Gedenktag

Linke pilgern in die historische Vergesslichkeit

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Eckhard Fuhr

Alljährlich begeben sich linke Gruppen zur Gedenkstätte der Sozialisten. In der Demokratie scheinen sie nie angekommen zu sein.

Sage niemand, das Zeitalter der Blöcke sei vorbei. Es gibt den Fahnen-Block, den SDAJ-Block, den DKP-Block, den Migranten-Block, den Antifa-Block und einige mehr, und wer sich für keinen dieser Blöcke entscheiden kann, für den gibt es noch den offenen Block. Ein bisschen erinnert die Demonstration zu Ehren der 1919 von Freikorpssoldaten ermordeten Gründer der KPD, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die traditionell am zweiten Januarsonntag in Berlin vom Frankfurter Tor zur Gedenkstädte der Sozialisten in Friedrichsfelde führt, an einen Konvent protestantischer Freikirchen. Die Lust am Sektenwesen scheint in der radikalen Linken ungebrochen. Wer noch Erinnerungen an den westdeutschen K-Gruppen-Mummenschanz der Siebzigerjahre hat, muss sich wie mit einer Zeitmaschine um vierzig Jahre zurückversetzt fühlen.

Es führen ja so viele Wege zum Kommunismus, und für jeden gibt es eine Abkürzung: DKP, KPD/ML, KPD (B), MLPD. Irgendwie hat sich auch „Die Linke aus dem Saale-Orla-Kreis“ hierher verirrt. Als neues Stilelement linker Protestkultur ist nur der Rap hinzugekommen. Ansonsten auch musikalisch vertrautes Gelände: Da tönt die metallische Stimme Ernst Buschs aus dem Lautsprecherwagen – die Trommeln werden gerührt, der rote Wedding marschiert, vorwärts und nicht vergessen, wir sind die junge Garde des Proletariats.

Während Buschs Arbeiterkampfgesänge langsam Richtung Lichtenberg verhallen, rockt der unsterbliche Rio Reiser mit Ton Steine Scherben – Das ist unser Haus, Ihr kriegt uns hier nicht raus. Und irgendwo in der Nähe der schwarzen Anarchistenfahnen hat sich eine Schalmeienkapelle in den Zug eingeschoben. „Luxemburg, Liebknecht, Lenin, niemand ist vergessen, aufstehen und widersetzen“ – das steht auf dem Spruchband, das dem Zug der vielleicht 2000 vorangetragen wird. Man will sich ja schließlich nicht auf den „demokratischen Sozialismus“ verengen lassen.

Während der Demonstrationszug sich die Frankfurter Allee hinaus bewegt, wird der Gegenverkehr immer stärker. Von der Gedenkstätte nämlich gehen die ersten Sozialisten nach Hause. Es handelt sich aber um eine andere Sorte, um ältere Damen und Herren, die noch etwas davon wissen, dass man sich an einem Feiertag auch feiertäglich kleidet. Die meisten Männer tragen schwarze Baskenmützen, mancher einen roten Schal, doch das ist das Äußerste. Die meisten hatten bei den vietnamesischen Blumenverkäufern rote Nelken gekauft, waren in langer, schweigender Prozession am Denkmal für Luxemburg und Liebknecht vorbei gezogen, hatten die Blumen niedergelegt.

"Früher habe ich auch Schalmei gespielt"

Dann war noch Zeit für eine Bratwurst und Glühwein, man traf alte Genossen, Kollegen, Kampfgefährten, redete ein bisschen über früher, den letzten Urlaub, das harte Leben im Kapitalismus und den fürchterlichen Krieg in Afghanistan. Ja, der Krieg, der versetzt manchen in Rage. Auch am Denkmal erklingen Schalmeien. Auf, auf, zum Kampf, zum Kampf sind wir geboren, auf, auf zum Kampf, zum Kampf sind wir bereit. Das Schalmeienorchester „Fritz Weinecke“ spielt. Eine alte Frau bleibt stehen. „Früher habe ich auch Schalmei gespielt“, murmelt sie und seufzt.

Am Morgen waren Klaus Ernst und Gesine Lötzsch zur Kranzniederlegung an der Gedenkstätte der Sozialisten, die west-östliche Doppelspitze der Partei Die Linke. Sie sollen in diesem Jahr ihre Partei in sieben Landtagswahlen zum Erfolg führen, in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ihr erstmals eine parlamentarische Existenz erkämpfen, sie in Sachsen-Anhalt zur stärksten Kraft machen, in Berlin ihre Machtposition behaupten. Doch die beiden erweisen sich mehr und mehr als Albtraum-Paar.

Ernst, ein echtes bayerisches Mannsbild und der Prototyp eines schnittigen Gewerkschaftssekretärs, hält nicht viel von der Forderung, dass linke Gesinnung mit privater Bescheidenheit einhergehen müsse. Den ganzen Sommer über quälte er die Seinen mit seinem saloppen Umgang mit multiplen Gehältern. Die Lichtenberger SED-Rentner sind sicher nicht seine Welt. Gesine Lötzsch aber ist hier zu Hause. Den Wahlkreis hat sie mehrmals in Folge gewonnen. Sie ist von einnehmendem Wesen. Nichts erinnert an ihr an den Staub versteinerter Dogmen. Noch zu DDR-Zeiten forschte sie in Holland zu Spezialfragen des Altniederländischen. Sie hatte als Frosch im Brunnen immerhin einen Zipfel der Welt gesehen.

