Stunde erreicht die Spezialeinheit die Insel

Die Jugendlichen nutzen auch Internet-Dienste wie Facebook und Twitter, um Hilfe zu rufen. „Wir sitzen am Wasser. Ein Mann in Polizeiuniform schießt auf uns“, schreibt ein AUF-Mitglied auf Twitter. Ein Hilferuf wird per SMS von Utoya versandt: „Ruf mich nicht an. Ich verstecke mich. Verdammt, jetzt muss ich heulen.“ Jemand schreibt auf Facebook „Es gibt eine Schießerei auf Utoya, Ruf mich NICHT an. Die verstecken sich im Gebüsch. Die Polizei ist unterwegs.“

Doch es dauert noch eine halbe Stunde, bis seine Spezialeinheit die Insel erreicht. Eine unendlich lange Zeit, wenn jemand über automatische Waffen und viel Munition verfügt.

Adrian Pracon etwa überlebte wie viele andere durch einen simplen Trick: Er stellte sich tot. „Ich und zwei andere lagen auf dem Rücken und wir überlebten, weil so viele Körper um uns herum lagen“, sagt er. „Ich war vielleicht sieben Meter entfernt, als er schrie, dass er alle töten werde und alle sterben sollten. Er zielte auf mich mit der Pistole, aber schoss nicht“, erzählt Pracon. Dann sieht er, wie der Täter Jagd auf panische Jugendliche macht.

Pracon kann auch schildern, wie er als einer der Letzten dem Blutbad auf Utoya schwimmend entkommen kann. „Es fühlte sich an, als ob ich nicht richtig atmen konnte. Ich hatte viel Wasser geschluckt, und die Kleider, die ich nicht ausziehen konnte, zogen mich herunter“, sagt er. Bevor er das rettende Ufer erreicht, beginnt er zu zweifeln, ob er überleben wird. „Ich wusste nicht, ob ich es schaffen würde, ich war völlig fertig.“

Auch Marius Helander Røset, Mats Moen Kristiansen und Jostein Helsingeng sind unter den Überlebenden, die sich vor dem Killer verstecken konnten. Marius läuft mit den drei anderen in den Wald, als sie merken, was vor sich geht. „Das Erste, was der Täter machte, war, das erste Mädchen, das er sah, zu erschießen“, sagt Marius. Viele andere AUF-Mitglieder kommen in den Wald, in dem sich Marius versteckt. Nach 45 Minuten gibt einer Bescheid, dass sie jetzt losschwimmen könnten. „Aber ich habe es nicht geschafft“, sagt Marius. „Meine Kleidung war zu schwer.“

Also schwimmt er zurück an den Ort des Schreckens und versteckt sich in einer Grotte. „Der Täter stand ganz nah bei uns und warf Steine ins Wasser, um uns herauszulocken“, sagt Marius. Nach einer Stunde kommen zwei Angler vorbei, die ihnen zurufen, dass der Schütze gefasst worden sei.

Zeugen sahen zweiten Schützen

Die Zeugen von Utoya sagen aber auch, dass es noch einen zweiten Schützen gegeben haben muss. Das glaubt auch Marius Røset. „Ich bin ganz sicher, dass von zwei verschiedenen Stellen aus gleichzeitig geschossen wurde“, sagt er. Der zweite Mann war den Aussagen zufolge etwa 180 Zentimeter groß, hatte dichtes, dunkles Haar und sah nordisch aus. Er war mit einer Pistole und einem Gewehr bewaffnet.

„Ich bin absolut sicher, dass es zwei Personen waren, die geschossen haben“, sagt auch der 23-jährige Aleksander Stavdal. „Ich habe mich umgedreht, als ich weggelaufen bin“, sagt er. „Ich habe gesehen, wie die die Leute einfach abgeknallt haben. Wir dachten, unser Leben ist vorbei, während wir liefen. Viele riefen ihre Eltern zu Hause an, um sie ein letztes Mal zu sprechen“, sagt Aleksander.

Eine Sechzehnjährige, die anonym bleiben möchte, sagt, dass Anders B. immer geprüft habe, ob sein Opfer auch wirklich tot sei. „Ich sah, wie ein Junge auf dem Rücken lag. Er zitterte und hustete, bis die beiden ihn erschossen, bevor sie gingen.“

Auch Jorid Holstad Nordmelan, 20, konnte sich vor dem oder den Schützen verstecken. Anderthalb Stunden verkroch sie sich mit 20 bis 30 Leidensgenossen in einem Raum, den sie mit Matratzen verbarrikadierten. Plötzlich peitschten Schüsse gegen die Hütte. „Ich dachte nur: Jetzt muss ich sterben.“ Die Jugendlichen verstecken sich unter den Betten. „Die Tränen flossen mir über das Gesicht, als ich da lag“, sagt Nordmelan. „Da dachte, ich dass wir ja unter den Betten am sichersten sind, und bekam ein schlechtes Gewissen. Ich heulte umso mehr.“

Die AUF-Mitglieder blieben mucksmäuschenstill unter den Betten liegen, während die Schießerei weiterging. „Er schoss einfach ohne Pause. Er schoss nicht nur einmal, sondern acht bis zehnmal auf einen Menschen. Ich hörte hinterher, dass er seine Opfer nach einer Weile noch mal in den Kopf schoss, wenn sei noch nicht tot waren. Er war da, um zu töten“, sagt Nordmelan.

Mehr als 90 Menschen brachte Anders B. um, allein oder mit der Hilfe eines zweiten Täters. Schließlich überwältigte ihn ein Sondereinsatzkommando der Polizei – unverletzt.

Nordmelan will in ihrer Organisation weiterarbeiten. „Wir dürfen jetzt nicht aufhören, AUFler zu sein“, sagt sie. „Wir dürfen niemals aufhören, an die Demokratie zu glauben und an das, wofür sie stehen.“

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