Kein Wort über die Verbrechen des Kommunismus

Doch nun hat sie sich dazu hinreißen lassen, einen Tick zu viel über den Kommunismus zu fantasieren. Die Redaktion der linksradikalen Tageszeitung „Junge Welt“ erbat von ihr eine Antwort auf die Frage „Wo bitte geht's zum Kommunismus?“. Das Einfachste wäre gewesen, sie hätte geantwortet, diese Frage interessiere sie nicht, weil sie als demokratische Sozialistin gar nicht daran denke, sich in Richtung Kommunismus auf den Weg zu machen.

Stattdessen schrieb sie eine lange Abhandlung darüber, dass viele Wege zum Kommunismus führten und man sie halt ausprobieren müsse. Kein Wort stand in ihrem Text über die Verbrechen des Kommunismus und seine Millionen Opfer, dafür eine ganze Menge an nebligen Gedanken, die starke Zweifel aufkommen lassen, ob die Chefin der Linkspartei wirklich ihren Frieden mit der parlamentarischen Demokratie und dem bürgerlichen Rechtsstaat gemacht hat.

Wer sich auf Rosa Luxemburg beruft, kann sich eigentlich nicht damit abfinden, dass sich politische Mehrheiten durch Wahlen ändern, und er wird den Rechtsstaat immer als Basis für den sozialistischen Kampf und nie als unter allen Umständen zu verteidigendes Gut betrachten. Und die Tatsache, dass Rosa Luxemburg im Kontext innerparteilicher Auseinandersetzungen auf der Freiheit der Andersdenkenden beharrte, macht sie noch lange nicht zur Ikone des Pluralismus und der Meinungsfreiheit.

Lötzschs Text hätte eigentlich Grundlage einer Podiumsdiskussion sein sollen, die am Samstagabend im Rahmen der Rosa-Luxemburg-Konferenz in der Berliner Urania stattfand. Doch es kam nicht dazu. Lötzsch zog es vor, die Debatte zu meiden und vor den 2000 Teilnehmern nur eine Sechs-Punkte-Erklärung zu verlesen. Man kann das verstehen. Der Kommunismus-Flirt hat ihr harsche Kritik auch aus den eigenen Reihen eingetragen.

Fantasieren über das "Abfackeln“ von Bundeswehrmaterial

Parteiübervater Gregor Gysi fragte durch die Blume, wie man so bescheuert sein könne, zu vergessen, dass die meisten Deutschen beim Wort Kommunismus an die Mauer oder an Stalin denken. In ihrer Erklärung ruderte Gesine Lötzsch mit aller Macht ans demokratisch-sozialistische Ufer zurück und versuchte gleichzeitig kämpferisch zu sein, das heißt den Erwartungen des Publikums zu entsprechen, das in seiner großen Mehrheit gegen Kommunismus gar nichts hatte, im Gegenteil. Also kam wieder nur ein Vexierbild heraus.

Sie sei mit Haut und Haaren Demokratin und überdies als Abgeordnete und Parteivorsitzende demokratisch legitimiert, sie lasse sich deshalb vom politischen Gegner nicht über Demokratie belehren. Die Linke werde mit demokratischen Mitteln das Land grundlegend verändern. Die Idee des Sozialismus sei so bestechend, dass sich Mehrheiten für sie erreichen ließen. Missbilligendes Raunen, das das ein bisschen wenig sei, war nicht zu überhören. Klar grenzte sich Lötzsch von jeglichem Terrorismus ab und fächelte sich Publikumsgunst zu, indem sie diejenigen als „wahre Terroristen“ bezeichnete, die in Jugoslawien und Afghanistan Krieg führten.

Der Beifall, den sie erntete, war mehr der Solidarität mit dem „Opfer“ einer „antikommunistischen Kampagne“ geschuldet als ihren politischen Positionen. Die nannte ihre Genossin Ulla Jelpke, ein westdeutsches Linksgewächs mit dem strengen Aroma der revolutionären Anstandsdame, „reformistisch“, womit sie, was man für Lötzsch hoffen muss, völlig Recht hat. Genaueres hätte man gewusst, wenn die sich der Debatte gestellt hätte. Da saß Bettina Jürgensen auf dem Podium, die Vorsitzende der DKP, eines Gebildes also, das noch nicht einmal mehr der Schatten einer Partei ist, und faselte etwas vom notwendig revolutionären Weg zum Kommunismus, ohne dass irgend jemand sie danach gefragt hätte, was denn mit denen geschehen solle, die diesen Weg nicht gehen wollen.

Und da saß Inge Viett, die ehemalige RAF-Terroristin, fantasierte über das „Abfackeln“ von Bundeswehrmaterial und Sabotage in Rüstungsbetrieben und nannte es unausweichlich, dass die künftige revolutionäre Organisation, welche die Massen „unerschrocken“ auf die sozialistische Systemalternative hin orientieren müsse, klandestin, also geheimbündlerisch, sein müsse.

Man hätte dazu von Gesine Lötzsch, der Vorsitzenden der Linken, gern ein paar klare Worte zum Beispiel über Größenwahn, Gewaltkult und historische Vergesslichkeit gehört oder wenigstens ein verzweifeltes Stöhnen über solche politische Übergeschnapptheit. Aber all das blieb sie schuldig.